In Serbien haben Studierende eine Demokratiebewegung in Gang gesetzt, deren Sog auch viele Ältere erfasst hat – und über die Landesgrenzen hinaus hoffen lässt. Ein Essay der kroatisch-deutschen Schriftstellerin Alida Bremer


Studentischer Protest mit Eiern, Mehl und Farbe

Foto: Nenad Mihajlovic/AFP/Getty Images


Als am 1. November 2024 kurz vor Mittag das Betonvordach des frisch renovierten Bahnhofsgebäudes in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, auf die wartenden Reisenden stürzte, schien das ohnehin mit Tragödien und chaotischen Zuständen gefüllte Fass der serbischen neueren Geschichte zum Überlaufen gekommen zu sein. Und als am 15. März 2025, während der 15 Schweigeminuten für die 15 Opfer, das unheimliche Geräusch einer Schallkanone die riesengroße Protestversammlung beinahe in eine weitere Tragödie stürzte, und als dann noch das Innenministerium dreist behauptete, weder die Schallkanone zu besitzen noch diese eingesetzt zu haben, war jedem klar, dass der Weg zu einer gerechten und freien Gesellschaft noch sehr la

#252;rzte, und als dann noch das Innenministerium dreist behauptete, weder die Schallkanone zu besitzen noch diese eingesetzt zu haben, war jedem klar, dass der Weg zu einer gerechten und freien Gesellschaft noch sehr lang sein wird.Die vielen Lügen und teilweise verbrecherischen Versuche seitens der Regierung von Präsident Aleksandar Vučić, den friedlichen studentischen Protest zu stören und zu sabotieren, stehen in einer verhängnisvollen Kontinuität. Die Meldungen über Korruptionsaffären der serbischen Eliten, ihre mafiösen Verstrickungen und demagogischen Spagate zwischen proklamierter Demokratie und autoritären Entscheidungen reihen sich seit Jahren aneinander.Genau dagegen und für Freiheit und Gerechtigkeit sind die Studierenden serbischer Universitäten im November 2024 auf die Straßen gegangen. Aus ihrer Empörung ist eine erstaunlich kreative, kluge, mutige, humorvolle und friedliche Protestbewegung entstanden.Proteste in Serbien: Bis in die entlegensten DörferMonatelang beharrten sie auf der schlichten, aber deutlichen Forderung, die Institutionen sollten im Einklang mit den Gesetzen handeln und die Verantwortlichen für den Pfusch am Bahnhofsbau müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Monatelang gingen sie zu Fuß von Ort zu Ort, sie marschierten Hunderte von Kilometern, und das bei jedem Wetter. Sie suchten auch die entlegensten Dörfer auf, um ihre Forderungen zu verkünden. Überall wurden sie von den Bewohnern beköstigt und beherbergt, von lokalen Schulchören mit Liedern und Blumen empfangen, von Großmüttern und Großvätern mit Tränen und Umarmungen. Wo sie eintrafen, gab es ein treuherziges Volksfest, und stets wurde der Toten von Novi Sad gedacht und der Wille geäußert, Serbien in ein besseres Land zu verwandeln.Angesichts der enormen Auswanderungswellen von jungen und gebildeten Menschen aus diesem Land klangen ihre Worte wie eine verheißungsvolle Botschaft. Dabei wirkten sie so bescheiden, wohlerzogen und höflich, dass sie die Herzen nicht nur in Serbien, sondern auch in den Nachbarländern eroberten. Mit all diesen Ländern hat Serbien in den Neunzigern kriegerische Auseinandersetzungen geführt, und es war das erste Mal nach sehr langer Zeit, dass Hoffnung auf Veränderung und Versöhnung aufflackerte. In Ljubljana, Zagreb und Sarajevo wurden genauso Solidaritätskundgebungen organisiert wie überall auf der Welt, wo eine große serbische Diaspora lebt.Bemerkenswert viele Bürgerinnen und Bürger Serbiens haben sich seit November den Studierenden angeschlossen, weshalb es immer wieder heißt, die Wende stehe kurz bevor. Ein Problem aber stellt die Schwäche der demokratischen Opposition dar, sodass unklar bleibt, wer zu dieser Wende führen könnte. Die Studierenden selbst verstehen sich nicht als politische, sondern als moralische Kraft, was die Gefahr mit sich bringt, dass ihre Bewegung am Ende ins Leere läuft. Sie treffen ihre Entscheidungen in den blockierten Fakultäten auf basisdemokratisch organisierten Plenen, distanzieren sich jedoch von allen politischen Parteien und bestehen darauf, dass die vorhandenen Institutionen ihre Arbeit verrichten sollen: die Korruption bekämpfen, die kriminellen Vorfälle und etwaige Fehler der Verantwortlichen aufarbeiten, die strafrechtliche Verfolgung aufnehmen.Serbien ist in Skandalen gefangenDoch die Machthaber verfügen über eine gigantische, mit allen Mitteln ausgestattete Trickkiste und sind entschlossen, ihre Macht zu verteidigen. Inzwischen hat es unter dem Druck der Protestbewegung sogar einige Rücktritte gegeben, die allerdings eher wie beschwichtigende Kosmetik anmuten, vor allem, wenn man sich die großspurigen Tiraden des Präsidenten anhört.Die serbische Gesellschaft ist zerrissen zwischen einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit und einer wenig versprechenden Zukunft, zwischen Treue zu Russland und Lippenbekenntnissen zur EU, zwischen chinesischen oder arabischen Investitionen und europäischen Entwicklungsfonds, zwischen der Leugnung der Verantwortung für die Kriege der Neunziger und den Folgen dieser Kriege. Sie ist gefangen in einer Gegenwart voller Skandale, die begleitet sind vom Getöse der propagandistischen Medien.Immer am Rande des möglichen erneuten Aufflammens alter Konflikte – in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo und in Montenegro – hat diese Gesellschaft seit dem Zerfall Jugoslawiens bis heute keinen inneren Frieden und keine Orientierung finden können. Nach der Tragödie von Novi Sad war sie wieder einmal in Trauer vereint, allerdings nicht die gesamte Gesellschaft. Den Riss in jenem Bahnhofsdach, der zum Tod von 15 Menschen führte, kann man auch als eine Metapher verstehen.Im Schmerz und in der Empörung über die bisweilen grotesken Zustände ist zwar die Mehrheit der Bevölkerung vereint, aber auf der anderen Seite steht Aleksandar Vučić mit all seinen staatlichen und parastaatlichen Strukturen und seiner weitverzweigten, gut dotierten oder ideologisch verblendeten Gefolgschaft.Aleksandar Vučić: Serbiens Mann der VergangenheitVučić ist nicht nur symbolisch der Vertreter der eingangs benannten Kontinuität von Korruption und autoritärem Gebaren, sondern auch faktisch: Er war von 1993 bis 2008 Mitglied der ultranationalistischen Radikalen Partei, für die er 1998 bis 2000 Informationsminister unter Präsident Slobodan Milošević war. Im Jahr 1995 drohte er im serbischen Parlament, dass man für jeden getöteten Serben 100 bosnische Muslime umbringen würde; er wechselte 2008 zur Fortschrittspartei und seit 2014 steht er abwechselnd als Premierminister oder als Staatspräsident an der Spitze des Landes.Es ist ein Rätsel, wieso die europäischen Entscheidungsträger (Angela Merkel gehörte zu den wichtigsten unter ihnen, Olaf Scholz folgte ihr, als er mit Serbien im Namen der EU das Lithium-Abkommen vereinbarte) diesem Mann ihr Vertrauen schenken. Sie ähneln dem Alkoholiker aus dem Kleinen Prinzen, der traurig ist, weil er trinkt, weshalb er noch mehr trinkt. Sie setzen auf Aleksandar Vučić in der irrigen Annahme, dass er für Stabilität im labilen Gefüge der Region sorgt; doch diese Labilität ist die Folge jener Kontinuität, für die er steht.Es ist eine Kontinuität, die zurückreicht bis zu den Kriegsverbrechen (1991 – 1999), bis zur Ermordung des proeuropäischen Premierministers Zoran Đinđić (2003), und die sich weiter wie eine rote Spur zu den ungeklärten Morden an Politikern und Journalisten schlängelt, zu den Auseinandersetzungen krimineller Clans bis hin zu den beiden Amokläufen mit vielen Toten im Frühjahr 2023.Die Protestierenden in Serbien werden liebevoll „unsere Kinder“ genanntUnd im November 2024 ist nicht nur das Vordach des schlecht rekonstruierten Gebäudes zusammengestürzt, die Polizei und die von den ominösen Geheimdiensten rekrutierten Hooligans versuchten die Proteste und Trauerversammlungen mit Gewalt zu verhindern und zu zerschlagen, Autos rasten in Demonstrationszüge, es gab erneut Verletzte. All das wurde von unzähligen Auftritten des Präsidenten begleitet, der in all den von ihm selbst gelenkten Medien Reden voller Eigenlob, Lügen, Versprechen, Drohungen und verschwörerischer Beschuldigungen hielt.Es ist dieser Kontrast, in dessen Licht man die Proteste betrachten sollte: Auf der einen Seite steht ein friedlicher und auf Recht und Gerechtigkeit bestehender Aufstand, auf der anderen eine verhängnisvolle Kontinuität der Ehrlosigkeit. Bisher haben sich die Studierenden viel Respekt verschafft; nicht selten kann man auch von führenden Intellektuellen des Landes hören, wie bewundernswert die Klugheit und Beständigkeit dieser jungen Menschen sei. Man nennt sie grundsätzlich liebevoll „unsere Kinder“, und es sind tatsächlich auch Eltern und Großeltern bei den Protesten anwesend, es ist eine generationsübergreifende Rebellion.„Unsere Kinder“ zeigen allen, dass es doch eine Zukunft für Serbien gibt. Eine besondere serbische Tradition spielt dabei eine wichtige Rolle: die Hochachtung vor Bildung und vor guter Erziehung. Es sind Werte, die altmodisch anmuten, die sich jedoch als stärkste Tugenden in einer von Missständen erschöpften Gesellschaft entpuppt haben. Doch ob daraus eine Kraft erwachsen kann, die die notwendigen Veränderungen erzwingen kann, ist noch nicht abzusehen, so wünschenswert es auch wäre. Vergangenen Freitag ist das 16. Opfer gestorben. Ein junger Mann, er war schwer verletzt.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert