Die Zeit nach der Geburt gilt als etwas Besonderes. Für Frauen bedeutet sie jedoch oft auch akute soziale Isolation


Hinter den Kindern ist die Mutter kaum noch sichtbar

Foto: Alena Zhandarova


So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Rebecca Reinhard ist noch erschöpft von der Geburt, als die Zimmertür aufgeht und Besuch eintritt – der Besuch gilt jedoch nicht ihr und ihrer kleinen Tochter, sondern ihrer Zimmernachbarin, deren Familie sich um sie versammelt und sie umsorgt. Nur einmal kommt der Vater ihrer Tochter vorbei. Als Reinhard das Krankenhaus verlässt, kehrt sie in ein leeres Haus zurück. Ihr sechsjähriger Sohn ist bei ihren Eltern, von dem Vater ihrer Tochter lebt sie getrennt. Am dritten Tag allein zu Hause hält sie es nicht mehr aus. Auch wenn sie sich noch geschwächt fühlt, ruft sie ihre Eltern an: Wenn sie ihren Sohn nicht bald wiedersehe, vergehe sie vor Einsamkeit.

Für Mütter bedeuten Schwangerschaft und Gebur

und Geburt eines Kindes ein besonders hohes Risiko für psychische Erkrankungen. Ein Risikofaktor dafür ist Einsamkeit. Bereits vor der Geburt berichten 35 Prozent der Schwangeren, dass sie sich manchmal einsam fühlten. Auch danach fühlt sich etwa jede dritte Mutter unter 25 Jahren häufig einsam.„Einsamkeit beschreibt das subjektive Empfinden, zu wenige Kontakte zu haben. Dieses gefühlte Defizit wird von den Betroffenen als Schmerz wahrgenommen“, sagt Claudia Neu. Die Soziologin forscht an der Georg-August-Universität in Göttingen zu Einsamkeit und Raumstrukturen. „Einsame Menschen müssen aber nicht zwangsläufig sozial isoliert sein“, fügt Neu hinzu. Auch Mütter, die nicht sozial isoliert sind, können sich einsam fühlen, etwa wenn sie sich nicht unterstützt oder verstanden fühlen. Frauen nennen den Identitätswandel als Mutter, fehlende soziale Kontakte und den Druck, Erwartungen zu erfüllen, als Gründe für ihre Einsamkeit. Oft ziehen sie sich dann weiter zurück. Beziehungsschwierigkeiten oder gar Trennungen verstärkten ihre Einsamkeit.Es bleibt nur die Mutterrolle„Zwar führt eine hohe Beziehungsmobilität nicht unbedingt zu mehr Einsamkeit, weil sie generell die Beziehungsqualität anhebt, da Partner untereinander die Beziehung verhandeln und notfalls beenden können. Doch gerade für Alleinerziehende ist es schwierig, einen Anschluss auf den Partnermärkten zu finden“, sagt der Soziologe Janosch Schobin, der an der Universität Kassel Einsamkeit und Familienstrukturen untersucht. Alleinerziehenden fehle es oft an Zeit oder finanziellen Ressourcen, sich neue Partner:innen zu suchen, wodurch sie in eine Isolationsspirale gerieten.Ein Gefühl, das Reinhard gut kennt. Die 49-jährige Ergotherapeutin ist stolz auf ihre kleine Familie. Dennoch hat sie manchmal das Gefühl, nicht vollständig zu sein – vor allem sonntags fühlt sie sich einsam, wenn andere Familien den Tag gemeinsam verbringen. Im Alltag mit zwei Kindern bleibt für sie selbst oft kein Raum. Dabei war Reinhard früher sehr aktiv: Neben ihrer Leitungsposition in einer ergotherapeutischen Praxis hat sie im Theater gespielt und getanzt.„Es ist relativ typisch, mit Kind erstmal Freunde zu verlieren. Bei Alleinerziehenden kommt der Verlust der Arbeitswelt hinzu, was noch immer häufig schambelastet ist. Fällt die Arbeit weg, fehlen damit nicht nur die Kontakte auf der Arbeit, sondern auch die Anerkennung“, erklärt Schobin. Mit dem Kind brechen viele andere Beziehungen weg, wodurch oftmals nur noch die Rolle als Mutter übrigbleibe, in die sich viele Frauen dann gedrängt fühlen.Mit diesem Gefühl ist auch die Juristin Eva-Maria Vogt vertraut: Als sie vor zwölf Jahren ihr erstes Kind bekommt, ist sie alleinerziehend und die Erste in ihrem Freundeskreis mit Baby. Ihr erstes Kind ist ein Schreibaby und so wippt Vogt mit ihm auf dem Arm auf einem Pezziball herum, während sich ihre Freund:innen abends treffen. In der Zeit überkommt sie immer wieder das Gefühl, hinter ihrem Baby zu verschwinden. Egal, ob im Restaurant oder unterwegs in der Bahn, überall, wo sie hinkommt, geht es nur noch um ihr Kind.Bei Einsamkeit komme ein komplexes Geflecht an sozialstrukturellen Ursachen zusammen, die Einsamkeit wahrscheinlicher machen: etwa Armut, Arbeitslosigkeit oder der Bildungsgrad, sagt Schobin. Alleinerziehende in Deutschland tragen immer noch ein hohes Armutsrisiko: Jede vierte alleinerziehende Person gilt als einkommensarm, dabei sind etwa 70 Prozent erwerbstätig. Oft liegt das an fehlenden Unterhaltszahlungen, wie auch Reinhards Fall zeigt: Von keinem der beiden Väter ihrer Kinder erhält sie derzeit Unterhalt. Seit der Geburt ihrer Tochter ist sie deswegen auf Sozialleistungen angewiesen.„Manche Ehemänner isolieren ihre Frauen ganz gezielt“Mütter mit Migrationserfahrung sind aufgrund von Sprachbarrieren und des Verlusts des familiären Netzwerkes besonders betroffen. „Manche Ehemänner isolieren ihre Frauen ganz gezielt, um sie enger an sich zu binden. Sie verbieten ihnen, Deutschkurse zu besuchen oder verhindern den Kontakt zu anderen“, sagt Tülay Timur. Als ehrenamtliche Stadtteilmutter bei der Diakonie im Hamburger Bezirk Osdorf arbeitet sie regelmäßig mit migrierten Müttern. Ohne Familie, Freund:innen und Deutschkenntnisse bleibt ihnen nur der Kontakt zum Partner und den Kindern.Timur beobachtet, wie sehr die Mütter unter der gezielten Isolation durch ihren Partner leiden. Sie ermuntert sie dann, an Aktivitäten teilzunehmen, oder vermittelt sie an einen Deutschkurs. Das sei aber nur möglich, wenn Betroffene auch finanziell abgesichert sind. Ohne Geld ist die gesellschaftliche Teilhabe nicht möglich. Auch deswegen sind Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status häufiger von Einsamkeit betroffen. Timur ist es wichtig, dass die Frauen gleich von Beginn an jemanden an ihrer Seite wissen. Doch nicht immer kann sie einen Kontakt zu den Müttern vermitteln, denn es mangelt an Ehrenamtlichen, die sich engagieren.Diese Erfahrung musste auch Reinhard machen. Als ihre Tochter sieben Monate alt ist, findet sie über den Verband Caritas eine Familienpatin, die ihre Kinder einmal die Woche mit zu sich nach Hause nimmt. Ein Sechser im Lotto für sie, in der Zwischenzeit kann sie kurz durchatmen und wichtige Termine wahrnehmen. Drei Jahre soll das Projekt laufen, doch nach nur einem Jahr wird es ohne Weiteres eingestellt. In akuten Situationen können Unterstützungsangebote wie die Frühen Hilfen, Stadtteilmütter oder die Familienpat:innen ein guter erster Anlaufpunkt sein. Diese Angebote sind jedoch oft zeitlich begrenzt. Stadtteilmütter besuchen die Familien zehn bis maximal zwanzig Mal. Bestehe über diese Zeit hinweg weiterhin Bedarf, vermittelt Timur die Familien an andere Angebote weiter. Für Mütter, die sich stigmatisiert und isoliert fühlten, helfen zudem Gruppen, in denen sich Betroffene untereinander austauschen können.Auch den beiden Alleinerziehenden Reinhard und Vogt hilft die Vernetzung mit anderen Elternteilen: Kurz nach der Geburt treten sie dem Verband Alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) bei. Seit zwei Jahren engagiert sich Vogt zudem als ehrenamtliches Aufsichtsratsmitglied: „Wir Mütter müssen anfangen, draußen zu leben und die Kinder viel mehr mitzunehmen. Je mehr das machen, desto mehr trauen sich auch.“ Als sie vor zwei Jahren ihr jüngstes Kind bekommt, geht sie nur noch vier Monate in Elternzeit, ehe sie mit reduziertem Stundensatz wieder zu arbeiten beginnt – für sie der entscheidende Faktor.Für Soziologin Neu ist die Bekämpfung von Einsamkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Wir sind heute nicht mehr so aufeinander angewiesen wie früher. Diese gegenseitige Abhängigkeit verwechseln viele mit einem positiven Gemeinschaftsgefühl. Man mochte sich dadurch nicht unbedingt mehr, aber es gilt trotzdem: Zusammen ist man weniger einsam.“



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Von Veritatis

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