Frauen werden zunehmend Opfer von Straftaten aufgrund ihres Geschlechts. Doris Felbinger von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen erklärt den Anstieg häuslicher Gewalt
Fast jeden Tag wird eine Frau in Deutschland ermordet, weil sie eine Frau ist
Foto: Imago / Frank Sorge
Es sind erschreckende Zahlen: Im Jahr 2023 wurden 360 Mädchen und Frauen Opfer von Femiziden. Das bedeutet, dass an jedem Tag in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen getötet wurde. Im Bereich der Sexualstraftaten wurden 2023 mehr als 52.000 Mädchen und Frauen Opfer von Vergewaltigung, sexueller Belästigung oder Nötigung, ein Anstieg von 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Hälfte der Opfer war hier den Angaben zufolge jünger als 18 Jahre alt. Im Bereich „Häusliche Gewalt“ wurden mehr als 180.000 weibliche Opfer gezählt, das heißt, 180.000 Frauen wurden von ihrem Partner geschlagen oder verprügelt und erstatteten danach Anzeige – die meisten Opfer wagen den Gang zur Polizei nicht, weshalb das BKA auch 2023
erprügelt und erstatteten danach Anzeige – die meisten Opfer wagen den Gang zur Polizei nicht, weshalb das BKA auch 2023 von einer hohen Dunkelziffer ausgeht. Auch die Zahl der durch Partner oder Ex-Partner getöteten Frauen ist im Vergleich zum Vorjahr erheblich gestiegen. Die Zahlen entstammen dem erstmals erstellten Lagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“, das die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Die Grünen) zusammen mit dem Vizepräsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Michael Kretschmer, am Dienstag in Berlin vorstellten.Der Freitag: Frau Felbinger, Sie sind Geschäftsführerin der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen, die seit 30 Jahren Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen anbietet. Jetzt, wo wir die aktuellen Zahlen vorliegen haben: Überrascht Sie der Anstieg der Zahlen bei Gewalttaten gegen Frauen? Doris Felbinger: Nein, wir beobachten in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg. Auch bei uns an der Hotline gegen häusliche Gewalt, die in Berlin erreichbar ist, merken wir, dass Frauen dort vermehrt anrufen, aber auch Unterstützerinnen, die von betroffenen Frauen berichten. Die polizeilichen Zahlen steigen, da vermutlich das Anzeigeverhalten steigt. Wir sehen aber trotzdem erst die Spitze des Eisbergs, der noch viel größer ist.Von den 360 Femiziden wurden laut Lagebericht 155 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Im Vergleich: 2022 waren es 133 Frauen. Ein deutlicher Anstieg. Ja, das ist fast ein Femizid pro Tag. Leider überrascht mich das nicht, es bedrückt mich eher und macht mich und uns sehr wütend. Denn daran arbeiten wir ja eigentlich, dass diese Zahlen zurückgehen. Jetzt sehen wir gerade das Gegenteil.Wie erklären Sie sich diese gestiegenen Zahlen?Ich denke, wir sind mit etwas konfrontiert, was wir schon länger beobachten: Der Hass gegen Frauen steigt. Wir haben eine deutliche Tendenz, dass der Antifeminismus auf dem Vormarsch ist und das auf vielen Ebenen: einerseits mit der digitalen Gewalt, aber auch durch die Incel-Bewegung oder aus dem rechten Spektrum. Wir haben einen gesellschaftlichen Backlash zu konstatieren, gegen den wir uns deutlich zur Wehr setzen müssen. Die sogenannte Istanbul-Konvention, einem internationalen, rechtsverbindlichen Instrument zur Prävention und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, ist in Deutschland seit 2018 in Kraft. Reicht das aus? Oder: Wie kann man diesem Anstieg politisch und gesellschaftlich entgegenwirken?Dass die Istanbul-Konvention ratifiziert ist, bedeutet ja nicht, dass alle Maßnahmen umgesetzt sind. Es gibt in den verschiedenen Bundesländern die Landesaktionspläne – da ist teilweise schon einiges auf den Weg gebracht, aber wir haben noch viel Luft nach oben. Wenn wir uns die Zahlen anschauen zu den Frauenhausplätzen und dem Bedarf, dann ist eine deutliche Aufstockung für Beratungsstellen und Präventionsangebote notwendig. Aber auch an Fortbildungen für verschiedene Berufsgruppen, bei der Polizei, in der Justiz, bei Lehrkräften. Hier sollte das Thema Partnerschaftsgewalt in die Ausbildung-Curricula. Was wir vor allem brauchen, ist ein gesellschaftliches Bewusstsein darüber, dass wir alle uns engagieren müssen: Wir brauchen noch mehr Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Wie meinen Sie das?Damit meine ich, dass nicht nur Frauen vorrangig gegen Gewalt an Frauen kämpfen. Und dass nur Frauen sich schützen müssen. Auch Männer sollten sich gegen Gewalt aussprechen. Wir müssen verstehen, dass Gewalt keine Lösung ist, nicht in Partnerschaften, und auch nicht in anderen Kontexten. Diese Zahlen, die wir hier sehen, beruhen immer noch auf einem strukturellen, patriarchalischen System.Würde es denn auch helfen, wenn man diese Gewalttaten und Femizide viel stärker juristisch ahndet?Tatsächlich würde es schon helfen, wenn Femizide öfter nicht mehr als Totschlag oder versuchter Totschlag, sondern tatsächlich als Mord verurteilt werden würden. Weil sie aus Frauenhass oder aus einem Gefühl der Überlegenheit und der Machtdemonstration, also aus einem patriarchalischen Verständnis heraus, herrühren. Interessant ist hierbei, dass das Lagebild des BKA darauf hinweist, dass die überwiegende Zahl der Opfer und Tatverdächtigen deutsche Staatsangehörigkeit hat.Wir müssen verstehen, dass es nicht „die anderen“ sind, die Frauen töten, weil kulturalistisch angenommen wird, dass es nur in bestimmten Communitys vorkommt. Auch bei deutschen Tätern ist der Hintergrund, dass diese Person Macht ausüben will, die Frau als Eigentum betrachtet. Da liegen die gleichen Strukturen drunter, an die müssen wir ran. Gewalt gegen Frauen geht durch alle Schichten und durch alle Hintergründe?Bestimmte Fälle werden stärker in der Presse dargestellt und vieles wird immer noch verharmlosend als Beziehungsdrama oder Bluttat bezeichnet. Es wird nicht aus Liebe getötet, es geht tatsächlich um Hass und Machtausübung gegen Frauen. Das ist der Punkt, den wir bekämpfen müssen. Bekämpfen, wie kann das aussehen?Nicht, indem Frau flüchten und sich Schutz suchen müssen und wir immer mehr Frauenhausplätze bauen. Das wird uns am Ende nicht helfen. Sondern?Helfen wird nur eine starke Präventions- und Bildungsarbeit. Denn die Gesellschaft leidet darunter. Auch Männer und vor allem Kinder. Kinder, die mitbetroffen sind und die Gewalt erleben und erlernen, leider. Und das müssen wir aufbrechen. Wie leisten Sie Präventionsarbeit?Wir haben einen wichtigen Baustein: Wir gehen an Schulen, vor allem an Grundschulen, wo wir mit unserem Projekt „Gewalt kriegt die rote Karte“ nicht nur mit Kindern, sondern auch die Eltern und Lehrkräfte einbeziehen. Dieses Projekt würden wir gerne ausdehnen, aber wir haben eine Warteliste bis Anfang 2026. Es ist deutschlandweit tatsächlich das einzige Projekt dieser Art. Wünschenswert wäre, dass es diese Art von Präventionsprojekten flächendeckend für weitere Schulen in Deutschland geben könnte.Mit dem Gewalthilfegesetz, das die Familienministerin Lisa Paus noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen wollte, sollten Betroffene einen Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz in Fällen von Gewalt erhalten. Der Bund sollte Frauenhausplätze mitfinanzieren, da aktuell 15.000 Plätze fehlen. Was meinen Sie, wird das Gesetz nach dem Bruch der Koalition noch kommen? Wir brauchen jetzt das Gewalthilfegesetz – jetzt. Damit Frauen rechtlich und finanziell abgesichert sind, und Betroffene häuslicher Gewalt Schutz und Unterstützung erhalten, niedrigschwellig und kostenfrei. Die Umsetzung darf nicht an politischen Machtspielen scheitern. Denn Gewaltfreiheit ist ein Menschenrecht. Frauenrechte sind Menschenrechte.