Der französische Präsident Emmanuel Macron bietet einen nuklearen Schutzschirm für Europa an, über dessen Einsatz man in Paris das letzte Wort behielte
La bombe, c’est (avec) moi!
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Ausnahmezustand in Paris am vergangenen Freitag: Wegen eines Bombenfundes an der Gare du Nord kommt der Zugverkehr auf Europas passagierreichstem Bahnhof komplett zum Erliegen. Erst am Abend ist der 500 Kilogramm schwere Sprengkörper aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft. Allein auf der Strecke London-Paris sind 15.000 Reisende betroffen, dabei gilt die Verbindung zwischen beiden Hauptstädten gerade als ein Schlüssel, um zu einer der Situation angemessenen europäischen Sicherheitspolitik zu finden.
Fast könnte man meinen, die Ereignisse hätten sich einen schlechten Scherz erlaubt. Die Bombenentschärfung fiel just auf den Morgen nach dem Brüsseler EU-Gipfel, bei dem Emmanuel Macron erneut darüber sprach, den Schutzschild französischer Ker
ischer Kernwaffen künftig anderen Staaten in Europa anzubieten. Zwischen dem realen Bombenentschärfen an der Gare du Nord und dem verbalen Bombenschärfen in Brüssel bestand zwar kein Zusammenhang, doch wer genauer hinsah, dem konnte nicht entgehen, dass hier Kriegsfolgen beseitigt wurden, während dort Kriegsoptionen in der Luft lagen.Dazu passt, dass sich Emmanuel Macron und Wladimir Putin in den letzten Tagen an verbaler Konfrontation nichts schenken wollten. Nachdem der französische Präsident in einer dramatischen Fernsehansprache vor russischer Bedrohung gewarnt hatte, erinnerte ihm sein russischer Amtskollege an den missglückten Russlandfeldzug im Jahr 1812: „Wer in die Zeiten Napoleons zurückfallen will, vergisst, wie die Sache ausgegangen ist.“Macron parierte: „Napoleon führte Eroberungskriege. Die einzige imperiale Macht, die ich in Europa derzeit sehe, heißt Russland.“ Er nannte Putin einen imperialistischen Geschichtsrevisionisten, der Frieden in der Ukraine nur wolle, um sich besser auf einen erneuten Krieg vorbereiten zu können. Kurz gesagt: Die Stimmung zwischen Moskau und Paris ist nicht gerade „bombig“.Putin an der Côte d’AzurDas war nicht immer so. Während seiner ersten Amtszeit war Macron durchaus um einen politischen Dialog mit Moskau bemüht. Er lud Putin noch 2019 in seine Sommerresidenz an der Côte d’Azur ein, um zu unterstreichen, dass Russland unbedingt in eine europäische Sicherheitsordnung eingebunden sein müsse. Auch kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine suchte Macron das Gespräch, bevor das Verhältnis immer feindseliger wurde.Dies trifft auf die Beziehungen zu den USA zwar nicht zu, aber eine Zäsur lässt sich kaum bestreiten, seit Donald Trump den europäischen Teil der NATO nicht mehr sonderlich schätzt. Daran änderte auch das fröhliche Fuchteln und Kichern beim Händeschütteln zwischen dem US-Präsidenten und Macron jüngst im Weißen Haus nichts. Macrons Charme-Offensive ließ Amerikas Kurswechsel in Sachen Ukraine vollends unberührt, Gleiches gilt für die unverkennbare Entfremdung zwischen Europa und den USA.Bei alledem agiert Macron ohne allzu viel Rückhalt im eigenen Land. Es gibt seit den vorgezogenen Neuwahlen im Sommer 2024 keine klaren parlamentarischen Mehrheiten mehr, sondern wechselnde Regierungen, eine immer stärker werdende Marine Le Pen und gefährlich gestiegene Staatsschulden, von der Unzufriedenheit der Bevölkerung ganz zu schweigen. Macron sucht derweil Zuflucht in seiner Paraderolle als Staatsmann und großer Europäer, dem nun der Hang zum Feldherrn anhaftet. Er kann sich zugutehalten, eine Agenda zu erneuern, der er seit Jahren folgt: mehr europäische Selbstbestimmung durch eine gemeinsame Verteidigungspolitik.Dabei stieß er in der Vergangenheit in Berlin mit seiner Idee vom französischen Atomschirm für das befreundete Deutschland sowohl bei Angela Merkel (CDU) als auch bei Olaf Scholz (SPD) eher auf reservierte Reaktionen. Wofür drei Gründe maßgebend waren: Man wollte erstens den transatlantischen Grundpfeiler störungsfreier Beziehungen zu den USA nicht erschüttern. Sie standen über dem Anspruch nach europäischer Selbstermächtigung. Zweitens war klar, dass Frankreich damit sein spezifisches Gewicht innerhalb der EU erhöhen würde. Drittens bestand die Gewissheit, dass allein der französische Präsident über einen Einsatz von Kernwaffen entscheiden würde, was im Ernstfall äußerst risikobehaftet sein könnte.Atommacht FrankreichSeit Frankreich am 13. Februar 1960 auf dem Testgelände Reganne in der algerischen Sahara seine erste Atombombe erfolgreich gezündet hatte und der Aufbau der „Force de Frappe“ begann, bestand ein Dualismus zwischen dem Prinzip der kollektiven Verteidigung innerhalb der NATO und der Exklusivität der eigenen nuklearen Ambition. Zum 25. Jahrestag der Allianz wurde in der Erklärung von Ottawa 1974 anerkannt, dass die Kernwaffen Frankreichs neben jenen der USA und Großbritanniens signifikant zur globalen Sicherheit des Westens beitrugen.Im vergangenen Jahr, zur 75. Wiederkehr der NATO-Gründung, griff das die Regierung Macron auf, indem sie in einer Botschaft an die NATO darauf verwies, dass sich Frankreich „für einen Ansatz“ einsetze, „der auf den Spitzenleistungen seiner Armee und seiner Fähigkeit aufbaut, sich mit einer unabhängigen Stimme und kreativen Vorschlägen einzubringen“. Unerwähnt blieb, dass es erst 2009 unter Nicolas Sarkozy eine Rückkehr Frankreichs in die Kommandostrukturen der NATO gegeben hatte, mehr als vierzig Jahre nachdem sich Präsident Charles de Gaulle aus Sorge um die Souveränität der Atommacht Frankreich zurückgezogen hatte. Seitdem war die Entwicklung des eigenen strategischen Arsenals eher nationalen als Bündnisinteressen gefolgt.Macrons Offerte vom nuklearen Schutzschirm für andere sollte in Kenntnis dieser Vorgeschichte bewertet werden, auch wenn sie als Option angesichts des Verhaltens der USA plötzlich erschreckend real klingt. Pascal Boniface, Gründer des renommierten Forschungsinstituts IRIS, erklärt auf seinem Tiktok-Kanal: „Die Waffen dürfen aber per Definition nicht nur zur Landesverteidigung angewandt werden, sondern auch, wenn es um vitale Interessen Frankreichs geht. Durch die europäische Zusammenarbeit haben sich die vitalen Interessen Frankreichs natürlich ausgeweitet. Die Sicherheit Italiens, Belgiens oder Deutschlands zum Beispiel fallen heute darunter.“Konfrontationskurs mit RusslandMarine Le Pen hingegen vertritt die Maxime, geteilt wird nicht, schon gar nicht die Bombe. Ihr Parteikollege Sébastien Chenu sagte dem Fernsehsender BFM TV, die unmittelbare Gefahr für Frankreich sei nicht Putin auf den Champs-Élysées, sondern der Islamismus. Von anderer Seite kommt ebenfalls Kritik: Sophie Binet, Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT, wirft Macron vor, sich in kriegerischer Überbietung zu gefallen und eine Psychose mit dem Ziel zu nähren, soziale Rechte einzuschränken.Die Linke ist bei vielen internationalen Fragen gespalten, aber darin einig, dass der Sozialstaat nicht durch Aufrüstung gefährdet werden darf. Laut einer Umfrage des Instituts Ipsos steht eine Mehrheit von 68 Prozent erhöhten Ausgaben fürs Militär positiv oder sehr positiv gegenüber. 52 Prozent vertrauen andererseits nicht darauf, dass den EU-Ländern eine gemeinsame Verteidigung gelingt.Bei alldem wird zu wenig darüber gesprochen, wie gefährlich und irreversibel Macrons Gebaren gegenüber Russland sein kann. Es war abzusehen, dass seine Rhetorik über die russische Aggressivität in Moskau als Bedrohung aufgefasst wird, sodass Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mögliche Gegenmaßnahmen in Aussicht stellte. Es wird verbal eskaliert, statt in die Zukunft zu blicken. Über allem steht schließlich die Frage: Wie kann und muss eine Zusammenarbeit mit Russland aussehen, wenn es auf irgendeine Weise gelingen sollte, zu einem Waffenstillstand in der Ukraine und zu Friedensverhandlungen zu kommen?Im Moment scheint es so, als sei Macron auf einen Konfrontationskurs bedacht und davon überzeugt, Russland ließe sich nur durch zur Schau gestellte Entschlossenheit und den Willen, Stärke zu zeigen, beeindrucken. Anders als an der Gare du Nord scheint im Élysée-Palast gerade kein Entschärfungsdienst gefragt zu sein.