Mainstream-Ökonomen warfen der Denkschule der Modern Monetary Theory (MMT) vor, zu Inflation und wirtschaftlichem Niedergang zu führen. Haben sich nun, wo es um den Wunsch nach mehr Waffen geht, die ökonomischen Gesetze geändert?
Ist Friedrich Merz plötzlich MMT-Anhänger?
Michael Danner/laif
In Deutschland waren die Mainstream-Ökonomen historisch seit jeher die Warner und Mahner. Vor allem, wenn es um höhere Staatsausgaben ging, wurde hinter jeder D-Mark und unter jedem Euro eine höhere Inflation vermutet. Ein ausgeglichener Haushalt war die ökonomische Staatsräson.
Die Bundesbank als Bastion gegen den Keynesianismus erlangte mehr als einen religiösen Kultstatus: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott“, behauptete einst der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jaques Delors, „aber alle an die Bundesbank“. Ganz falsch lag er damit nicht, denn selbst die ökonomischen Verwerfungen, die die Bundesbank mit ihrer Geldpolitik in Deutschland und in Europa erzeugte, wurden ihr von den Deutschen vergeben.
Geldpolitik in Deutschland und in Europa erzeugte, wurden ihr von den Deutschen vergeben.Die Folgen der fiskalischen Zwangsjacke wurden in der Wirtschaft und Gesellschaft immer spürbarerDen Höhepunkt dieser staatlichen Ausgaben- und Inflationsphobie war die berüchtigte Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009. Da die Bankenrettung große staatliche Gelder verschlang, kehrte das Gespenst der Inflation zurück. Die Bundesregierung konterte diese Angst damit, dass sie mit dem Bundestag zusammen die weltweit schärfsten Fiskalregeln in der Verfassung verankerte. Progressive Ökonomen, die gegen die Regel wetterten, wurden als „linke Spinner“ abgetan, doch in den vergangenen Jahren wurden die bestehenden Regeln immer weniger haltbar. Kaputte Brücken und Straßen, einstürzende Schulen, ein Bahnverkehr, der das Land während der Europameisterschaft zum Gespött der Welt machte, und eine öffentliche Investitionsquote, die sich am unteren Ende in der Tabelle der Industriestaaten fand – die Folgen der fiskalischen Zwangsjacke wurden in der Wirtschaft und Gesellschaft immer spürbarer.Die Kritiker der Schuldenbremse machen DruckDie Gegner der Schuldenbremse traten zunehmend forscher auf und organisierten sich. Ende der 2010er Jahre gewann dabei auch in Deutschland die sogenannte Modern Monetary Theory (MMT) erheblich an Popularität. Diese Theorie besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass es keine fiskalischen Beschränkungen gibt, sofern Länder sich in ihrer eigenen Währung verschulden. Die Beschränkungen bestünden auf realwirtschaftlicher Seite – etwa bei Arbeitskräften oder Rohstoffen. Fiskalisch könne man jedoch beliebig viel ausgeben, wenn der politische Wille dazu besteht.Diese Positionen weckten wiederum die Angst der ordoliberalen Zunft in Deutschland. Ein solches Programm würde nur zu mehr Inflation führen! Bestätigt sahen sich „Ordos“ und Crashpropheten dann, als in den frühen 2020er Jahren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise und die Explosion der Energiepreise nach der russischen Invasion in der Ukraine die Inflationszahlen tatsächlich in die Höhe trieben. „Seht ihr“, hieß es da, die Inflation sei nun „aus der Ketchupflasche“ und werde sich nicht mehr aufhalten lassen. Der Papst Emeritus der deutschen Ordoliberalen, Hans-Werner Sinn, veranschaulichte diese Inflationstheorie gar bei dem Journalisten Roland Tichy, indem er über den Dächern Berlins eine große Ketchupflasche auf einen Teller entleerte. Auch wenn die Inflation sich als Preisschock erwies – und damit keine wirkliche Inflation war –, so schädigte die kurze Episode doch den Anhängern der MMT. Ihre Argumente wurden weit weniger populär.Ampel-Bruch und konservative 180-GradwendeAuch wenn die Inflations- und Staatsausgabenphobie wieder kurzerhand die Überhand gewann – angesichts der gewaltigen Krisen wurde die Politik schnell von der Realität eingeholt. Die Ampel-Regierung versuchte, die Engpässe der Schuldenbremse durch Schattenhaushalte zu umgehen – und flog in Karlsruhe auf die Nase. Trotz offenkundiger Notwendigkeit, finanzpolitisch gegenzusteuern und sowohl den Strukturwandel als auch die Verschärfung der konjunkturellen Krise einzudämmen, beharrte das Finanzministerium und das Kanzleramt darauf, dass die „finanzpolitische Normalisierung“ der richtige Weg wäre. Würde der Staat mehr Geld ausgeben, würde das die Inflation befeuern, der Generationengerechtigkeit schaden, die Zinskosten erhöhen und so weiter. Überhaupt müsse Geld erst erwirtschaftet werden, bevor man es ausgeben könne. Mit „einer Billion Euro Steuereinnahmen“ wäre es unmöglich, über finanzpolitische Engpässe zu klagen. Wir hätten ein Ausgabe- und kein Einnahmeproblem, sodass eigentlich mehr gespart werden müsse.Der finanzpolitische Kurs der Ampel führte schließlich zum Bruch der Regierung und zu NeuwahlenSämtliche Mantras, Bilder und Floskeln, die sich im Laufe der Geschichte zur Rechtfertigung eines ausgeglichenen Haushalts – ohne Rücksicht auf Verluste – herausgebildet haben, wurden in den Ampel-Jahren wieder aus der Mottenkiste geholt. Wieder und immer wieder. Ganz vorne mit dabei: das Gros des ordoliberalen Mainstreams in Deutschland, in jeweils unterschiedlichen Rollen. Als Mahner und Warner in den Medien. Im Sachverständigenrat. Oder im Ohr des Finanzministers. Der finanzpolitische Kurs der Ampel führte schließlich zum Bruch der Regierung und zu Neuwahlen.Nach der Bundestagswahl, die die CDU mit einem schwachen Ergebnis gewann und die der SPD eine historische Niederlage bescherte, dauerte es keine 24 Stunden, bis der Kanzlerkandidat Merz ein Sondervermögen für die Verteidigung ins Spiel brachte – und die wesentlichen finanzpolitischen Versprechungen aus dem Wahlprogramm beerdigte. Die SPD ging auf das Angebot für die Sondierungen ein und schnell wurde klar, dass die Fiskalregeln gekippt werden würden.Bei der Aufrüstung gelten die Gesetze nichtUnd da waren sie wieder: Die Mainstream-Ökonomen, die sonst den ganzen Tag über fiskalische Knappheiten fabulierten, aufgrund derer eine Entprivatisierung der Netze nicht möglich sei, nicht mehr für das Klima und zur Bekämpfung der Armut getan werden könne oder ein Ausbau der Betreuungskapazitäten in Kitas nicht finanzierbar sei. Sie warfen nun in einer Offensive für mehr Aufrüstung ihre eigenen Prinzipien über Bord. Es wurde klar: Bei der Rüstung gelten die ökonomischen „Gesetze“ nicht, in allen anderen Bereichen hingegen schon.Wo Mainstream-Ökonomen sonst immer auf Effizienzpotenziale pochen – von den 16.000 Totalverweigerern beim Bürgergeld bis hin zu weiteren Kürzungen von Armutsrenten – wurde Effizienz plötzlich kein relevantes Kriterium mehr. Wenn bei Ausgaben von über 40 Milliarden oder 50 Milliarden Euro für die Bundeswehr die Flugzeuge nicht fliegen, Gewehre nicht schießen oder die Soldaten keine warme Unterwäsche haben, solle man am besten noch mehr Geld draufwerfen. Geld ohne Ausgabenlimits. Wenn ein Bürgergeldbezieher allerdings nicht zum Termin im Jobcenter erscheint, müssen die Strafen für alle drastisch verschärft werden. Niemand solle auf den Gedanken kommen, beim Bürgergeld handle es sich um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Zahlen, mit denen die Ökonomen um sich warfen, dürften selbst sonst eingefleischte MMT-ler vorsichtig werden lassen: 400 Milliarden, 500 Milliarden, 900 Milliarden oder gar eine Billion standen im Raum. Der Bonner Ökonom Christian Bayer forderte sogar ein Sondervermögen in Höhe von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), mit dem die Verteidigungsausgaben, die 2 Prozent des BIP überschreiten, finanziert werden sollten. Das wären über 1,8 Billionen Euro (oder 1.800 Milliarden Euro). Es erschien der Eindruck, in ihrer Unterstützung für mehr Aufrüstung setzten die Mainstream-Ökonomen auf „MMT auf Steroiden“. Die alte Schuldenbremse ist GeschichteGeeinigt haben sich CDU/CSU und SPD zunächst auf eine Reform der Schuldenbremse, die unter anderem Milliardenkredite für Verteidigungsausgaben und Investitionen in die Wirtschaft ermöglichen soll. Dabei sollen Rüstungsausgaben, die über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen, von der Schuldenbremse ausgenommen werden, und ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte eingerichtet werden, wobei auch die Verschuldungsregeln für die Länder gelockert werden.Die alte Schuldenbremse dürfte damit – sofern eine Zweidrittelmehrheit im alten Bundestag zustimmt – Geschichte sein. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, mehr nicht. Gerade aus verteilungspolitischer Sicht werden nun eine ganze Reihe anderer Faktoren relevant: ob und inwiefern die Allgemeinheit – Haushalte und mittelständische Unternehmen – von diesen zusätzlichen Ausgaben profitiert.Was die Mainstream-Ökonomen betrifft, so kann man davon ausgehen, dass sie in naher Zukunft ihre eigenen Naturgesetze wiederentdecken, wonach aufgrund bestehender Knappheiten der Staat bestimmte Ausgaben kürzen müsse. Nicht bei der Rüstung, versteht sich, aber überall sonst.