Unsere Autorin wuchs in einem Ort auf, in dem jetzt 46,7 Prozent der Menschen bei der Bundestagswahl für die AfD stimmten. Ihre Eltern wissen nicht, was sie machen sollen. Sie hat eine Idee – aber einfach ist sie nicht
Foto: Eva Tuerbl
Meine Mutter ist am Telefon. Sie ist schockiert. Ihr Telefon ist auf Lautsprecher gestellt, sodass mein Vater mithört. „Erst war es jeder Fünfte Anna, dann jeder Dritte, und jetzt wählt jeder zweite Mensch im Dorf die AfD!“ Sie fragen mich, was sie tun sollen: Wie mit Kolleg:innen, Angestellten, alten Freunden reden? Überhaupt mit Ihnen reden oder es besser stecken lassen? Es lag im letzten Jahr schon so viel Unmut in der Luft, dass sie sich kaum wagen, dieses Thema anzusprechen.
Diese Bundestagswahl war die politischste Wahl meines Lebens. Ich bin Künstlerin, Politologin, Kommunikationstrainerin. Im vergangenen Jahr tourte ich wegen der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen durch Ostdeutschland und suchte Gespräche und Dissonanz
;ringen und Sachsen durch Ostdeutschland und suchte Gespräche und Dissonanzen im öffentlichen Raum. Doch das hat im Großen und Ganzen eben fast nur den Osten interessiert.Endlich kommt keiner mehr dran vorbei, über Ostdeutschland zu sprechen. Endlich wird der Osten von der Bundesrepublik ernst genommen. Endlich ist er „geschäftsfähig“, wie die ostdeutsche Theatermacherin Susann Neuenfeldt sagt. Endlich: Weil die Mehrheit faschistisch wählt. Was für eine erbärmliche Bilanz für die Bundesrepublik Deutschland.46,7 Prozent für die AfDIn dem Dorf, in dem ich aufwuchs, wählten 46,7 Prozent der Menschen in Erst- und Zweitstimme die AfD. Weitere 18 Prozent wählen die schlechte rechtspopulistische Kopie CDU. „Was ist mit den Leuten nur los?“, fragt meine Mutter verzweifelt. „Es geht den Menschen doch gut hier, sie haben ein Zuhause und was zu essen“. Stimmt: Aber all’ die anderen Menschen, die nicht in das Normbild der rechten Wähler:innen passen, eben auch. Es gibt ein starkes rassistisches Begehren in Ostdeutschland und das lässt sich nicht wegdiskutieren.Die Wahlbeteiligung war so hoch wie 1990 nicht mehr. Doch der neue Bundestag wird von nur 51 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen gewählt. Neben Menschen unter 18 gibt es auch viele mündige Erwachsene, die hier nicht wählen durften. „Es gibt mehr Menschen ohne deutschen Pass, die von der Wahl ausgeschlossen werden als AFD-Wähler. Wen repräsentiert der Bundestag?“, fragt der Journalist und Aktivist Arne Semsrott.„Generation Crash“: Erschüttertes UrvertrauenDer Großteil der AfD-Wähler:innen ist meine Generation. Für den Osten gesprochen heißt das, die „Generation Crash“ wählt die AfD. Das ist die Generation, die gerade noch in der DDR geboren wurde und als kleine Kinder die Depression, die neuen Freiheiten und Wendegewalten in den eigenen Familien und im öffentlichen Raum erlebten. Eine Generation, die – hineingeboren in einen beispiellos rasanten Restaurationsprozess des Kapitalismus – nicht selten selbst in Gewalt- und Drogenexzessen in den 2000er Jahren versuchte, Halt zu finden. Eine Generation, die in einem traumatisierten Ökosystem aufwuchs. Eine Generation, deren Urvertrauen in jungen Jahren unwiederbringlich erschüttert wurde. Eine Generation, die ohne pädagogisches Konzept vom autoritären Fürsorgestaat in ein völlig sorgloses Wirtschaftssystem hinein geworfen wurde.Sie alle eint der Frust und das Misstrauen auf das Establishment.Die zweitstärkste Wählergeneration sind die 25-34-Jährigen. Was von der unvollendeten NS-Aufarbeitung in Deutschland bekannt sein könnte, wird erneut offensichtlich: Unverdaute gesellschaftliche Krisen werden transgenerational weitergegeben. Und es sind Arme und Arbeiter:innen, die die AfD wählen. Sie alle eint der Frust und das Misstrauen auf das Establishment. Es soll ihnen nicht wieder so ergehen, wie ihren Eltern und Großeltern in den Wendejahren.Verpasste soziale KämpfeWir können von verpassten Gewerkschaftskämpfen sprechen, von dem Scheitern der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in den 1990er Jahren in Ostdeutschland, oder von dem jahrzehntelangen Negieren westdeutscher Verantwortung für den Ausverkauf Ostdeutschlands und das Profitieren daraus. Wir können feststellen, dass keine nennenswerte Kapitalumverteilung von West- nach Ostdeutschland stattgefunden hat. Wir können auch davor warnen, das Problem des Rechtsruck auf den Osten allein zu projizieren, während darüber geschwiegen wird, wie sich der Reichtum durch Erbschaften auf Westdeutschland konzentriert. Und auch dort finden sich Wahlkreise mit AfD-Zustimmung bei mehr als 30 Prozent. Die Wahlergebnisse in Ostdeutschland sind nur ein Vorspiel für die bundesdeutsche Zukunft. Trotzen wir nicht gemeinsam mit Lebenslust und einer Politik der sozial-ökologischen Gerechtigkeit den kapitalistischen Zerstörungen, die Mensch und Natur erschöpfen, werden wir in fünf bis zehn Jahren ähnliche Wahlerfolge der AfD in den alten Bundesländern zu verzeichnen haben.Wir können aber auch erzählen, dass nach 1990 in Ostdeutschland ein großes Sorgeloch klaffte. Da war kein autoritärer Mutterstaat mehr, der sagte: „Halt die Klappe – dafür sorgen wir uns um dich!“ Geschlechterbilder kollabierten. Frauen wanderten ab. Das Bild der einsamen Junggesellen im ostdeutschen Hinterland ist mehr als eine gute literarische Figur und bietet auch eine Erklärung dafür, weshalb deutlich mehr Männer die AfD und CDU wählen als Frauen.Wer sich für die Linke begeistern ließ …Die Wahlergebnisse offenbaren eine allumfassende Krise, die feministische Stimmen schon seit der Finanzkrise von 2008 und den Folgejahren ausmachten. Während Reichtümer immer weiter an Wenige umverteilt werden, werden an allen Ecken und Enden die Kosten für Gesundheit, Bildung, Erziehung, Pflege, Kunst und Kultur gekürzt, und die Miet- und Lebenshaltungskosten steigen ständig. Viel zu verwaschen und undeutlich war linke Politik mit einer antifaschistischen Perspektive auf eine Welt, deren Zerstörung der Westen – also auch wir in Deutschland – mitzuverantworten hat.Dass wir die Wahlen mit einer auf Sorgearbeit zentrierten Perspektive besser verstehen können, zeigt nicht zuletzt der Erfolg des Wahlkampfs der Partei die Linke. Endlich hat eine linke Kraft wieder den Mut gehabt, auf Menschen zuzugehen, die ihr bisher unbekannt waren. Die Linkspartei hat klare Kante gegen das Anbiedern der Merz-Union gezeigt und hat gewonnen, weil sie Menschen zugehört hat. Der Haustürwahlkampf wurde zumindest in Berlin auch stark von Menschen der außerparlamentarischen Linken unterstützt. Der linke Wahlerfolg kann sowohl ein Aufbruch für die Partei sein, sich nun mit Zehntausenden Neumitgliedern neu zu begründen als auch für die außerparlamentarische Linke, ihr Potenzial wieder zu bündeln, um kompromisslos antifaschistische Politik zu betreiben.Erfolgreich war das ganze auch, da der Parteiapparat sehr barrierearm ein Mitmachen beim Wahlkampf ermöglichte. So konnte linkes Bewegungswissen schnell und effektiv eingebracht werden. Alle, die ich kenne, die den Wahlkampf so unterstützten, erlebten direkt ein Selbstwirksamkeitsgefühl, das wir in der linken Politik so oft vermissen…. und wer nichtIch wünsche den Bewegungen und der Partei, nicht damit aufzuhören, Gespräche mit fremden Menschen zu suchen und das überraschende politische Gespräch im öffentlichen Raum wieder mehr zu kultivieren – und dafür auch zwei-, dreimal am Tag den Blick vom Smartphone aufzurichten. Es braucht zudem eine Strategie für das Hinterland, ob Ost oder West. Überlassen wir es der rechten Hegemonie und stützen uns auf die Städte? In vielen Thüringer Städten gewannen CDU und AfD. Oft war die drittstärkste Partei die Linkspartei, während Bündnis90/Die Grünen völlig in den Keller rutschten. Wie können jene progressiven Menschen und Initiativen dort unterstützt werden?Es braucht zudem eine Strategie für das Hinterland, ob Ost oder West.Bei aller Euphorie für die Aufbruchsstimmung muss nun weiter überall linke Interessenpolitik organisiert, unterstützt und vorangetrieben werden. Die AfD hat wenig übrig für Arbeitslose, Arme und Arbeiter:innen. Es wird darauf ankommen, die von rechts vorangetriebene soziale Ungleichheit zu skandalisieren und ihr mit Arbeitskämpfen und kreativen Aktionen aller Art zu begegnen. Pat:innenschaften von westdeutschen Institutionen, Theaterhäusern und Vereinen mit ostdeutschen Orten sind zudem längst überfällig. Die große Kapitalumverteilung von West nach Ost zu demokratischen Zwecken ist trotz der Landtagswahlergebnisse aus dem Herbst 2024 ausgeblieben. Was jede:r tun kann, ist das solidarische Netzwerk Polylux zu unterstützen, das Projekten der kritischen Zivilgesellschaft im ländlichen Raum Ostdeutschlands hilft.Der rechten Kürzungspolitik kann nur mit der Forderung nach der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und der Abschaffung der Schuldenbremse begegnet werden. So wäre es möglich, einkommensunabhängig kulturelle Weiterbildung und Mobilität zu finanzieren, die das Leben im Hinterland für alle demokratischer macht.Apolda kräftig durchschütteln: Wer hat denn in der DDR eure Fake-Jeans genäht?Ich möchte Apolda, die Stadt in Thüringen, in der ich zur Schule ging, manchmal schütteln und reinschreien: Was denkt ihr, wer sich für euch mit euren mickrigen Renten von der AfD interessiert? Wer hat eigentlich zu DDR-Zeiten eure Fake-Jeans genäht? Es waren eure Kolleg:innen, die als Vertragsarbeiter:innen im Land waren. Was denkt ihr eigentlich, wer euch verarzten wird, wenn ihr es nötig habt? Was denkt ihr eigentlich, wer euch pflegen wird, wenn ihr alt werdet? Was denkt ihr eigentlich, wer eure Tiefkühlpizzen bei der Firma Ospelt im Apoldaer Industriegebiet herstellt und verpackt? Warum könnt ihr euch nicht erwachsen der berechtigten Angst vor dieser Welt stellen, ohne nach unten treten zu müssen?Und zu all jenen, die mit mir auf das Gymnasium gegangen sind und heute ebenso die AfD wählen: Wie konnte es nur dazu kommen, dass euch euer piefiger Ärger wichtiger ist als die Möglichkeit eines guten Lebens für alle Menschen auf dieser Welt, in der ihr so gerne eure Urlaube bucht?Wer sind diejenigen, die das energische Schütteln täglich vor Ort übernehmen? Was haben wir aus den Metropolen zu bieten, um den Strom dafür zu geben?