Mindestens einmal im Jahr deklarieren die größeren Feuilletons deutschen Hip-Hop für tot. Und mindestens einmal im Jahr feiert das Feuilleton das derzeit stärkste Musikgenre ab, als wäre es nie totgesagt gewesen. Nach den „Schmuddelkindern“ des Berliner Straßenraps (Aggro Berlin, Bushido), kamen die „Alternativen“ (Marteria, Casper), dann die Renaissance des Straßenraps mit Leuten wie Haftbefehl. 2022 gab nun OG Keemos zweite Platte „Mann beißt Hund“ Anlass zur Feierei. Und auch, wenn man dem Feuilleton fast immer, wenn es um aktuelle Einflüsse geht, oft mehrjährige Verspätung vorwerfen kann – die Lobeshymnen stimmen im Fall des Mainzers. OG Keemo bringt nicht nur Straßenrap auf einem sehr hohen lyrischen Niveau, sondern präsentiert sein Album wie eine Art Film.
Doch es ist mehr als das, vor allem in Zeiten der Schnelllebigkeit scheint es nicht selbstverständlich, dass ein Künstler so detailgetreu an die Arbeit geht. Musikalisch ordnet sich die Platte natürlich nicht im Mainstream ein. Sie ist vielleicht das beste Stück Zeitgeschichte, wenn es um die ewige Ambivalenz zwischen „Straße bleiben“ und „der Straße den Rücken kehren“ geht. Karim Joel Martin, so OG Keemos bürgerlicher Name, hat mit seiner Musik den Absprung von Kriminalität und aus den tristen Blocks geschafft: Trotzdem ist diese Vergangenheit ein Teil von ihm, trotzdem gibt es Weggefährten, die seinen Wandel nicht verstehen. Trotzdem sind diese Leute auch immer noch seine Freunde.
Soundtechnisch wühlt OG’s Produzent Funkvater Frank zwischen Sade und 50 Cent, zwischen Jazz und Grime, zwischen den goldenen 90ern und neueren Trapsounds. Somit wird der inhaltlichen Widersprüchlichkeit auch noch ein passender Klangteppich gegeben. Deutscher Hip-Hop mag für viele Außenstehende immer wieder tot sein. „Mann beißt Hund“ ist das beste Beispiel dafür, dass es bei allen kommerziellen Zügen, die das Genre in den letzten Jahren erlebt hat, immer noch Platz für Vielseitigkeit gibt. Und dass diese Vielseitigkeit auch erfolgreich sein kann: Insgesamt acht Wochen hielt sich dieses Album auf Platz 2 der Charts, jeder der Songs verzeichnet mehrere Millionen Streams. Wenn das bei dieser grandiosen Kunst überhaupt Messwerte sein sollten.
Unsere Jahrescharts wurden von den Musikkritikerinnen und -kritikern der „Freien Presse“ zusammengestellt. Alle Rezensionen unter » www.freiepresse.de/alben22
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