Mit dem „Werk der Woche“ stellt die „Freie Presse“ Kunst im öffentlichen Raum vor. Heute: „95 Thesen der Kunst“ von Jana Gunstheimer und Tom Ackermann in Zwickau (2022).
Diese Kunst kann man leicht übersehen: mit großen Schriftplakaten beklebte Schaufenster, die damit undurchsichtig werden, an den Galerieräumen des Vereins „Freunde aktueller Kunst“ in Zwickau, Hauptstraße 60/62. Sieht ein bisschen aus wie Werbung, und „irgendwas mit Kunst“ könnte man im Vorübergehen denken. Doch wie so oft, lohnt sich genaueres Hinschauen. Denn hier lauern mal nicht die üblichen Sprüche: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ oder „Kunst kommt von Können“ oder „Jeder ist ein Künstler“ oder „Ist das Kunst oder kann das weg?“.
Was ist Kunst?
Obwohl es genau um diese Fragen geht: Was ist Kunst? Wie sollte sie sein? Was kann sie bewirken? Wer bestimmt, was „gute“ und was „schlechte“ Kunst ist? Und es geht um die unzähligen, letztlich nie ganz befriedigenden, einander oft widersprechenden Antworten auf diese Fragen. Die Plakate gehen auf eine Aktion von Jana Gunstheimer und Tom Ackermann an der Bauhaus-Universität Weimar zurück. Dort wurden seit Januar 2019 unter dem Motto „95 Thesen der Kunst: Ein Kompass zur Desorientierung“ wöchentlich neue Thesen zur Kunst öffentlich ausgeschlagen. Ein Sammelsurium von Ausschnitten aus „Manifesten, Handlungsanweisungen, Slogans, Denkansätzen, Forderungen, Lebenskonzepten, Selbstversuchen und Visionen aus der Geschichte und Gegenwart der Kunst (und anderer Bereiche)“, so die Initiatoren, die zum „Selber denken“ anregen sollen. Die Drucke brachte Jana Gunstheimer im Frühjahr 2022 mit nach Zwickau, wo sie ihre Ausstellung „Zwickauer Fried Chicken“ in den Räumen der „Freunde aktueller Kunst“ begleiteten und nun auch darüber hinaus zu sehen sind.
Widersprüchlich wie das Leben
Die Zitate reichen von Bonmots wie „Wenns bergab geht, läufts am besten“ (von der Hallenser Künstlerin Franca Bartholomäi) oder „Mit Kunst spielt man nicht“ über nur auf den ersten Blick banale Klassiker wie „Zerstörung ist schwierig, ja, genauso wie Erschaffung“ (von Antonio Gramsci) oder „Der Mensch ist ein Störfaktor. Deswegen muss er irgendwann weg, wenn er nicht völlig mechanisiert und damit von seinen eigenen Bedürfnissen und Qualitäten entleert werden kann“ (von Heiner Müller) bis zu frommen Wünschen wie „Easy is the new difficult – ich wünsche mir eine Kunst, die meine Mutter versteht“ (vom Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith) oder Warnungen wie „Alles Didaktische hat den Tod der Kunst zur Folge, und zwar unmittelbar“ des Schriftstellers Ulrich Peltzer. Wobei es oft auch Zitate gibt, die eher das Gegenteil sagen und wobei man immer auch widersprechen kann. Womit das Kunstprojekt das Leben selbst abbildet, das genau so vielstimmig, bunt, widersprüchlich und unvorhersehbar ist wie die Kunst.
Und für das Leben gilt in großen Teilen, was der Schweizer Theaterregisseur und Autor Milo Rau der Kunst bescheinigt: „Alles ist bereits da gewesen und von der guten alten Kulturindustrie und ihrem kleinen Bruder, der bildungsbürgerlichen Kongress-, Kunst- und Festivalkrake augenblicklich verramscht worden.“ Und Rau weiß auch, wie er in seiner „Kritik der postmodernen Vernunft“ unter dem Titel „Was tun?“ schreibt, „dass wir in einer unvollkommenen Welt leben, in der es bereits heroisch zu nennen ist, wenn man sich hartnäckig gegen die täglichen Zumutungen des Kapitalismus sträubt“. Mit diesem Wissen hätte Milo Rau gut in die Anfang der 2000er-Jahre von Jana Gunstheimer gegründeten Kunst-Organisation namens „Nova Porta“ gepasst, „eine Organisation, die sich mit der Bewältigung von Risiken befasst. Am Scheidepunkt der Zivilisation nutzen wir die Chance der Umstrukturierung, Neuordnung und Besetzung. Wir eliminieren Ursachen von Bedrohungen, wir machen Krisen nutzbar, wir schaffen Platz für Abenteuer. Zerstörung ist Schöpfung.“
Künstlerische Aktivitäten
Jana Gunstheimer wurde 1974 in Zwickau geboren, studierte in Leipzig, Athen, Ohio in den USA und in Halle/Saale Kunstgeschichte und Ethnologie, Grafik und Malerei. Ihre Arbeiten, oft preisgekrönt, wurden in vielen Galerien innerhalb und außerhalb Deutschlands gezeigt. Seit 2016 ist sie Professorin für experimentelle Malerei und Zeichnung an der Bauhaus-Universität Weimar, wo auch Tom Ackermann studierte, der an den „95 Thesen der Kunst“ mitarbeitete. Nach diesem eher selbstreflexiven Projekt hat Jana Gunstheimer an der Bauhaus-Universität mit [email protected], dem „Institut für regionale Realitätsexperimente“, gegründet in einem Buswartehäuschen, eine weitere offene Form für künstlerische Aktivitäten geschaffen, die nun wieder mehr in die Gesellschaft wirken sollen, aber ganz ohne „sozialpädagogische Ansätze“, wie sie sagt.
Veränderungen, noch dazu zum Positiven hin, brauchen eben oft Umwege – zum Leidwesen aller Extremisten. Dafür sind die „Thesen der Kunst“ ein guter Kompass.