Der Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen analysiert in seinem Buch „Mann am Steuer“ faktenreich, wie maskuline Strukturen die Verkehrswende blockieren
Was harmlos aussieht, ist ziemlich teuer: Im Verkehr verursachen Männer durch ihr Verhalten jährliche Mehrkosten in Höhe von 13 Milliarden Euro
Foto: Jochen Tack/Imago
Bekannt wurde Boris von Heesen durch seine genauen Berechnungen darüber, „was Männer kosten“. Jetzt nimmt sich der Wirtschaftswissenschaftler und Männerberater den „Mann am Steuer“ vor, der mit überdimensionierten Fahrzeugen, aggressivem Verhalten und unangemessener Lautstärke die Straßen beherrscht. Und er untersucht, wie von Männern dominierte Netzwerke in Konzernen, Politik und Verbänden eine zukunftsfähige, gerechte Mobilität verhindern.
der Freitag: Herr von Heesen, als Buchautor und Vortragsredner sind Sie viel unterwegs – auch mit dem eigenen Wagen?
Boris von Heesen: Sehr selten fahre ich mit dem Auto, und wenn doch, nutze ich Carsharing, weil ich kein eigenes mehr besitze. Ich versuche meine Ziele mit der
e ich Carsharing, weil ich kein eigenes mehr besitze. Ich versuche meine Ziele mit der Bahn, einem Faltrad und zu Fuß zu erreichen. Ähnlich organisiere ich auch den Alltag in der Stadt, in der ich lebe. Ab und zu muss ich mal zu Ikea, einen Großeinkauf für eine Feier erledigen oder eine Tante auf dem Land besuchen. Für diese wenigen Anlässe ist aber der Besitz eines eigenen Automobils nicht notwendig.In einem solchen Umfeld zu leben, ist ein (meist städtisches) Privileg. In vielen ländlichen Regionen sind die Menschen ohne motorisiertes Fahrzeug kaum mobil.Keine Frage, ich empfinde es als Privileg, in einem Umfeld zu leben, in dem ich kein Auto benötige. Manche Menschen, vor allem zur Lohnarbeit pendelnde Männer, sind aufgrund der fehlenden Infrastruktur auf Automobile angewiesen. Allerdings wurde in den letzten 15 Jahren versäumt, viele ländliche Gebiete besser anzubinden. Dabei geht es nicht darum, den Pkw ganz zu verbannen. Es braucht aber eine sinnvolle Vernetzung von Automobil, sicheren Radwegen und einem gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr. Männer in der Verkehrspolitik in Bund, Ländern und Kommunen haben zu verantworten, dass diese Chance bisher vertan wurde.Ich beschäftige mich nicht nur mit autofahrenden Männern, sondern auch mit Männern am Steuer in Politik, Autoindustrie, Verbänden, Wissenschaft oder LobbyorganisationenSimpel gestrickte Sachbücher behaupteten einst, Frauen könnten nicht einparken, unter Männern kursierte gar der sexistische Spruch „Frau am Steuer, Ungeheuer“. Mit Ihrem Titel „Mann am Steuer“ spielen Sie auf solche Klischees an?Natürlich schwingt bei dem Titel auch mit, dass viele Männer immer noch glauben, sie wären grundsätzlich die besseren Autofahrer. Wie ich im Buch nachweise, ist das Gegenteil der Fall. Allerdings beschäftige ich mich nicht nur mit autofahrenden Männern, sondern auch mit Männern am Steuer in Politik, Autoindustrie, Verbänden, Wissenschaft oder Lobbyorganisationen. Sie alle arbeiten im Vorder- und im Hintergrund eng zusammen und ermöglichen dem Automobil Vorfahrten, die es längst nicht mehr geben dürfte.Warum lieben manche, wenn auch nicht alle Männer, ihre Autos so abgöttisch?Meiner Einschätzung nach eignet sich nichts so sehr für die Fortschreibung männlicher Stereotype wie das Automobil. Männer werden von klein auf bis ins hohe Alter von Rollenbildern und Stereotypen geprägt: Sei laut, sei durchsetzungsstark, sei ein Fels in der Brandung, erlange Ansehen und unterdrücke, wo immer es möglich ist, deine Gefühle. Genau diese Erzählung wird mit einem lauten, leistungsstarken und mit Status aufgeladenen Auto, das den Mann wie eine Ritterrüstung umschließt, fortgeschrieben. Deshalb haben besonders die großen, teuren Fahrzeuge eine scheinbar magnetische Anziehungskraft auf Männer.Ihre Spezialität als Referent zu Männerthemen sind ökonomische Berechnungen. Welche volkswirtschaftlichen Kosten verursacht die männliche Leidenschaft für das Auto?Auf der Basis von Kostendaten der Bundesanstalt für Straßenwesen und den Statistiken der Verkehrsunfälle von Destatis weise ich nach, dass Männer jährliche Mehrkosten in Höhe von knapp 13 Milliarden Euro verursachen. Wie auch in meinem letzten Buch sind die Zahlen allerdings nur ein Trick, um die Aufmerksamkeit auf die Schieflage der Geschlechter zu lenken. Menschen werden durch Verkehrsunfälle schwer verletzt, sterben sogar – wenn wir das in Zukunft verhindern wollen, kommen wir nicht umhin, die Geschlechterfrage zu stellen.Welche Statistiken meinen Sie denn konkret?Es fängt im Grunde bei den Fahrzeugen an, die Männer durch die Gegend steuern. 80 Prozent in der höchsten Leistungsklasse ab 2.000 Kubikmeter Hubraum sind auf Männer zugelassen. Kein Wunder, dass Männer mit den großen und leistungsstarken Autos dann auch die Statistiken des Flensburger Kraftfahrt-Bundesamtes anführen. 78 Prozent der erfassten Geschwindigkeitsverstöße entfallen auf Männer und unglaubliche 92 Prozent der jährlichen Führerscheinentzüge. 70 Prozent der Unfälle mit schwerwiegenden Sachschäden werden von Männern im Pkw verursacht und über 78 Prozent der Unfälle mit getöteten Unfallopfern.„Patriarchales Fahren“, wie Sie es nennen, ist eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer?Unter diesem Begriffspaar verstehe ich Männer, die ihre PS-starken Boliden rücksichtslos und risikoreich über die Straßen steuern und dabei andere Verkehrsteilnehmende und auch sich selbst unnötig gefährden. Es wird überholt, wo nicht überholt werden sollte. Es werden systematisch Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtet und es wird getrunken und trotzdem gefahren. Männer verursachen fünfmal mehr Unfälle unter Alkoholeinfluss im Vergleich zu Frauen. Patriarchales Fahren ist eine Form ungesunden männlichen Verhaltens, das seine Ursache in überholten Rollenklischees hat.Der Männeranteil springt auf nahezu 100 Prozent, wenn man die Szenen der illegalen Autorennen und des Auto-Posings analysiertSie prangern die „absurden Auswüchse“ des Kults um das Auto an. Was ist gemeint?Ein wenig im Schatten der Debatte um eine gerechte Mobilitätswende haben sich Parallelwelten entwickelt, die fast ausschließlich von Männern aufgebaut und besucht werden. Hier finden sich absurde Auswüchse maskuliner Autofantasien. Die Aktivitäten des Verbands der Automobiltuner – ja, so etwas gibt es! – werden beispielsweise durch Polizei, Verkehrsministerium und den Deutschen Verkehrssicherheitsrat unterstützt. Letzterer ist übrigens die vom Bund und den Unfallkassen finanzierte Organisation zur Förderung der Verkehrssicherheit. Der Männeranteil springt auf nahezu 100 Prozent, wenn man die Szenen der illegalen Autorennen und des Auto-Posings analysiert. Dann gibt es noch die Welt des Motorsports, hier werden keinesfalls nur klassische Autorennen organisiert. Nein, der wichtigste Lobbyverband ADAC veranstaltet in der sogenannten Pocket Bike Serie auch Motorradrennen für Kinder ab sechs Jahren, die so früh an den Wahnsinn herangeführt werden sollen.Das Bundesverkehrsministerium hat noch nie eine Frau geleitet, meist führte es ein autofixierter CSU-Mann. Welche Folgen hat das?Die Besetzung des höchsten Postens im Ministerium wird nicht alles verändern, hat aber eine enorm wichtige Signalwirkung. Männliche Politiker betrachten die Welt vorwiegend aus der Perspektive der Erwerbsarbeit, und mit der ist meist das Pendeln mit dem Auto zur Arbeit verbunden. Diese Sichtweise befördert Investitionen in die Infrastruktur der Straßen und blendet andere Verkehrsmittel und Formen der Fortbewegung aus. Menschen, die keinen Führerschein besitzen oder die sich kein Auto leisten können, werden systematisch benachteiligt. Besonders Frauen, die in der Care-Arbeit immer noch die meiste Verantwortung übernehmen, haben andere Wegemuster und Mobilitätsketten als Männer. Die Verkehrspolitik hat deren Bedürfnisse in den letzten 25 Jahren sträflich vernachlässigt. Gerade die CSU-Minister Ramsauer, Dobrindt und Scheuer – erst kürzlich auf dem Nockherberg als die Dreifaltigkeit der Inkompetenz geschmäht – haben zwischen 2010 und 2022 im Vergleich zur Schiene mehr als doppelt so viel Geld in den Straßenbau investiert. Menschen, die regelmäßig mit der Bahn fahren müssen oder es wollen, kennen die Folgen dieser Politik.In Deutschland gibt es eine mächtige Autolobby. Die Vorsitzende des Branchenverbandes ist derzeit aber erstaunlicherweise eine Frau, die frühere CDU-Politikerin Hildegard Müller. Hat das einen Kulturwandel ausgelöst?Hildegard Müller ist zwar die erste Frau an der Spitze des Verbands der Automobilindustrie, aber ein gutes Beispiel dafür, dass das nicht reicht, um den Wandel anzustoßen. Der Verband wird von drei Männern in der Geschäftsführung operativ geleitet. Im 19-köpfigen Präsidium sitzen nur fünf Frauen und auch die Fachabteilungen werden vorwiegend von Männern besetzt. Einen Kulturwandel haben die wenigen Frauen leider nicht ausgelöst, wenn man sich die Modellpolitik der letzten Jahre anschaut, die den Konzernen aktuell auf die Füße fällt. Immer größere, teurere, mit Status aufgeladene Fahrzeuge, die immer noch mit fossilen Kraftstoffen betrieben werden, verlieren international an Bedeutung.Worin liegen die wichtigsten Blockaden in der Verkehrspolitik?Es ist die sogenannte Autonormativität, ein Begriff, der von den Wissenschaftlerinnen Urmina Goel und Ulrike Mausolf entwickelt wurde. Er meint, wie unhinterfragt Autos unsere Mobilität bestimmen. Das Automobil definiert die Norm. Alle anderen Formen der Fortbewegung, ob zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, werden als Abweichung von dieser Norm betrachtet. Autonormativität äußert sich auch in komplett zugeparkten Wohnvierteln, voll von Fahrzeugen, die nur herumstehen und an die wir uns gewöhnt haben. Autonormativität bewirkt, dass immer breitere Straßen und größere Parkplätze gebaut werden. Gleichzeitig sind die Ampelphasen für zu Fuß gehende Menschen häufig zu kurz; oder es gibt, so wie in meiner Heimatstadt, unter den mehr als Tausend Straßen nur drei ausgewiesene Fahrradstraßen. Solange wir diese tief in unserem Denken und Handeln verankerte Haltung nicht durchbrechen, wird sich nichts bewegen. Im Buch schreibe ich von patriarchaler Autonormativität, weil es Männer sind, die diesen Prozess gestalten und davon profitieren.Feminismus bedeutet für mich, Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen in unserer GesellschaftWas müsste sich künftig ändern? Was sind Ihre Lösungen?Es gibt einen bunten und vielfältigen Strauß an Wegen aus der maskulinen Autozentrierung hin zu einer für alle Menschen gerechten Mobilitätswende. Ich möchte zwei Lösungen herausgreifen. Der wichtigste und besonders einfach umzusetzende Vorschlag ist Information: Wir müssen darüber aufklären, wie extrem nicht nur Politik, Autoindustrie oder die zuständigen Behörden, sondern auch die Verkehrs- und Unfallstatistiken von Männern dominiert werden. Die meisten Menschen wissen nicht, wie deutlich Mobilität in Deutschland aus männlicher Perspektive gestaltet wird. Ein zweiter, etwas komplexerer Vorschlag ist die Etablierung einer lebenslangen Mobilitätserziehung, die ich im Buch Mobil2045 nenne. Die Idee basiert auf der Einrichtung einer Organisation vergleichbar der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Mit ihr sollen Menschen vom Bobbycar bis zum Rollator mit wichtigen Informationen zu einer gesunden, nachhaltigen und gerechten Mobilität versorgt werden – nicht nur regelmäßig in der Schule, auch beim Erwerb des Führerscheins, im Studium, im Betrieb oder beim Übergang in den Ruhestand.„Die Mobilitätswende ist feministisch“, schreiben Sie. Ist es nicht zu einfach, alle Hindernisse einseitig dem meist männlichen Geschlecht der Akteure anzulasten?Der Begriff des Feminismus wird meiner Meinung häufig falsch verstanden. Für mich bedeutet er Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen in unserer Gesellschaft. Demnach verbirgt sich hinter einer feministischen Mobilitätswende die Idee, dass Fortbewegung angemessen und gerecht an den Bedürfnissen aller am Verkehr teilnehmenden Menschen ausgerichtet wird. Damit ist nicht gemeint, dass Autos abgeschafft werden sollen oder Männer in der Zukunft der Verkehrspolitik keine Rolle mehr spielen dürfen. Im Gegenteil: Wir brauchen die männliche Perspektive auch weiterhin, aber nun mal nicht ausschließlich. Eine dringend notwendige feministische Mobilitätswende muss unbedingt von allen Menschen gestaltet werden, die sich im öffentlichen Raum bewegen.Placeholder image-1Boris von Heesen geboren 1969, hat Betriebswirtschaft studiert. Er arbeitet als Männerberater und geschäftsführender Vorstand eines Jugendhilfeträgers in Darmstadt. Bekannt wurde er durch sein Buch Was Männer kosten, das den hohen gesellschaftlichen Preis männlichen Fehlverhaltens im Detail dokumentiert. Seine aktuelle Veröffentlichung Mann am Steuer. Wie das Patriarchat die Verkehrswende blockiert, ist im Heyne Verlag erschienen (288 S., 18 €).