Der „Guardian“ und viele andere verlassen Elon Musks Plattform X, unser Autor Ole Nymoen nicht. Hier erklärt er, warum er weitertwittert, trotz der Macht des rechten Tesla-Milliardärs und Trump-Vertrauten über den Algorithmus


Die Verbreitung von Hate Speech ist in Wahrheit kein exklusives Twitter-Phänomen

Grafik: der Freitag


Go fuck yourself! – diese Worte schleuderte Elon Musk vor einem knappen Jahr ehemaligen Werbekunden seiner Social-Media-Plattform X entgegen. Einige große Unternehmen waren damals abgewandert, nachdem der reichste Mann der Welt einen antisemitischen Beitrag mit den Worten the actual truth“ (dt. die eigentliche Wahrheit) geteilt hatte.

Dieser Tage wird Musk wohl ähnlich vulgäre Ausrufe getätigt haben. Denn nach der US-Wahl wenden sich immer mehr reichweitenstarke Nutzer und Institutionen vom Kurznachrichtendienst ab. Darunter die britische Zeitung The Guardian, die erklärte: X sei eine „toxische Plattform“ und ihr Besitzer wolle „den politischen Diskurs beeinflussen und formen“.

Überall nur noch Clickbait und Hassrede!

Dem ist erst einmal zuzustimmen: Musk hatte Twitter im Oktober 2022 übernommen und angekündigt, die Plattform zu einem Ort der freien Rede umzugestalten – was vor allem bedeutete, dass ehemals gesperrte Rechtsextreme wieder zugelassen wurden, und dass Musk ihm genehme Inhalte pushen ließ. Erinnert sei an den Februar 2023, als der X-Inhaber schäumte, weil ein Tweet zum Super Bowl von ihm weniger erfolgreich war als der von Joe Biden – woraufhin er den Algorithmus so anpassen ließ, dass seine eigenen Postings nun besondere Verbreitung fanden. Diese Doppel-Agenda aus persönlicher Geltungssucht und rechtem Kulturkampf wurde zum Programm: Es war daher auch kein Wunder, dass Musk zu einem der wichtigsten Unterstützer in Donald Trumps Wahlkampf wurde und dafür nun im Gegenzug einen Posten im neuen Regierungsteam Trumps erhielt.

Was aber hat dieser Prozess mit seiner Plattform gemacht? Das Urteil vieler Nutzer ist eindeutig: Seit der Übernahme und Umbenennung sei Twitter/X unbenutzbar geworden. Überall nur noch Clickbait-Content und Hassrede! Und überhaupt: Wie kann man es verantworten, auf so einer Webseite zu bleiben?

TikTok gehört nicht Elon Musk – aber ist es dort besser?

Diese Reaktionen sind erst einmal mehr als verständlich. Und dennoch bin ich bis heute nicht so richtig überzeugt davon. Das hat zuallererst persönliche Gründe: Mag sein, dass ich mich wie ein trotziges Kind verhalte – aber ich will mir von einem frei drehenden Milliardär nicht die Plattform zerstören lassen, auf der ich Freunde gefunden, berufliche Kontakte geknüpft und mich jeden Tag informiert habe. Genau deshalb spreche ich im Regelfall von Twitter (und nicht von X): Weil ich die Plattform für das schätze, was sie einmal war, und was sie auch in großen Teilen noch ist. Meine persönliche Timeline mag weniger brauchbar sein als vor zwei Jahren, aber sie ist mir immer noch nützlich: als Nachrichtenquelle, aber auch als Ort kollektiver Belustigung (nicht zuletzt über Menschen wie Elon Musk). Ich habe dort Netzwerke geknüpft, die sich nicht umstandslos replizieren lassen.

Auch bin ich unsicher, ob die Diagnose der besonders schlimmen Hassmaschine so zutreffend ist. Die Verbreitung von Hate Speech ist doch in Wahrheit gar kein exklusives Twitter-Phänomen! Rassistische, antisemitische und verschwörungstheoretische Inhalte findet man bei allen anderen bedeutsamen Social-Media-Seiten massenhaft. Wer sich zum Beispiel neu bei TikTok anmeldet, der wird erstaunt sein, wie schnell ihm rechtsextreme Videos auf die For-you-Page gespült werden, auch wenn die Urheber der Plattform ideologisch wenig mit Musk gemein haben.

Die Plattformen wollen hörige Follower, nicht mündige Bürger erzeugen

Letztlich ist das ganze privatwirtschaftlich betriebene Internet in seiner Funktionsweise mehr oder minder darauf ausgelegt, von rechten Demagogen instrumentalisiert zu werden. Die Algorithmen belohnen nämlich das, was für Empörung sorgt, was kurz, griffig und undifferenziert ist. Die Plattformen wollen nicht mündige Bürger, sondern hörige Follower erzeugen, die möglichst lange verweilen. Und das geht gut, indem das diffuse Unbehagen der Bürger in Bezug auf Trigger-Themen wie Migration oder Klimawandel ausgenutzt wird.

Dass der auf Twitter geschürte Hass so ein großes Thema ist, liegt vielleicht gar nicht darin begründet, dass die Plattform schlimmer ist als ihre Konkurrenten. Sondern darin, dass die maßgeblichen Meinungsmacher es stärker mitbekommen. In Deutschland beispielsweise war kaum jemals ein normaler Mensch auf der Plattform; dafür aber alle Journalisten, Politiker und Publizisten, die ihre Botschaften unter die Leute bringen wollten. Was auf TikTok oder Twitch passierte, das bekamen viele von ihnen hingegen kaum mit. Dabei geht es dort auch nicht besser zu. Die einseitige Verurteilung Twitters entspringt so gesehen vielleicht bloß der Unkenntnis der sonstigen Abgründe, die sich im World Wide Web auftun.

Meine 30.000 Follower und ich: ein Gegengewicht

Ich habe mich dafür entschieden, bei Twitter zu bleiben. Weil es woanders auch nicht wirklich sachlicher zugeht. Und weil ich mit meinen knapp 30.000 Followern ein zumindest geringfügiges Gegengewicht darstellen kann. Nicht unbedingt für weniger Hass im Netz, sondern für besseren: Während Elon Musk und seine abstoßenden Jünger gegen Minderheiten hetzen, ärgere ich liberal-konservative Journalisten und Politiker, schlage also nach oben, anstatt wie sie nach unten zu treten. Auch das ermöglicht Twitter. Hier können anonyme Profile wie „Nurder Koch“ tagtäglich Bundespolitikern eine „Ratio reindrücken“, wie es im Netzsprech heißt. Was bedeutet: Sie verspotten konservative Politiker unter deren eigenen Tweets und sammeln mehr Likes ein als der ursprüngliche Post.

Damit bleibt man Teil der großen Empörungsmaschinerie. Aber wer mitmischen will, der kann ihr nicht entkommen. Die Welt wird nicht in rationalen Diskursräumen umgestaltet, wo der zwanglose Zwang des besseren Arguments obsiegt. Das mag einem missfallen, aber es ist eine Realität, an der man nicht vorbeikommt. So dass selbst ich ausnahmsweise Robert Habeck zustimmen muss, der seine Rückkehr auf Twitter kürzlich wie folgt erklärte: „Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen ist leicht. Aber es sich leicht zu machen, kann nicht die Lösung sein.“

Ole Nymoen ist Journalist, Autor und Podcaster. Mit Wolfgang M. Schmitt publiziert er den Wirtscaftspodcast Wohlstand für alle und hat jüngst die kindgerechte Kapitalismus-Erklärung Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut herausgegeben. Zuvor publizierten beide das Buch Influencer. Die Ideologie der Werbekörper.



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Von Veritatis

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