Genealogie und Ahnenforschung liegen im Trend. Eigentlich albern, fand unsere Autorin – bis sie entdeckte, was ihr Vorfahr John Thorpe im 16. und 17. Jahrhundert Weltbewegendes geschaffen hat. Eine Spurensuche


Ohne nicht zu denken, aber es gab mal eine Welt ohne Hausflure

Foto: Carl de Keyzer/Magnum Fotos/Agentur Focus


Unter Freunden und im Familienkreis neigte man in den 1970er Jahren dazu, sich gegenseitig mit Urlaubs-Diashows zu quälen. Langweilige Abende, an denen ein nicht enden wollender Strom aus identischen Stadtansichten und namenlosen Bergpanoramen präsentiert wurde. War es früher der Anblick eines Diaprojektors, der das Herz gefrieren ließ, so gibt es heute diesen Satz, der das Gleiche bewirkt: „Ich habe ein bisschen in meiner Familiengeschichte herumgeforscht und du wirst nie erraten, was ich herausgefunden habe!“

Als Nächstes wird ein Stammbaum ausgerollt, auf dem Jacks und Noreens verzeichnet sind, die zu einigen Charles und Marys führen, die auf immer weiter entfernten Ästen hocken und dabei allesamt herzlich wenig über die lebenden und at

Übersetzung: Katharina Stahlhofen

den und atmenden Menschen aussagen, die gerade neben einem sitzen.Für mich wurde die Sache vor einiger Zeit zu einem häuslichen Problem, denn mein historisch interessierter Mann nimmt Genealogie sehr ernst. Fairerweise muss man sagen, dass er die Ahnenforschung schon als Hobby entdeckte, bevor der genetische Aspekt mit den ersten kommerziellen DNA-Analysefirmen hinzukam.Wirklich peinlich aber ist, dass letztendlich auch ich dem Hype erlegen bin. Denn kürzlich entdeckte ich etwas Überraschendes über einen meiner Vorfahren. Eines Abends im vergangenen Jahr wurde mir ein Dokument gezeigt, das beweist, dass mein Großvater väterlicherseits – von dem ich immer wusste, dass er über einem Tabak- und Zeitungsladen im Osten Londons aufgewachsen war – unmittelbar von einem Barbier aus der Fleet Street abstammte. Ich zuckte leicht mit der Augenbraue angesichts der grausigen Legende von Sweeney Todd, dem sagenumwobenen Teufelsbarbier, der angeblich auf jener Straße sein Unwesen getrieben haben soll. Mäßig interessant.Erst die nächste Enthüllung über meinen Familienzweig der Thorpes lässt wirklich aufhorchen: Es scheint, dass einer meiner direkten Vorfahren, ein angesehener elisabethanischer Architekt und Landvermesser namens John Thorpe, niemand Geringeres ist als der Mann, dem die Erfindung des Flurs zugeschrieben wird. Ja, des Hausflurs. Nicht der Fensterbank oder des Abflussrohrs, sondern des Flurs.Wahrhaft englischer StilZu John Thorpes Lebzeiten waren die Räume der herrschaftlichen Häuser in England alle um eine zentrale Eingangshalle herum angeordnet und ein Zimmer führte direkt ins nächste. Zwar gab es zu jener Zeit einige Gebäude mit klosterähnlichen, überdachten Gängen um zentrale Innenhöfe herum, doch vor dem eisigen Klima des Nordens boten diese nicht ausreichend Schutz.Römische Villen in Großbritannien verfügten zwar auch über mediterrane Kolonnaden, die zu einer Seite hin offen waren, doch es brauchte John Thorpe aus Northamptonshire, um die Idee eines innen gelegenen Flurs zu popularisieren – und sie sozusagen zum Selbstläufer zu machen.Der um 1565 geborene John Thorpe gehörte zu einer Reihe von Steinmetzen und Baumeistern, die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in Northamptonshire tätig waren und zu meinem Glück heute wieder Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses sind. Er war der Nachfahre von drei Generationen von Bauleuten, die alle Thomas Thorpe hießen, und sowohl sein Großvater als auch sein Vater waren Steinmetze. Im Alter von 20 Jahren zog John Thorpe nach London, arbeitete als Assistent eines königlichen Landvermessers unter Königin Elisabeth I. und wurde schließlich zum führenden Experten seines Fachs am Hof.Unter Expert:innen ist John Thorpe eine große HausnummerEs existiert ein von ihm zusammengestelltes Album seiner Originalzeichnungen, das heute im Besitz des Sir John Soane’s Museum in London ist. Dieses Book of Architecture of John Thorpe enthält 295 Zeichnungen, die größtenteils zwischen den 1590er und 1620er Jahren entstanden sind und 168 – hauptsächlich englische – Gebäude umfassen. Es sind akribische Vermessungen und Skizzen der großen Privathäuser jener Zeit, von denen einige als Blaupause für die Häuser dienen sollten, die er hoffte bauen zu dürfen.Thorpes architektonischer Ruf ist so groß, dass sich seine Statue unter den sechs großen Architekten befindet, die die Außenfassade des Victoria and Albert Museum in London schmücken. Dort steht er, eine Rolle Zeichnungen in der Hand, gekleidet in Wams, Kniehose und einen schicken Hut. Für Manolo Guerci, den derzeit wichtigsten Kenner von Thorpes Werk, ist er eine Persönlichkeit, die man heute genauso schätzen sollte wie Sir Christopher Wren, den Architekten der St. Paul’s Cathedral, oder Thorpes berühmten Zeitgenossen Inigo Jones.„Man kann die Bedeutung des Thorpe-Albums im Soane-Museum und das umfassende Verständnis der Epoche, das es vermittelt, nicht hoch genug schätzen“, erklärte mir Guerci, als ich ihn auf einen Kaffee traf. Es fühle sich seltsam an, ergänzte er, jemanden zu treffen, dessen Nachname ständig in seinem Kopf herumschwirre.Entscheidend sei, so Guerci, dass es Thorpe war, der als Erster das prachtvolle Herrenhaus in der Form entwarf, wie wir es heute kennen. Er schuf eine Blaupause für das englische Landleben, die weltweit Verbreitung fand. Auf der Website des Soane-Museums schreibt Guerci: „Thorpes Einfluss in einem prägenden Moment der britischen Architektur ist von größter Bedeutung. Diese Epoche markiert die Entstehung eines wahrhaft englischen Stils, der sich durch eine eklektische und hochgradig experimentelle Mischung aus lokalen und kontinentalen Einflüssen auszeichnet.“Wieso bin ich nicht reich?Guerci zeigt in seinem 2021 veröffentlichten Buch The Great Houses of the Strand, wie Thorpes Ästhetik das Erscheinungsbild des Zentrums von London prägte – zumindest bis zum Großen Brand von 1666. Doch es gibt viele unbeantwortete Fragen, die Guerci in seiner Forschung weiterhin antreiben, etwa welche Entwürfe tatsächlich von Thorpe selbst stammen und auch welche Skizzen zu seinem eigenen Vergnügen entstanden sind, ohne dass ein offizieller Auftrag vorlag.Meine eigenen Nachforschungen führten mich zu der Frage, ob die Erfindung von etwas so Grundlegendem wie dem Flur hätte patentiert werden können. Bin ich insgeheim Erbin eines Hausflur-Vermögens? Von einem Experten musste ich erfahren, dass Thorpe mit seiner Innovation leider ein wenig zu früh dran war für das Patentamt.Trost finde ich höchstens in der Auskunft, dass der Flur genau die Art von Lösung für ein technisches Problem war, die später einen rechtlichen Schutz verdient gehabt hätte. Sein größter Vorteil bestand übrigens damals darin, dass das Dienstpersonal unbemerkt in und aus Räumen huschen konnte, ohne die Eigentümer zu stören, die von einem Salon zum anderen flanierten.Eine Zwölf-Generationen-KetteEs sieht also ganz so aus, als bestünde der einzige Profit, den ich aus meiner Entdeckung schlagen kann, darin, dass ich einen Einblick in die Vergangenheit gewinnen konnte. Was, das muss ich leider zugeben, nun mal der Reiz der Ahnenforschung ist.Alex Graham, der Schöpfer der überaus erfolgreichen BBC-Show Who Do You Think You Are?, in der Familien seit 2004 ihren Stammbaum erforschen lassen, gesteht, dass auch er anfangs skeptisch war. „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich an das Projekt geglaubt habe, aber die Wahrheit ist, dass ich zwar wusste, dass es eine interessante Art war, Geschichte zu erzählen, aber seine Fähigkeit, Emotionen zu wecken – nicht nur bei den Teilnehmern, sondern auch beim Publikum –, hat mich überrascht. Und wenn man mir damals gesagt hätte, dass die Sendung 20 Jahre später immer noch im Fernsehen zu sehen ist …!“Für ihn ist es immer noch erstaunlich, dass Menschen eine so starke Verbindung zu Vorfahren spüren, ohne sie je kennengelernt zu haben. „Ich glaube nicht, dass das genetisch bedingt ist, ganz im Gegenteil. Meine Vermutung ist, dass der Aufstieg der Ahnenforschung mit dem Niedergang der herkömmlichen Religion zusammenfiel, die traditionell dazu beigetragen hat, uns ein Gefühl dafür zu geben, woher wir kommen und wer wir sind.“ Graham vermutet auch, dass die zeitgleiche Lockerung von familiären Bindungen „emotionale Lücken geschaffen hat, die die Genealogie zu füllen hilft“.Mir persönlich ist klar, dass die Zwölf-Generationen-Kette, die mich mit John Thorpe verbindet, meinen gesellschaftlichen Status um keinen Deut verbessert. Aber sie verschafft mir ein unlogisches Gefühl von Stolz. Es amüsiert mich, wenn ich daran denke, dass ich als kleines Mädchen mit Filzstiften Entwürfe für prachtvolle Häuser auf dem Land gezeichnet habe, in denen ich eines Tages zu leben hoffte.



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Von Veritatis

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