Damit hatten die wenigsten gerechnet: Der kleine, lettische Film „Flow“ bootete die großen Animations-Studios Pixar („Alles steht Kopf 2“) und Dreamworks („Der wilde Roboter“) aus. Thomas Abeltshauser sprach mit dem Regisseur
Gegen den Mainstream von Pixar und Dreamworks: Der Film „Flow“ hat den Oscar für den besten animierten Film gewonnen
Foto: Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Die Oscar-Kategorie des besten Animationsfilms wird meist von teuren, großen Produktionen dominiert. Flow dagegen, eine lettisch-belgisch-französische Kopoduktion, wurde mit öffentlich verfügbarer Software und einem bescheidenen Budget von 3,7 Millionen Dollar realisiert. Der erst 30 Jahre alte Regisseur Gints Zilbalodis schildert darin eine Gruppe von Tieren, die in einer überfluteten Welt überleben muss. Komplett ohne Dialoge, dafür mit hinreißend animierten Bildern erzählt Zilbalodis von Freundschaft und Solidarität. Mit dieser Reise durch die Schönheiten einer untergehenden Welt bringt er seit der Premiere in Cannes im Mai 2024 weltweit das Publikum zum Staunen. Ab Donnerstag läuft der Film auch in den deutschen Kinos.
Herr Zil
nos.Herr Zilbalodis, die entscheidende Frage gleich zu Beginn: Sind Sie ein Katzen- oder ein Hundetyp?Nun, ich hatte sowohl Katzen als auch Hunde, die Inspiration für diese Figuren waren. Ich mag sie also beide sehr. Aber meine eigene Persönlichkeit ist wahrscheinlich eher die einer Katze. Denn ich bin gerne unabhängig und mache die Dinge auf meine Art. Aber ich genieße auch die Gesellschaft von Hunden.Ich frage auch deshalb, weil die Art und Weise, wie sich die Katze in Ihrem Animationsfilm „Flow“ bewegt und reagiert, sehr präzise beobachtet und getroffen ist.Ich wollte keinen Film über sprechende Tiere machen. Das haben wir schon zur Genüge gesehen, wie Tiere Witze erzählen und auf zwei Beinen gehen und im Grunde wie Menschen sind. Ich glaube, dass die Geschichte viel fesselnder und emotionaler wird, wenn wir sie wie echte Tiere behandeln. Denn alles erscheint so viel größer, wenn man es aus der Sicht einer Katze erlebt. Wir versuchen also, sie so bodenständig und glaubwürdig wie möglich zu machen. Und wir haben uns für alles eine Menge Referenzen angeschaut.Wie funktionierte das konkret?Alles ist von Hand animiert. Wir haben keine Motion-Capture-Technik verwendet, um echte Katzen aufzunehmen. Alles stammt von Animatoren, die echte Tiere studiert haben. Glücklicherweise gibt es eine endlose Bibliothek von Katzen- und Hundevideos, die wir finden konnten. Wir sind auch in den Zoo gegangen, um all diese Tiere zu studieren. Auch für die Geräusche haben wir echte Tiergeräusche verwendet, anstatt Tiere, die von Menschen nachgeahmt werden, zu benutzen. Aber natürlich ist es kein Dokumentarfilm. Wir erzählen eine Geschichte, also interpretieren wir das echte Leben, aber wir versuchen nicht, übertrieben realistisch zu sein. Wenn man versucht, das wirkliche Leben zu kopieren, wird es nicht so fesselnd sein. Manchmal muss man sich also ein paar künstlerische Freiheiten herausnehmen, und dann wirkt es realer.Was war die Initialzündung für die Geschichte, die Sie erzählen?Als ich in Lettland auf dem Gymnasium war, hatte ich eine Katze und drehte einen Kurzfilm über eine Katze, die Angst vor Wasser hatte. Es war ein einfacher, handgezeichneter Film, in dem es nur um diese Katze ging. Es gab keine anderen Figuren. Auch wenn der Film technisch nicht besonders gut ist, hatte es die Idee in sich. Er war sehr emotional, mehr als einige andere Filme, die vielleicht technisch besser waren. Die Idee ließ mich nicht los. Und nachdem ich einige Kurzfilme und meinen ersten Langfilm, Away – Vom Finden des Glücks, komplett allein gemacht habe, wollte ich jetzt zum ersten Mal mit einem Team arbeiten. Und ich wollte auch thematisch einen Film über diese Erfahrung machen, über das Lernen, wie man zusammenarbeitet und wie man anderen vertraut. Ich dachte, ich könnte die Idee der Katze nutzen, weil sie sehr unabhängig ist, um diese Geschichte zu erzählen. Ich habe dann eine Reihe weiterer Figuren hinzugefügt, der Hund ist auch von meinen Hunden inspiriert.Dabei erzählen Sie von einer Überschwemmung, einer postapokalyptischen Welt, die aber gar nicht so dystopisch ist …Sie ist sogar ziemlich schön, wenn man sieht, wie die Natur diese Räume zurückerobert und die Fische durch die überflutete Stadt schwimmen. Ich wollte auch keine Antagonisten im Film. Die Figuren sind vielleicht fehlerhaft und in einem Konflikt, aber wir verstehen, warum sie tun, was sie tun.Der Gegenspieler ist eher die Natur, oder?Das Wasser ist zumindest ein Ausdruck der Gefühle der Katze. Wenn die Katze Angst vor all den anderen Tieren hat, ist das Wasser sehr aggressiv und furchteinflößend, aber wenn sie beginnt, sich zu öffnen und freundlich zu werden, wird das Wasser friedlicher, ruhiger und schöner. Es ist keine reale Welt, eher Seelen- und Kulturlandschaften, um uns zu zeigen, was sie denken und fühlen.Es fühlt sich zeitlos an, ohne fantastisch zu sein …Wir sehen keine Wolkenkratzer oder moderne Gebäude, auch keine Menschen. Nur einige Dinge, die sie zurückgelassen haben, einige Statuen oder Häuser, und so wollte ich einige Hinweise für das Publikum hinterlassen, damit sie sich selbst einen Reim machen können. Sie müssen aufmerksam sein und versteckte Hinweise finden. Vielleicht versteht man nicht alles beim ersten Mal, man sollte sich wirklich auf die Emotionen und die Figuren konzentrieren, aber wenn man sich den Film noch einmal anschaut, findet man vielleicht heraus, was vorher oder was nachher passiert ist und wo die Menschen hingegangen sind oder woher die Flut kam.Wie schwierig war es, den richtigen Ton zu treffen und dafür zu sorgen, dass wir uns mit den Tieren identifizieren können, ohne dass der Film zu sentimental wird?Ich versuche einfach, ehrlich zu sein und die Emotionen nicht so weit zu treiben, dass ich den Eindruck habe, sie seien nicht wahr. Die Katze überwindet einige ihrer Probleme, aber es gibt auch andere Dinge, die nicht in Ordnung zu bringen sind, die man nicht lernen kann. Ich wollte nicht, dass die Katze alles schafft und am Ende ist die Welt perfekt und das war’s. Das Leben ist komplizierter, und es bleiben immer noch einige Ängste. Ich wollte zeigen, dass man lernen kann, sie zu akzeptieren und mit ihnen zu leben, und andere einem vielleicht dabei helfen können. Der Hund begibt sich auf die entgegengesetzte Reise. Am Anfang ist er sehr vertrauensvoll und sucht immer nach jemandem, der ihm sagt, was er tun und wohin er gehen soll, aber im Laufe der Reise lernt er, unabhängiger zu sein und selbst zu denken.Ein wichtiges Element in Ihrem Film ist die Kamera, die immer mittendrin ist und kaum stillsteht.Mein Ziel war, mit der Kamera einen Blick in die Köpfe der Figuren zu werfen. Und ich wollte ein Gefühl schaffen, in diese Welt einzutauchen, eine subjektive Erfahrung schaffen, als sei man die Katze. Die Kamera beobachtet also nicht nur aus der Ferne, sie ist in dieser Welt. Wenn die Flut kommt, wird die Kamera weggeschwemmt, manchmal ist das Bild verwackelt, als würde sie von einer echten Person gehalten. Ich wollte dieses Unvollkommene. Anstatt Storyboards zu zeichnen, habe ich die Szenen direkt in 3D entworfen. Dazu erstelle ich eine grobe Skizze der Umgebung, die ich dann mit dieser virtuellen Kamera erkunden und entdecken kann. Es ist fast so wie bei einem Location Scout in einem Live-Action-Film, wo man am Set ankommt und sich nach Motiven umsieht. Sie sagten vorhin, dass Sie zum ersten Mal mit einem Team zusammenarbeiten und dass Sie es als eine Herausforderung angesehen haben. Wie war diese Erfahrung für Sie?Wenn ich früher eine Idee hatte, habe ich sie einfach umgesetzt. Ich brauchte nichts zu erklären. Dieses Mal musste ich meine Gedanken artikulieren. Es war eine Herausforderung, weil ich auch eine große Verantwortung für das Team hatte. Ich hatte noch nie in einem Studio als Angestellter gearbeitet, und jetzt haben wir unser eigenes Studio gegründet, und ich musste herausfinden, wie man ein Team leitet, wie man für andere verantwortlich ist. Dieser Sprung ins Wasser war gut so. Woher kommt dieses Selbstvertrauen, einfach ein eigenes Studio zu gründen?Manchmal ist es gut, ein bisschen naiv zu sein und nicht zu viel zu grübeln. Wenn ich gewusst hätte, wie langwierig und kompliziert es sein würde, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. In manchen Momenten hatte ich das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, aber wahrscheinlich ist es gut, eine gewisse Angst zu verspüren und sich selbst in Frage zu stellen. Ein gewisses Maß an Selbstvertrauen ist gesund, aber man sollte auch offen für die Vorschläge anderer sein und wissen, wann man um Hilfe bitten sollte, wenn es nötig ist.Wie hat Ihre Leidenschaft für Animation angefangen?Ich habe schon zur Schulzeit mit meinen Freunden einige Live-Action-Filme gemacht, aber die waren sehr albern und einfach, und ich fühlte mich schnell eingeengt in dem, was ich mit echten Schauspielern, Kameras und Sets machen konnte. Mit der Animation entdeckte ich die Freiheit, verschiedene Arten von Geschichten zu erzählen und mir Zeit zu nehmen und mir keine Gedanken über den Sonnenuntergang zu machen oder über den Fluss. Für mich ist es viel einfacher, durch Bilder zu kommunizieren. Ich fühle mich dabei wohler als mit Worten, auch dafür sind Animationsfilme gut geeignet. Alle meine Filme kamen ohne Dialoge aus.Seit der Premiere in Cannes im vergangenen Mai hat der Film international Publikum und Kritik begeistert und alle wichtigen Preise abgeräumt, vom Europäischen Filmpreis bis zum Oscar am Montag.Es war wirklich aufregend, mit all diesen großartigen Filmemachern auf denselben Festivals und Preisverleihungen zu sein und nicht mit dem Animationsfilm an einen Kindertisch gesetzt und ernst genommen zu werden. Denn am Ende unterscheidet uns nur die Technik. Es spielt keine Rolle, ob man einen Stift oder eine Kamera benutzt, um eine Geschichte zu erzählen, ob man mit einer Schreibmaschine oder einem Computer schreibt. Es geht wirklich um die Idee und das Gefühl. Und ich bin sehr glücklich, dass das nun anerkannt wird.