Aufgesprengte Briefkästen, angesteckte Müllcontainer, Straßenschlachten mit den Jungs aus der Nachbarplatte. Highlight des Abends: Das traditionelle Raketenzielschießen. Erst auf die Balkone gegenüber. Mit fortgeschrittener Alkoholisierung gern auch auf bewegliche Ziele.

Nein, das ist nicht die hundertste Beschreibung der Silvesternacht in Berlin-Neukölln 2022/2023. Stattdessen versuche ich mir die Jahreswechsel meiner Jugend zu vergegenwärtigen. Viele meiner Erinnerungen dem aus Erfurt der Mitte/Ende-1990er ähneln den Bildern, die seit anderthalb Wochen in Medien rauf- und runterlaufen. Auch was die Protagonisten angeht: pubertierende Macker mit viel Alkohol- und Geltungsbedürfnis und wenig Verantwortungsgefühl.

Kollektive Amnesie zum Jahres

Amnesie zum JahreswechselNur an eine Sache kann ich mich partout nicht erinnern: öffentliche Empörung über unsere Taten. Forderungen nach Gesetzesverschärfungen. Debatten über „gescheiterte Integration“, „kulturelle Überfremdung“ und „Phänotypen“. Es sei eine „komplette Parallelgesellschaft herangewachsen, die mit unseren Staatsorganen, der Polizei und unserem Bildungssystem nichts zu tun hat“. Dieser Satz von CDU-Politiker Jens Spahn hätte zweifellos auch gut auf uns zugetroffen. Nur gesagt hat ihn damals niemand. Genauso wenig wie nach unseren Vornamen oder unserer Hautfarbe zu fragen. Das dürfte vor allem daran liegen, dass wir uns in einer Sache dann doch von unseren Gesinnungsgenossen in Neukölln unterschieden: Unser „Partymob“ war nahezu ausschließlich weiß.Wie rassistisch ist die Silvesterdebatte? Auch darüber wird aktuell vehement diskutiert. Die Antwort lässt sich schnell finden, indem wir uns unserer eigenen Silvestergeschichte erinnern. Randale, Plünderungen, Angriffe auf Polizei und Sanitäter. All das hat in Deutschland beste Silvestertradition. Dazu brauchen Sie nicht meinen Anekdoten zu glauben, es reicht ein Blick ins Archiv der Tagesschau. Unzählige Beiträge bezeugen dort, dass das Gerede von einer „neuen Dimension“ der Gewalt, für die Zugewanderte verantwortlich seien, nur unter einer Bedingung aufgeht: wenn wir es mit einer rassistisch gefilterten Amnesie über unserer eigenen Neujahrstraditionen verbinden.Der deutsch-deutsche Partymob von 1989Schon die erste gesamtdeutsche Silvesterrandale stellte die heutigen Ereignisse in den Schatten: Während das Playback von David Hasselhoffs Looking for Freedom lief, nutzte ein deutsch-deutscher Partymob die neugewonnene Freiheit, um Mauer, Brandenburger Tor und ein Gerüst des DDR-Fernsehens zu stürmen. Als Letzteres unter dem Andrang zusammenbrach, stützten dutzende Menschen in die Tiefe. Eintreffende Rettungsfahrzeuge wurden mit Feuerwerkskörpern beschossen und blieben mit platten Reifen liegen. Die Bilanz der Berliner Neujahrsfeier 1989/1990: ein Toter, mindestens 135 Verletzte und eine zerstörte Quadriga.Auch in den Folgejahren blieben „Ausschreitungen und Gewaltexzesse“ feste Rubrik fast jeder Neujahrsnachrichten. 1993 gingen in Berlin „hunderte randalierende Jugendliche mit Feuerwerkskörpern, Steinen und Flaschen“ auf Polizisten los, während in Kaiserslautern Rocker und Skinheads aufeinander einschlugen. 1994 und 1995 lieferten sich in Bremen hunderte „Randalierer“ Straßenschlachten mit der Polizei. Eine Silvestertradition, die dort übrigens schon seit Mitte der 1980er gepflegt wird. 1994/1995: Plünderungen und Gewalt gegen Polizisten in Passau und Eisenhüttenstadt. 1996/1997: ein Toter und fünf Verletzte bei Schießereien in Berlin. 1998/1999: hunderte Verletzte bei Ausschreitungen in Köln und Düsseldorf.Der Müll der Silvesternacht: RassismusUm es kurz zu machen: Es ist schwer, einen Jahreswechsel ohne Randale und Angriffe auf Polizisten zu finden. Und das trotz fehlender Smartphones und Dauerempörung auf Meinungsplattformen im Internet. Nur: anders als heute waren die Angriffe ohne nennenswerte migrantische Beteiligung wenige Tage später oft schon wieder vergessen. Nicht selten fiel sogar der beschwichtigende Hinweis, dass es trotz dieser oder jener Vorfälle doch ein „friedliches“ oder zumindest „normales“ Silvester gewesen sei.Der entspannte Umgang mit den eigene Jahresendexzessen änderte sich erst, als auch Menschen mit Migrationshintergrund das Kulturgut der deutschen Silvesterrandale übernahmen. Die Diskussion über Gewalt zu Silvester hat damit eben jene rassistische Abzweigung genommen, die uns von anderen Debatten (Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, Neutralität) schon vertraut ist: Ein gesellschaftliches Problem ist erst dann ein Problem, wenn man es Ausländern, Migrantinnen oder Muslimen zuschieben kann. Alles andere ist Kultur.„Sieg-Heil“-Rufe in BornaDieses Muster lässt sich übrigens sogar ganz ohne historische Rückschau erkennen. Oder haben Sie etwas von den Debatten über gescheiterte Integration gehört, nachdem 200 junge Männer in der diesjährigen Neujahrsnacht unter „Sieg-Heil“-Rufen im sächsischen Borna randalierten und eintreffende Polizisten mit Böllern und Raketen angriffen? Oder etwas von den Forderungen nach schärferen Gesetzen, nachdem in einem bayerischen Dorf 300 Partygänger Polizisten mit Flaschen und Böllern so massiv angegriffen hatten, dass diese sogar Unterstützung aus angrenzen Bundesländern holen musste? Nein? Gab es auch nicht. Also die Forderungen und Debatten. Die Gewalt gab es schon.Und auch in meiner alten Heimat Erfurt pflegt man weiterhin einen entspannten Umgang mit der Gewalt autochthoner Randalierer: 50.000 Euro Böller-Schaden an der Glasfassade des Stadttheaters, mehrere zerstörte Türen und Fenster auf dem Krankenhausgelände, 40 abgebrannte Autos auf einem Parkplatz am Rand der Stadt, Angriffe mit Messer und Schreckschusspistolen. Oder wie es die Lokalzeitung formulierte: eine „weitgehend ruhige Nacht“. Auch der Müll sei von der Stadtreinigung schon entsorgt worden. Nur der rassistische Müll, den uns der Jahreswechsel 2022/2023 hinterlassen hat, wird uns noch lange beschäftigen.



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Von Veritatis

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