Mindestens 2.000 Justizvollzugsbeamte fehlen in Deutschland, Anstalten suchen händeringend und auf neuen Wegen nach Personal. Was für Menschen sind das, die mit Gefangenen arbeiten wollen? Ein Ortsbesuch

Illustration: der Freitag


Ein sicherer Job. Das ist die erwartbar häufige Antwort auf die Frage, warum jemand im Gefängnis arbeiten möchte. Aber fast genauso häufig, etwas weniger schnell, etwas weniger selbstverständlich, kommt ein zweiter Grund. Einer, der überraschen kann an diesem Ort, an dem morgens auch hinter Mitarbeitern schwere Türen ins Schloss fallen, auch Mitarbeiter durch vergitterte Fenster blicken. Trotzdem sagen viele: Ich will mit Menschen arbeiten.

Der einzige dauerhafte Sozialkontakt hinter Gittern trägt Uniform und Schlüsselbund. Ob ein Gefangener seine Kinder vermisst oder die Drogen, ob er auf vegetarische Kost umsteigen oder sich das Leben nehmen will: Justizvollzugsbeamte wissen es zuerst. Das große Versprechen der Resozialisierung, oft liegt

oft liegt es in ihren Händen. Und mindestens 2.000 von ihnen fehlen.So viele unbesetzte Stellen zählt der Bund der Strafvollzugsbediensteten in Deutschland. Doppelt so viele brauche es für „einen guten, vernünftigen Strafvollzug“, wie das Gesetz ihn vorsieht, sagt Vorsitzender René Müller. Hinzu kommt die Pensionierungswelle, die vor Gefängnismauern keinen Halt macht. In vielen Bundesländern geht ein Viertel aller Bediensteten in den nächsten fünf bis zehn Jahren in Rente. Je weniger Personal es gibt, desto mehr sind Gefangene auf sich allein gestellt, Freizeitangebote fallen weg, Beamte können dem Einzelnen weniger Zeit widmen. Dabei sind es diese Faktoren, die sie auf das Leben in Freiheit vorbereiten.Reden über SelbstmordDamit sich etwas ändert, sitzen knapp dreißig junge Männer und Frauen noch vor Morgengrauen in einem Klassenzimmer des Bildungszentrums Justizvollzug in Stuttgart-Stammheim. Auf den Tischen liegen Ordner und Süßigkeiten, Federtaschen und Gesetzbücher. Nicht Schüler oder Auszubildende, sondern „Anwärter“ werden die genannt, die sich hier auf den Dienst hinter Gittern vorbereiten. Die lange Praxisphase haben sie schon hinter sich, die Namensschilder auf den Tischen geben die Anstalten an, aus denen sie kommen. Bald steht ihre letzte Prüfung an, dann die Verbeamtung auf Probe, schließlich auf Lebenszeit. „Da kommen schon mal Sprüche wie: Ich habe lebenslänglich, du aber auch“, erzählt ein Anwärter in der Pause, Mitte 30, dunkelblonder Kinnbart.Lebenslange Haft, in der Praxis heißt das meist fünfzehn bis zwanzig Jahre. Ein Berufsleben kann doppelt so lange dauern.So gut wie alle Anwärterinnen und Anwärter bringen Erfahrung aus anderen Berufen mit, der Altersschnitt ist deutlich höher als in anderen Ausbildungen. Warum das so gewollt ist, wird spätestens klar, als der Unterricht beginnt. „Suizid ist ein Thema, um das viele Gerüchte und Mythen kreisen“, sagt Jana Denkinger. Die Oberpsychologierätin des Landesjustizministeriums trägt Doc Martens und eine modische, große Brille. Sie projiziert Aussagen an die Wand, die Gruppe diskutiert: Mythos oder Fakt? Wer nur über Suizidalität spricht, bringt sich nicht um. „Stimmt nicht, das kann auch ein Hilferuf sein“, vermutet ein Anwärter. Denkinger bestätigt: Mythos. Nach Suizidgedanken zu fragen, bringt Betroffene nur auf Ideen: Mythos. Unter Gefangenen ist die Suizidrate höher: Fakt. Um ein Fünffaches, erklärt Denkinger. Niemand ist überrascht. Jemand sagt, sich umzubringen sei ja die Reaktion auf eine Krise, und eine Inhaftierung, „das empfinde ich als Normalbürger als sehr schlimme Krise“. Denkinger nickt.Verschenkt jemand plötzlich Habseligkeiten, empfängt keinen Besuch mehr, beschäftigt sich mit dem Tod? Sofort den Therapeutinnen und Therapeuten melden. Die beste Präventionsmaßnahme, so steht es auf einer der Präsentationsfolien, heiße „offene Augen, offene Ohren“. Ein Anwärter meldet sich. „Wir müssen den Gefangenen deutlich machen, dass wir sie nicht nur für Nummern halten.“ Später wird Denkinger erzählen, in einer der letzten Stunden habe sie das Stanford-Prison-Experiment durchgenommen. In dem berühmten Versuch an der US-amerikanischen Stanford-Universität im Jahr 1971, der die Neigung des Menschen zum Machtmissbrauch zeigte, sprach die als Wärter eingeteilte Gruppe die Gefangenen nur mit Nummern an.„Man muss, man kann da nicht komplett abstumpfen“Nicht jeder, der sich das Leben nehmen will, könne gerettet werden, wiederholt Denkinger im Unterricht mehrfach. Suizide seien die häufigste Todesursache in Haft. „Deshalb müssen Sie sich darauf vorbereiten, dass es wahrscheinlich auch in Ihrem Arbeitsleben vorkommen wird.“ Auf einer der letzten Folien geht es deshalb um den Kriseninterventionsdienst, der Beamte unterstützt, wenn sie jemanden tot aufgefunden haben. „Nehmen Sie das in Anspruch und passen Sie auf sich auf“, sagt Denkinger. „Man muss, man kann da nicht komplett abstumpfen.“Joachim Obergfell-Fuchs leitet das Bildungszentrum. Ob es vorkomme, dass im Unterricht jemand den Sinn von Gefängnissen hinterfrage? „Das mache ich“, sagt der Kriminologe und lacht. Den Anwärtern stelle er dann knapp Fälle vor, in denen Menschen Affekttaten begehen. „So kommt man auf Systemfragen zu sprechen: Was machen wir hier eigentlich? Was soll das Ganze?“ Von sich aus würden die Anwärter das nicht tun. In den Pausen gehen die meisten rauchen, einige scrollen durch Instagram. Die größte Überraschung am Job? Wie viele verschiedene Persönlichkeiten es unter den Gefangenen gibt, antwortet einer der Anwärter. „Die Mörder sind die Nettesten.“Längere Strafen, das heißt eben auch: mehr Zeit, sich kennenzulernen.Einer der Raucher trägt seine Zigaretten in einem Etui. Nicht aus Stilgründen, sondern weil er in der Anstalt nur Dienstkleidung tragen darf und Schachteln sich in den Hosentaschen verbiegen. Zum 200. Jahr seiner Anstalt, der JVA Rottenburg, hat der SWR einen Film gedreht, da sieht man ihn in seiner Uniform. Und es wird darauf hingewiesen, dass die Anstaltsleitung Personal sucht.Der schnelle Weg in den Knast? „Eine Ausbildung“Baden-Württemberg gehört zu den Bundesländern, die sich eine eigene Kampagne leisten, entworfen von einer Berliner Werbeagentur, Motto: „Der schnellste Weg ins Gefängnis. Eine Ausbildung“. Der Spruch steht auf Flyern, Instagramposts, Haltestellen. Wer auf Google Street View die Justizvollzugsanstalt Heilbronn sucht, kann dort eine Plakatwand mit dem Spruch sehen. 20.000 Euro investiert man hier jedes Jahr in die Personalwerbung, ein bis zwei Prozent des Gesamthaushalts.Ein Mittwochvormittag im Dezember. Im Zellentrakt des Heilbronner Gefängnisses hallt jedes Geräusch einen Augenblick nach. Deshalb ist es nie ganz leise auf den langen Fluren, die sich über drei Etagen erstrecken. Riesige Netze sind zwischen den Stockwerken gespannt, die Geländer sind dunkelblau, die Wände hellblau gestrichen. Markus Scholl, drei silberne Sterne auf jeder Schulter, sagt, man lerne, Ruhe zu schätzen. Vor einer der unzähligen Stahltüren bleibt er stehen, tippt mit dem Bart seines Schlüssels zweimal gegen den Griff, bevor er aufschließt. Während das Klirren nachhallt, hält er inne. „Das war jetzt so ein Reflex“, erklärt er. „Man kündigt sich bei den Inhaftierten vorher an. Das sitzt so tief, das mache ich automatisch.“ Dann öffnet er die Tür zur leeren Zelle, die Handgriffe routiniert, als wäre es seine eigene Wohnungstür. Ein wenig heimisch dürfte sich der 52-Jährige tatsächlich fühlen. Immerhin arbeitet er fast sein halbes Leben hier, seit sechs Jahren als Ausbildungsleiter. Zehn Jahre hat er noch.Beim TrennscheibenbesuchJustizvollzugsbeamte, so schreibt es das Beamtengesetz von Baden-Württemberg vor, werden mit 62 Jahren pensioniert. Auch hier in Heilbronn wird bis 2035 fast jeder Vierte weg sein. „1A“ sei Scholl als Ausbildungschef gewesen, erzählt Alena Keszler, „besser geht es kaum“. Die 28-Jährige mit dem braunen Pferdeschwanz hat ihre Ausbildung vor zwei Jahren beendet. Heute ist sie als Besuchskoordination zugeteilt. Während die Gefangenen ihre Besucher empfangen, steht Keszler in einem kleinen Büro mit höhenverstellbarem Schreibtisch. Immer wieder klingelt das Telefon, Angehörige vereinbaren Besuchstermine.Es könnte ein beliebiger Arbeitsplatz sein, wäre da draußen nicht der Stacheldraht an der Dachkante.Und die Scheibe in einer Wand, die von dieser Seite aus ein Fenster ist und von der anderen Seite ein Spiegel. Dahinter sitzt sich ein Pärchen gegenüber, durch Glas getrennt, und führt ein unhörbares Gespräch. Zwischendurch wischt sich der Mann Tränen aus den Augen. „Trennscheibenbesuch“, erklärt Keszler. Die Sicherheitsmaßnahme werde etwa nach Schmuggelversuchen angeordnet. Auf der Webseite, mit der die JVA um Bewerber wirbt, ist Keszler mit Foto und Zitat zu sehen. „Menschen in diesem Beruf sollten Teamplayer sein.“ Quereinsteigende seien willkommen, heißt es darunter, „die Kollegin hat vorher in einem völlig anderen Berufsfeld studiert“. Kunstgeschichte in Heidelberg, erzählt Keszler, Bachelor of Arts. Die Pandemie schränkte alles ein, 2021 die Planänderung, kein Master, stattdessen Justizvollzug. „Es hat sich einfach angeboten“, verdienstvoll, sicher. „Man hat hier kein Handy bei sich, kein Social Media. Man ist wirklich hier. Es ist wie ein kleines Universum.“ Natürlich sei es nicht für jeden etwas, fügt sie hinzu. „Man muss damit zurechtkommen, dass man selbst eingesperrt ist. Wir sitzen auch hinter Gittern den ganzen Tag.“Personal zu finden ist das eine, gutes Personal das andere. Im Eignungstest, der Allgemeinwissen, psychische Verfassung und sportliche Leistung prüft, fallen hier 80 bis 90 Prozent der Kandidaten durch, schätzt Ausbildungsleiter Scholl. Die meisten würden am Psychologieteil scheitern. Die Ansprüche bleiben hoch, dem Mangel zum Trotz. Alles, um den „Kampf um die besten Köpfe“ zu gewinnen, so erklärt es Anstaltsleiter Andreas Vesenmaier. Der Jurist mit dem grauen Anzug und dem glatt rasierten Gesicht weiß, wen er sucht, dass Bewerber „persönlich gefestigt“ sein und „eine gewisse Menschlichkeit mitbringen“ müssen. Wenn ihm im Vorstellungsgespräch jemand gegenübersitzt, der sich nicht eignet, merkt er das schnell. „Wer einfach nur eine Waffe tragen will, ist bei uns falsch.“In Rollenspielen etwa wird der Umgang mit Inhaftierten simuliert. „Sie glauben gar nicht, wie schnell sich Bewerberinnen und Bewerber entlarven“, durch herabwürdigende Sprache, übertriebene Gestik. Aber auch Desinteresse will der Anstaltsleiter von seinem Nachwuchs nicht sehen.Im Büro neben dem Besuchsraum geht Alena Keszlers heutiger Dienst seinem Ende entgegen. Die Mienen des Paares hinter der Scheibe sind so dunkel wie am Anfang des Besuchstermins, mehr als winken können sie zum Abschied nicht.Markus Scholl bringe seinen Anwärtern bei, „dass das zwar Strafgefangene sind, aber auch Menschen“, sagt Keszler. Scholl weiß, warum, er weiß, was Sicherheit im Gefängnis bedeutet. Vielleicht sagt seine Begründung auch etwas über Vorstellung von Verbrechen und Strafe diesseits der Mauern aus. „Wenn wir nicht Mensch bleiben, glauben Sie, wir kommen hier gesund raus?“



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Von Veritatis

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