Wer wünscht sich nicht, fürs neue Jahr im Gleichgewicht zu sein. Schon Konfuzius strebte nach Ausgleich, die Briten schaffen das lässig, und für manche ist er eine sehr steinige Angelegenheit. Von Domino, Dandypferden und Arbeitsmodellen

Foto: Faber Franco


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wie Ausgleich

Vergeblich streben die Deutschen nach Ausgeglichenheit. Das lassen zumindest die unzähligen Angebote zur Förderung der „inneren Balance“ vermuten. Gerne wäre man so gelassen wie die Briten, die stoisch die Unzulänglichkeit des Alltags ertragen, zu der gehört, dass Waschbecken oft mit zwei Hähnen, einem für kaltes, einem für warmes Wasser, ausgestattet sind. Gelegentlich werden die beiden Wasserströme durch eine Schlauchkonstruktion zusammengeführt, jedoch ohne sich wirklich zu vermischen. Es gibt technische Erklärungen für diese Malaise. Aber hier soll es genügen, das an Starrsinn grenzende britische Traditionsbewusstsein als eigentliche Ursache dafür anzunehmen, dass die bereits 1947 erfundene

reits 1947 erfundene Mischbatterie bis heute nicht zur Standardausstattung insularer Nassräume zählt. Anders als in Deutschland, wo „Einhandhebelmischer“ für wohltemperiertes Wasser sorgen, jedoch ohne, dass dies einen beruhigenden Einfluss auf den seelischen Zustand seiner Bevölkerung hätte. Joachim FeldmannBwie BrettspieleZu Hause hatten wir natürlich wie jede klassische Familie eine klassische Spielesammlung. Mein Vater lehrte mich die besten Mühle-Tricks, meine Mutter spielt super Dame, Oma Katharina brachte es immer nur sehr schwer übers Herz, einen rauszuwerfen beim „Mensch ärgere Dich nicht“. Mit den Spielsteinen konnte ich mich aber auch stundenlang allein beschäftigen. Ich baute damit in aller Seelenruhe ein Schloss. Die Bauleitung war der Spaß, eine eingebildete Prinzessin wollte ich natürlich nicht sein. Alle Steine (→ Rock Balancing) und Figuren wurden akkurat angeordnet, gestapelt, nach Farben sortiert. Der psychologische Effekt der kontemplativen Legerei – nachhaltig ausbalancierend, hochgradig selbstwirksam – kann nicht überschätzt werden. Und bis heute spiele ich nicht nur gern Brettspiele, sondern habe es dabei gern geradlinig. Katharina SchmitzCwie Charts„ ,Balance‘ ist ein eher ruhiges, verhaltenes Album, das durch die überwiegende Anzahl romantischer Titel auffällt“, weiß Wikipedia über die Platte von Karat (1997). In den Charts landete sie nicht, war vielleicht zu ausgeglichen, um aufzufallen. Auf Platz eins in Großbritannien brachten es hingegen Van Halen mit ihrem Album Balance (1995) – und immerhin auf den achten Rang in Deutschland. Es gab Platinauszeichnungen für die Hard-Rock-Band und eine Grammy-Nominierung. Die Platte war also alles andere als Mittelmaß (→ Konfuzius). Direkt danach brach die Band allerdings mit Sänger Sammy Hagar, der dann eigene Wege ging. Auch im Schlager strebt man häufig nach dem Equilibrium. Und dann funkt es. „Verlier’ mit dir die Balance, wie in Trance / Lassen los, fliegen hoch / Verlier’ mit dir die Balance, Contenance / Keine Chance, schwerelos.“ Die Textzeile stammt aus dem Titelsong des Albums Balance der Schweizer Sängerin Beatrice Egli, das 2023 direkt auf Platz eins in die deutschen Charts einstieg. Tobias PrüwerFwie FlugzeugEs ist ein Naturgesetz: Stimmt die Verteilung des Gewichtes in einem Flugzeug nicht, kann es nicht (sicher) starten oder sich in der Luft halten. Nachlässige Privatpiloten (Sonntagsflieger) merken das, wenn sie es beim Start von der Zahnärztefortbildung nur knapp über den Zaun des Flugplatzes schaffen, weil die Beladung mal wieder nicht gerechnet, sondern geschätzt wurde – und das in der Regel gefährlich wohlwollend. Dabei gibt es dafür standardisierte Formeln, nachzulesen im Flug-und Betriebshandbuch. In der kommerziellen Fliegerei übernimmt die Abteilung Weight & Balance diese Arbeit und erzielt, obwohl natürlich nicht jeder Fluggast einzeln gewogen wird, sichere Ergebnisse. Von einem spontanen Treffen aller Passagiere in der vorderen Galley ist dennoch abzuraten – falls Sie den kostenlosen Champagner lebend genießen wollen. Jan C. BehmannGwie GeschwisterSie stammten aus Siebleben, einem Ortsteil von Gotha in Thüringen, und präsentierten seit 1900 in mehreren Generationen Hochseilartistik. Bei jedem Volksfest in Karl-Marx-Stadt waren die Geschwister Weisheit dabei. Mit starrem Hals blickte ich zu ihnen auf, wie sie sich leichtfüßig zwischen riesigen Stahlmasten bewegten. Mal mit Balancierstangen, mal ohne. Weisheit? Eher Wahnsinn. Spiel mit der Gefahr. In so eine Artistenfamilie hätte ich nicht hineingeboren sein mögen. Schon die Kinder mussten aufs Seil. Heute weiß ich um die Schwierigkeiten dieses Privatunternehmens in der DDR und um den Ruhm, den es später gewann – bis hin zum Sonderpreis der internationalen Jury beim 35. Zirkusfestival von Monte Carlo 2011. Aber Unfälle gab es auch. 2010 stürzte André Weisheit in der Nähe von Bonn aus elf Metern in die Tiefe und zog sich schwerste Verletzungen zu. Zwei Jahre vorher erwischte es in Sonneberg den Familienchef. Doch half ihm zum Glück ein Sicherheitsnetz (→ Schwebebalken). Irmtraud GutschkeKwie KonfuziusKonfuzius sagt: „Maß und Mitte sind der Höhepunkt menschlicher Naturanlage.“ Das ausgeglichene „In-der-Mitte-Bleiben“ ist in seiner chinesischen Staatsphilosophie Ausdruck höchster Tugend. Auf Harmonie, Gleichgewicht und Gleichmut gründet das gelingende Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft. Ähnliches findet sich bei Aristoteles, dessen Mitte-Beschwörungen bis heute einflussreich sind. Für ihn galt es, die richtige Balance – Mesotes – zwischen den Tugenden zu finden. Seine Ethik des Maßhaltens propagiert Positionen zwischen Mangel und Überfluss, Hunger und Völlerei, Feigheit und Übermut. Das stellt die Philosophen bis heute vor Rätsel, denn nicht jede Eigenschaft lässt sich in zwei extreme Pole aufteilen (→ Ausgleich). Fürs Alltagsdenken ist diese Daumenregel nicht falsch. Wie es bei Paracelsus heißt: „Die Dosis macht das Gift.“ TPRwie Rock BalancingLange hielt man die Steintürmchen, die einem beim Wandern oder auch an Stränden allenthalben begegnen, für Hervorbringungen eines öden Hobbys. Googeln Sie aber mal die Wörter „The Art Of Rock Balancing“. Da werden Sie in eine andere Welt gebeamt! Unfassbar, was diese sogeannnten Stein-Balancierer, diese Rock-Balance-Artisten draufhaben! Mit ruhiger Hand und kaltem Blut bauen sie ihre Strukturen, es ist Land Art als meditativer Akt. Die Steine werden dabei so platziert, dass sie sich ausbalancieren (→ Brettspiele). Meist hält es nur für Sekunden, ein Balanceakt. Der wird aber auch kritisch gesehen: So liest man, dass das Entfernen und Bewegen von Steinen zur Bodenerosion beitragen würde. Außerdem würde dadurch der Lebensraum von Tieren zerstört, die unter den Steinen Zuflucht suchen und sich vermehren würden. Im Ernst? Zu wenige Steine, um sich zu verkriechen? Das glauben wir jetzt aber wirklich nicht. Stattdessen betrachten wir die Werke von Andy Goldsworthy, Gabriele Meneguzzi oder Nadine Fourrè – und sind ab jetzt echte, steinharte Rock-Balancing-Fans. Marc PeschkeSwie SchwebebalkenIm Bayern der 1980er Jahre war der Schulsport eine leistungsbetonte Angelegenheit. Beim Geräteturnen schwangen sich die Mädchen in Glitzeranzügen wirbelnd um Reckstangen herum, hüpften über Kästen und Pferde, übten den Flicflac auf Bodenmatten und tänzelten barfuß auf dem gefürchteten Schwebebalken herum, machten dort Rollen, Handstand und Pferdchensprünge auf dem schmalen Holz. Um mir die Angst vor dem Absturz (→ Flugzeug) zu nehmen, stellte ich mir einfach vor, dass links und rechts des Holzes kein Abgrund lauerte, sondern dass das Holz eine Linie auf dem Asphalt markiert. Dank dieser Selbstüberlistung traute ich mir alles Mögliche zu, hielt die Balance, fiel tatsächlich äußerst selten runter, war stolz auf etwas, das mir heute wie eine halsbrecherische Ungeheuerlichkeitund Schinderei vorkommt.Beate TrögerVwie Viertagewoche1994 stand VW schon einmal vor massiven Protesten gegen drohenden Arbeitsplatzabbau. Die Konzernleitung reagierte mit der Einführung der Viertagewoche, um Entlassungen zu vermeiden und den Betriebsfrieden zu sichern. Dieses Zugeständnis bewahrte viele Arbeitsplätze und stärkte das Vertrauen der Belegschaft. Heute, 30 Jahre später, steckt VW erneut in der Krise. Sinkende Gewinne und die Herausforderungen der Elektromobilität zwingen den Konzern zu Umstrukturierungen. Die IG Metall zeigt sich offen für eine erneute Einführung der Viertagewoche, um Arbeitsplätze zu sichern und den Wandel sozialverträglich zu gestalten. Die damalige Maßnahme hat jedoch auch dazu geführt, dass die Belegschaft weniger kampferprobt ist. Die Bereitschaft, für den Erhalt von Arbeitsplätzen auf die Barrikaden zu gehen, existiert zwar noch, ist aber nach Jahren der Zugeständnisse durch die Konzernleitung an die Beschäftigten ein wenig eingeschlafen. Sie muss, trotz vorläufiger Einigungen, immer wieder reaktiviert werden. → Ausgleich ist nun mal kein Selbstläufer.Jens SiebersZwie ZweiradEine Bewegung flüssig und perfekt auszuführen, den gewünschten Effekt zu erzielen und seine Skills dabei positiv zu erleben, das macht glücklich. So die Flow-Theorie von Mihály Csíkszentmihályi (Flow, 1992) Mit dem Rad rasant durch eine Kurve zu fahren, ohne zu stürzen (→ Geschwister) oder aus ihr zu fliegen, kann als Beispiel dafür gelten. Als erster Mensch empfand wohl Karl von Drais, der Erfinder des Laufrads, im Jahre 1817 dieses Glück. Er bewies, dass ein einspuriges Zweirad rollend im Gleichgewicht gehalten werden kann. Seine „Laufmaschine“ wurde bald in ganz Europa nachgebaut. In England hieß sie „Dandy Horse“. Es gab sogar „dandy horse riding schools“ – Laufradfahrschulen. Das Gleichgewicht auf zwei Rädern halten zu können, war ja eine historisch noch nie da gewesene Fähigkeit und musste erst eingeübt werden.Michael Suckow



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Von Veritatis

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