Die russischen Streitkräfte seien in der prekärsten Lage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sagt der Militärexperte August Pradetto. Massive Aufrüstung in Europa lehnt er ab: Russland sei keine Gefahr für die NATO
„Seit zweieinhalb Jahren ändert sich praktisch nichts am Frontverlauf“, sagt Militärexperte August Pradetto
Foto: Pierre Crom/ Getty Images
Nach der Auseinandersetzung zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selensky im Weißen Haus stellt Europa alle Weichen auf militärische Aufrüstung, koste es, was es wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte in Brüssel ihren Plan zur „Wiederbewaffnung Europas“ vor. Die CDU-Politikerin will nicht weniger als 800 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren mobilisieren. In Berlin haben sich Union und SPD in ihren Sondierungen darauf geeinigt, dass jegliche Verteidigungsausgaben, die mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, von der Schuldenbremse befreit sein sollen.
Im Gespräch mit dem Freitag warnt der Militärexperte August Pradetto vor einem neuen „Totrüsten“. Russland stelle schon lange kei
iche Verteidigungsausgaben, die mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, von der Schuldenbremse befreit sein sollen.Im Gespräch mit dem Freitag warnt der Militärexperte August Pradetto vor einem neuen „Totrüsten“. Russland stelle schon lange keine Gefahr mehr für die NATO dar. Wie sähe eine vernünftige europäische Verteidigungspolitik vor diesem Hintergrund aus?der Freitag: Herr Pradetto, was haben Sie gedacht, als Sie den Eklat im Weißen Haus im Fernsehen gesehen haben?August Pradetto: Abgesehen vom extrem schlechten Benehmen, das der US-Präsident an den Tag legte, sind mir drei Gedanken durch den Kopf gegangen. Erstens: Jetzt wird es schwer für die Ukraine im Krieg gegen den Aggressor Russland. Der zweite Gedanke war: Donald Trump macht jetzt Ernst damit, die Kriegsgegner an den Verhandlungstisch zu zwingen. Und drittens: Der Transatlantizismus ist gescheitert – und damit die Sicherheitskonstruktion, auf der der Westen seit 1945 und insbesondere seit der Gründung der NATO 1949 beruht hat. Die bisherige europäische Vorstellung von Sicherheit bricht gerade vor unseren Augen zusammen. Allerdings darf man dabei nicht vergessen: Wenn die USA wegfallen, sind da immer noch 31 andere NATO-Mitglieder, die über ein erhebliches militärisches und strategisches Potenzial verfügen. Das Bündnis besteht nicht alleine aus den Vereinigten Staaten. Wenn die Europäer wollen, können sie ihre Sicherheit in wenigen Jahren sehr wohl selbst gewährleisten. Für die Ukraine gilt, dass 40 Prozent der Waffen, die sie jetzt im Krieg benutzt, aus den USA kommen. Welche Folgen hat es, dass Trump die Lieferungen eingestellt hat?Das ist fast die Hälfte, also schon ein erheblicher Teil. Natürlich wird das die ukrainische Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, stark beeinträchtigen. Wenn dann auch noch die Kommunikation und Aufklärungskapazitäten der USA wegfallen, ist das eine dramatische Situation für das Land. Der Druck auf Kiew, zu einem Ende des Krieges zu kommen, steigt dadurch ganz erheblich. Und das hat auch Folgen für die EU: Die europäische Ukrainestrategie muss sich jetzt verändern. Schließlich wissen die Europäer, dass sie die amerikanische Unterstützung kurzfristig nur unzureichend ersetzen können. Wenn die noch amtierende Außenministerin Annalena Baerbock weiterhin sagt: Die Ukraine muss so lange von uns militärisch unterstützt werden, bis sie aus einer Position der Stärke in Verhandlungen einsteigen kann, dann ist das Gerede von gestern. Für den Wiederaufbau der Ukraine werden zwischen 500 und 900 Milliarden Dollar veranschlagt. Je länger der Krieg dauert, desto astronomischer werden die KostenDer designierte deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat vor wenigen Tagen noch gesagt: „Die Ukraine muss die Systeme bekommen, die sie zu ihrer Verteidigung benötigt, auch Marschflugkörper.“Auch das ist eine Debatte von gestern. Herr Merz hinkt der politischen Entwicklung hinterher. Nach der Kehrtwende in den USA will der größte Teil der Politiker in den europäischen Ländern sich umso weniger in einen Krieg mit Russland verwickeln lassen. Emmanuel Macron und Keir Starmer sind schon einen Schritt weiter als Merz: Sie stellen sich und uns auf eine Nachkriegssituation ein und reden mit der amerikanischen Administration darüber, zu welchen Bedingungen der Krieg zu einem Ende kommen kann. Ich wage mal die These: Da wird unser Kanzler in spe auch noch hinkommen.Ist es eine gute Nachricht, dass Trump den Krieg beenden will?Definitiv! Er fährt zwar außenpolitisch in vielerlei Hinsicht einen wahnwitzigen Kurs: von fünf Prozent Rüstungsausgaben, die er von den Europäern verlangt, über Panama bis Grönland und Gaza. Im Falle der Ukraine müssen wir Trump aber dankbar sein. Und zwar alle: die Ukrainer, die Russen, die Europäer. Seit zweieinhalb Jahren ändert sich praktisch nichts am Frontverlauf, der Krieg ist in diesem Sinne gelaufen, seit zweieinhalb Jahren steigen nur die Zahlen der Toten und Verwundeten, wird die Zerstörung massiver, wachsen die Kosten ins Monströse. Die Deutschen sollten nicht zuletzt deswegen dankbar sein, weil sie am meisten für eine lebensfähige Ukraine nach dem Krieg zahlen werden – und da sind die Kosten, wie gesagt, schon jetzt exorbitant. Für den Wiederaufbau der Ukraine werden zwischen 500 und 900 Milliarden Dollar veranschlagt. Je länger der Krieg dauert, desto astronomischer werden die Kosten. Von daher tut Trump den Europäern auch finanziell einen Gefallen.Placeholder image-1Wann wird der Krieg enden?Wenn Trump nicht nur Selenskyj, sondern auch Putin unter Druck setzt, kann er in wenigen Monaten zu Ende sein. Und zwar nicht nur, weil Trump das will oder weil es vernünftig ist. Sondern, weil der Ukraine Munition und Soldaten ausgehen. Und auf der anderen Seite der Frontlinie: Die russische Armee ist ausgeblutet. Laut BBC sind 220.000 russische Soldaten und 4.595 Befehlshaber in der Ukraine gestorben. Ein großer Teil des Materials, das Moskau für einen Landkrieg einsetzen konnte, ist vernichtet. Das heißt, der gesamte Kern der russischen Streitkräfte ist in diesem Krieg zerschlagen worden. Die Armeen auf beiden Seiten haben seit längerem nichts Entscheidendes mehr zuzusetzen, sie sind am Limit. So sehr, dass die russische Armee im Oblast Kursk noch nicht einmal die von der Ukraine besetzten Gebiete zurückerobern konnte – ein Gebiet, das gerade einmal doppelt so groß ist wie Hamburg. Und dann kommt noch ein anderer Faktor hinzu, der strategisch für Moskau eine wichtige Rolle spielt: Putin will Trump nicht als Gegner haben. Wieso nicht?Aus zwei Gründen. Erstens: Wenn er sich Trump annähert, werden die Sanktionen gegen sein Land sehr schnell gelockert oder aufgehoben. Dann gibt es eine Chance, dass sich die russische Wirtschaft auf dem Weltmarkt wieder einigermaßen normalisiert. Zweitens: Der internationale Haftbefehl gegen Putin wäre vielleicht nicht vom Tisch, aber weitgehend bedeutungslos. Schließlich: Innenpolitisch könnte er sich nicht nur als Sieger im Krieg darstellen, sondern auch darauf verweisen, dass er den mächtigsten Mann der Welt zum Freund hat. Das alles wäre gefährdet, wenn er sich Trump zum Gegner macht. Zumal der US-Präsident den russischen Forderungen nach Anerkennung der Eroberungen im Nachbarland faktisch zugestimmt hat. Und darüber hinaus zustimmt, dass die Ukraine nicht in die NATO kommt. Zu welchen Bedingungen wird der Krieg enden?Technisch wird er so enden, wie viele Kriege zwischen Staaten enden, wenn sich keine Seite militärisch durchsetzen kann: mit einer Feuerpause, einem Waffenstillstand, einer Demarkationslinie, einer Pufferzone auf beiden Seiten und mit der Stationierung von Friedenstruppen. Weil Trump diesen Part nicht übernehmen will, wird den Europäern in dieser Situation nichts anderes übrig bleiben, als den Bärenanteil der Truppen zu stellen. Das werden ihnen weder Chinesen noch irgendwelche anderen Kräfte abnehmen. Diesbezüglich ist die eigentliche Herausforderung der nächsten Zeit für die Europäer, die Modalitäten so zu gestalten, dass eine größtmögliche Chance für eine dauerhafte Befriedung des Konflikts besteht und die dort stationierten Truppen nicht in Bedrängnis geraten. Das ist bei einer Frontlinie, die 1.500 km lang ist, nicht einfach.Die russischen Streitkräfte sind heute in der prekärsten sicherheitspolitischen Lage seit dem Ende des Zweiten WeltkriegsEin solches Stationierungsabkommen muss verbunden sein mit einer möglichst weitgehenden Ausdünnung russischer und ukrainischer Kräfte auf beiden Seiten der Pufferzone. Das alles wäre am besten zu bewerkstelligen, wenn ein starkes Mandat der Vereinten Nationen, das heißt, ein Beschluss des Sicherheitsrats vorläge, dem alle ständigen Mitglieder – USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien – zustimmen. Und wenn zusätzlich Kräfte aus anderen Teilen der Welt mobilisiert und zur Verfügung gestellt werden, die die Mission auch on the ground zu einer international abgesicherten Mission machen. In diesem Rahmen wird auch Deutschland gefordert sein.Ist das nicht unvorstellbar: Deutsche Truppen stehen in der Ukraine russischen Soldaten gegenüber?Das war bisher unvorstellbar. Die Dinge haben sich in vielerlei Hinsicht verändert. In Litauen stehen schon deutsche Soldaten, und das ist auch nicht weit von der russischen Grenze. In Bezug auf die Ukraine ist die Internationalisierung wesentlich, damit an dieser Linie sich nicht allein NATO-Europa und Russland gegenüberstehen. Das vermindert das Risiko.Die künftige Bundesregierung will Militärausgaben, die über einem Prozent der Wirtschaftsleistung liegen, von der Schuldenbremse ausnehmen. Finden Sie das richtig?Ganz prinzipiell gilt: Deutschland und Europa brauchen eine eigene und gut aufgestellte Verteidigungsfähigkeit. Jedes Land und die europäischen Staaten kollektiv müssen in der Lage sein, sich militärisch zur Wehr zu setzen, wenn eines von ihnen angegriffen wird. Das muss gewährleistet sein. Das ist nach dem Wegfall der US-Garantien umso wichtiger. Was fehlt, und das ist entscheidend, ist eine Analyse, was Landes- und europäische Bündnisverteidigung im Jahr 2025 und in den nächsten Jahren heißt. Russland ist ein militärischer Gegner für die Ukraine, aber kein wirklicher militärischer Gegner mehr für die NATO. Putin hat nicht nur die Ukraine zerstört, sondern in diesem Krieg auch seine eigenen Streitkräfte. Wenn es darauf ankäme, wäre Russland heute nicht einmal in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Laut Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr, wird Russland in fünf Jahren in der Lage sein, die NATO anzugreifen.Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Die russischen Streitkräfte sind trotz höchster Anstrengung in den letzten drei Jahren gegen die vergleichsweise schwache ukrainische Armee nicht weiter als 100 Kilometer vorgedrungen und dort stecken geblieben. Praktisch alle Truppen mussten aus dem Fernen Osten an der japanischen und chinesischen Grenze wie an der langen NATO-Grenze zu Finnland abgezogen und in die Ukraine gebracht werden, um die gigantischen Verluste zu kompensieren. Die russischen Streitkräfte sind heute in der prekärsten sicherheitspolitischen Lage seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Russland wird Jahre brauchen, um auch nur seine eigene Verteidigungsfähigkeit wiederherzustellen. Von daher müsste doch erst mal eine Bedrohungsanalyse erfolgen, die nicht auf irgendwelchen Fantasien russischer Nationalisten über die Wiederherstellung der Sowjetunion oder die Sammlung russischer Erde basiert, sondern auf militärischen und ökonomischen Fakten. Die gegenwärtigen Panikkäufe sind nicht nur eine unglaubliche Geldverschwendung, sondern militärisch auch noch kontraproduktivWas meinen Sie damit?Die Wirtschaftsleistung Russlands ist die von Italien oder Spanien, und das ist die Basis für Kriegswaffenproduktion und militärischen Aufwuchs. EU- und NATO-Europa steht unvergleichlich besser da. Die Ostflanke der NATO ist mittlerweile gut gesichert, an die 20 Nationen arbeiten dort militärisch erfolgreich zusammen und schrecken erfolgreich ab. Deutschland hat 4.000 Soldaten in Litauen stationiert, die NATO ist Russland auch im Osten des Kontinents haushoch überlegen. Russland hat überhaupt keine Kapazitäten, um ein NATO-Land anzugreifen. Gegen die NATO kann Russland heute im Wesentlich nur mehr hybrid Krieg führen, nicht konventionell. Was Russland heute sichert, ist nur mehr die Drohung mit seinen Nuklearwaffen. Was heißt das für die Verteidigung für Deutschland und Europa heute? Der gegenwärtige Panikmodus und der Überbietungswettbewerb in Fragen der Aufrüstung ist völlig verfehlt. Wir können ganz ruhig die notwendigen Schwerpunkte bei der kollektiven Verteidigung der europäischen Länder setzen. Die NATO in Europa ist auch ohne die USA Russland haushoch überlegen. Was die Europäer brauchen, wenn die USA als Verbündeter ausfallen, ist ein eigenes Kommunikations- und Aufklärungssystem vor allem über Satelliten. Und zweitens: militärische Transportkapazitäten, also Großraumtransporter. Das Satellitensystem können sie ohne übermäßige Anstrengungen in den kommenden Jahren aufbauen, europäische Firmen können das bewerkstelligen. Die Transportflugzeuge können zum Beispiel von den USA gekauft werden. Außerdem sind die Lehren aus dem Ukrainekrieg zu ziehen.Welche?Neben Patriot-Systemen und ähnlichem sind Drohnen die Abwehrwaffen der Zukunft, nicht Panzer und Kampfflugzeuge. Der vom Verteidigungsministerium schon 2022 in die Wege geleitete Kauf von sündteuren F-35 Kampfflugzeugen von den USA ist ein Fehlkauf, genauso wie die Massenbestellung von Panzern. Ein Panzer, der 20 oder 25 Millionen Euro kostet, kann von einer 350 Euro-Drohne außer Gefecht gesetzt werden. Die gegenwärtigen Panikkäufe sind nicht nur eine unglaubliche Geldverschwendung, sondern militärisch auch noch kontraproduktiv.Eine adäquate Ausstattung unserer Streitkräfte muss gewährleistet sein. Aber um Deutschland und Europa sicher zu machen, muss viel mehr in Bildung, Innovation, Zukunftstechnologien, Infrastruktur, den Kampf gegen den Klimawandel und in die Kohäsion Europas investiert und eine solide Haushaltsführung beachtet werden. Das Dümmste, das wir machen können, ist, uns selbst totzurüsten.