Mit ihrem neuen Buch weckt uns Katja Petrowskaja aus dem Schlaf der Verdrängung all des Leids in ihrer Heimat
In Katja Petrowskajas Texte schwingt immer die Fassungslosigkeit über den Krieg mit
Foto: Roman Pilipey/AFP/Getty Images
Es ist eine Zumutung im buchstäblichen Sinne, ein hartes und zutiefst trauriges Buch, eines, das keinen Lichtstreif am Horizont gewährt, aber dafür umso ehrlicher ausfällt: Katja Petrowskajas Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg. 1970 in Kiew geboren, verfolgt die heute in Berlin wohnende Schriftstellerin den Krieg in ihrem Heimatland von Anfang an aus der geografischen Distanz. Ihre Gedanken sind hingegen ganz nah bei den Angehörigen und Freunden zu Hause. Was diese Ambivalenz mit sich bringt, wie sich Bilder der Zerstörung Leib und Seele einschreiben – davon gibt die Autorin seit dem ersten Tag der russischen Invasion in ihren hier gesammelten Kolumnen (für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) Kunde. Sie bilden eine Chronologie des
eine Chronologie des Schreckens, deren einzelne Stationen stets eine Fotografie zum Ausgangspunkt haben.Wir blicken auf brennende Gebäude und in müde Gesichter von Kindern, die ihre Brüder und Schwestern beerdigen mussten. Markerschüttert schauen wir auf eine auf einem Tuch aus dem Haus getragene Seniorin oder gottverlassene Tiere. Am beklemmendsten muten jedoch all die Aufnahmen der Gesichter bereits Verstorbener an. Petrowskajas Texte dazu zeugen immer von Fassungslosigkeit. Sie beschreibt unentwegt, wie irreal ihr der Konflikt vorkommt, und ringt mit ihrem „antrainierten Emotionspanzer“, den sich die meisten Menschen im Westen angesichts der täglich auf sie einprasselnden Aufnahmen wohl ebenso zugelegt haben.Dass sich hierbei Redundanzen ergeben, mag einem als Leser zunächst missfallen. Dahinter verbirgt sich jedoch eine passende Komposition der Texte. „Ich schreibe schon zum dritten Mal über eine alte Frau bei der Evakuierung, als ginge es im Krieg um solche Babuschkas, als wären sie das Hauptziel“, hält die Autorin fest, „alles wiederholt sich im Krieg, auch die Bilder, und am Ende bleibt ein Mensch am Ende seines Lebens, der von jungen fürsorglichen Händen weggetragen wird, dorthin, wo die Babuschka weiterleben kann.“Durchbrochen wird dieser Kreislauf durch kurze Momente des Innehaltens – wenn die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin beispielsweise über ein Dorf in den Bergen oder einen blühenden Park erzählt. Oder auch zu Beginn des Buches, als sie sich im georgischen Trusso-Tal befindet und eine Schafsherde bewundert. Lange hält jene Ruhezeit – exemplarisch für all die kurzen Zäsuren in ihren finsteren Moritaten – nicht an. Sie weiß: Hier, inmitten der scheinbaren Idylle, verlief „die Hauptstraße vieler Kriege“, zumeist verursacht durch russischen Imperialismus. Und schon kippt auch dieses Landschaftsbild. Bereits am nächsten Tag bemerkt Petrowskaja einen blutgetränkten Hügel. Ein Opferfest mit getöteten Tieren hat stattgefunden und verweist symbolisch auf die Gräuel, die in der Ukraine noch folgen sollten.Dem Anschein nach also ein durchkuratierter Band, stimmig in der Anordnung. Doch seine Exzellenz liegt nicht allein in seiner stringenten Architektur begründet, sondern manifestiert sich vor allem dort, wo die studierte Slawistin ihr persönliches Ringen offenlegt, sich weniger als Autorin denn als Betroffene zu erkennen gibt. Dann zeigt sie sich „empört über die Jahre der Appeasement-Politik, (…) empört über die Sozialdemokratie mit ihren halbgaren Maßnahmen und Beschwichtigungen, um bloß Putin nicht zu beleidigen und zu provozieren“.Zugegeben, nicht an jedem Punkt mag jeder Leser ihre Haltung teilen. So dürfte ihre Bewertung der Zwangsmobilisierung insbesondere von Männern in der Ukraine als „unvermeidlich“ manchem durchaus negativ aufstoßen. Doch mit derlei Positionierungen verlässt sie hier und da die rein sachliche Argumentation zugunsten einer Perspektive der Mitfühlenden und Involvierten. Der Krieg und seine Gewalt werden dadurch aus der Abstraktion der TV-Bilder geholt und zur existenziellen Erfahrung. Nahbar wird dieses Buch überdies, indem die Schriftstellerin ihre eigenen Schuldgefühle darüber, nicht immer selbst vor Ort zu sein, zum Thema macht. Sie schreibt über innere Widersprüche und stellt als ansonsten eloquente Romancière sogar ihre Erzählkunst infrage.Die Grausamkeiten in ihrem Land konfrontieren sie mit der „Unmöglichkeit der Worte“. Hervor tritt eine Sprachkrise, wie sie auch zahlreiche Autoren der Vergangenheit befiel. Man denke nur an Paul Celan und Ingeborg Bachmann, die im Schatten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust unentwegt nach einer Form für das Unfassbare und Unbegreifbare suchten. Selbstkritisch betont Petrowskaja in diesem Kontext, „dass auch mein Versuch, den Tod in meine Ästhetik einzubauen, dazu beiträgt, den Krieg zu normalisieren“.Ohne Kunst geht es aber eben doch nicht. Sei es die Bilderserie einer ukrainischen Fotokünstlerin zu Opfern mit Prothesen oder eine Installation von Oleksiy Sai und Vitaliy Deynega, in der sie zerschossene Straßenschilder zu dem monumentalen und äußerst ironischen Schriftzug „I’M FINE“ zusammengesetzt haben – stets erweist sich ästhetisches Schaffen als Überlebensmittel. Dasselbe gilt dementsprechend für die aus verschiedenen Quellen stammenden Aufnahmen im Band: „Über Fotografie aus dem Krieg zu schreiben war nur eine von vielen Formen des Widerstands. Damit wollte ich mir die Anwesenheit bewahren, eine scharf fokussierte Präsenz (…) Ich entschied mich gegen die Fotos der Zerstörung und Vernichtung, die in den Medien kursierten, um einen privaten Blick zu bewahren und mich dem ‚Kriegskonsum‘ zu widersetzen.“Sich das Private, nein, besser: das Menschsein nicht nehmen zu lassen und damit die eigene Würde und jene der angegriffenen Bevölkerung zu verteidigen, darin besteht letztlich die Ambition dieses so kraftvollen wie verzweifelten literarischen Appells. Hört nicht auf, mitzufühlen, euch zu engagieren! Werdet des Hinschauens nicht überdrüssig! Denn „Müdigkeit ist eine Waffe des Krieges“, so das Credo. Man kann sich ihm nach der Lektüre nicht entziehen. Es zwingt zur Resonanz, mit Dringlichkeit und viel Herz.Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg Katja Petrowskaja Suhrkamp 2025, 217 S., 25 €