Analyse Bodentrupppen auf der Krim oder Waffenstillstandslinie: Über die Aussichten im Ukraine-Krieg und eine UN-Resolution, die Hoffnung macht


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Ausgabe 05/2023

Granaten und Raketen, die die russische Armee bei ihrem Angriff auf die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw eingesetzt hat

Granaten und Raketen, die die russische Armee bei ihrem Angriff auf die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw eingesetzt hat

Foto: Aleksey Filippov/AFP/Getty Images

Es ging schneller als erwartet. Kaum war die Tinte unter der Liefervereinbarung für westliche Kampfpanzer trocken, meldete sich der stellvertretende Außenminister der Ukraine, Andrij Melnyk, und forderte nun auch Kampfjets, Kampfschiffe und U-Boote für sein Land. Es müssten, sagte er, „noch sehr viele Tabus gebrochen werden“, bis die Ukraine in der Lage sei, Russland militärisch niederzuringen. Melnyks Chef, Präsident Wolodymyr Selenskyj, pfiff seinen Vizeaußenminister nicht etwa zurück, nein, er setzte noch eins drauf und forderte neben Eurofightern und F-35-Kampfjets auch Langstreckenraketen. Diese könnten Atomsprengköpfe nach Moskau und Wladiwostok transportieren.

Das Trommelfeuer der Forderungen und das permanente Erhöhe

tern und F-35-Kampfjets auch Langstreckenraketen. Diese könnten Atomsprengköpfe nach Moskau und Wladiwostok transportieren.Das Trommelfeuer der Forderungen und das permanente Erhöhen des Einsatzes beeindruckt auch die Hasardeure im Westen. Schon redet der Außenpolitik-Experte der CDU, Roderich Kiesewetter, über die Notwendigkeit des Aufbaus einer „Kriegswirtschaft“, um den Waffennachschub für die Ukraine zu sichern, östliche NATO-Mitglieder verlangen, dass künftig sämtliche Bündnispartner mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihre Verteidigung ausgeben, und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verriet den Parlamentariern des Europarats auch den Grund dafür: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland.“Wo soll das alles enden?, fragen sich viele Bürger, deren Land schon zwei Weltkriege hinter sich hat. Lassen sich die Deutschen durch die fast wöchentlich gesteigerten Waffenforderungen Stück für Stück in einen dritten Weltkrieg zerren? Sind sie am Ende der Frosch, der nicht merkt, dass das Wasser im Glas immer heißer wird, weil die Zündler am Herd die Temperatur immer nur um wenige Grad erhöhen? Zwar gibt Bundeskanzler Olaf Scholz den besonnenen Staatsmann, aber der Glaube, dass sein jetziges Nein zu Kampfjets und Bodentruppen bei ansteigendem Druck Bestand haben wird, dürfte nicht allzu verbreitet sein. Denn entschieden wird, wie US-Präsident Joe Bidens stellvertretender nationaler Sicherheitsberater Jon Finer und der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der französischen Nationalversammlung, Thomas Gassilloud, übereinstimmend betonten, nach Kriegslage. Und die kann niemand vorhersagen, nicht einmal der britische Geheimdienst.Zwei Dominotheorien zum Verlauf des KriegesIm schlimmsten Fall wird der Krieg in einen Stellvertreterkrieg eskalieren wie in den 1950er Jahren in Korea und in den 1960er Jahren in Vietnam. Nur: Diesmal kämpfen nicht Demokratien gegen Kommunisten, sondern Demokratien gegen Autokraten. Fällt die Ukraine, warnen die NATO-Falken, fällt bald ganz Europa (Dominotheorie eins), also legt der Westen sein ganzes Prestige als weltpolitische Ordnungsmacht und seine ganze Glaubwürdigkeit als Schutzmacht der Bedrängten in diesen Kampf um Werte und Weltanschauungen. Ein Rückzug scheint nicht mehr möglich.Auch Russland kann nicht mehr zurück. Denn die Falken in Moskau wittern: Fällt die Krim, fällt bald ganz Russland (Dominotheorie zwei). Also wird Russland die ostukrainischen Volksrepubliken und die Krim ähnlich bedingungslos unterstützen wie China und Russland seinerzeit Nordvietnam und Nordkorea. Kamen in der Ukraine im ersten Kriegsjahr etwa 7.000 Zivilisten ums Leben, waren es in Korea am Ende 1,5 Millionen, in Vietnam 500.000. Großstädte wurden ausradiert, Wälder (in beiden Kriegen!) durch Napalm entlaubt, Ernten vernichtet, Infrastruktur und Industrie zerstört.Gelangen demnächst westliche Kampfpanzer und bald auch Bodentruppen auf die Krim (in Korea waren es zuletzt 340.000 UN-, in Vietnam 530.000 US-Soldaten), wird der Blutzoll gewaltig ansteigen. Und da keine Seite aus diesem Weltanschauungskrieg ohne Gesichtsverlust aussteigen kann, werden die Kämpfe an Brutalität zunehmen, in der aberwitzigen Hoffnung, eine Entscheidung oder eine gute Ausgangslage für Verhandlungen herbeibomben zu können. In Korea und Vietnam verhandelten die Konfliktparteien über Jahre, während nebenan, auf dem Schlachtfeld, trotzig weitergekämpft wurde. Die Gespräche verliefen meist zäh, weil sich beide Seiten mit unerfüllbaren Vorbedingungen blockierten. Auf dem Höhepunkt des Korea-Krieges musste der britische Premierminister Clement Attlee nach Washington pilgern, um Präsident Harry S. Truman und General Douglas MacArthur davon abzubringen, Nordkorea und China mit 50 Atombomben in die Steinzeit zu bomben. Angeblich soll MacArthurs Vorhaben nur eine Drohung gewesen sein, um die Gegenseite zum Einlenken zu bewegen. Auch in Vietnam wurde der Einsatz von Atomwaffen erwogen. Im Kampf um die Krim dürften die russischen Haudegen nicht anders denken.Doch stets mussten die Krieger am Ende einsehen, dass der Konflikt militärisch nicht zu lösen war und die Kosten den Nutzen weit überstiegen. In der Korea-Frage einigte man sich schließlich nach zweijährigen Gesprächen auf eine vorläufige Teilung des Landes, einige Sicherheitsgarantien, einen Gefangenenaustausch und eine Kommission, die den Waffenstillstand und die politischen Zusagen überwachen sollte. In Vietnam führten elf Jahre Krieg und vier Jahre Verhandlungen zu einem ähnlichen Abkommen. Wozu hatte man also gekämpft, fragten sich viele, wozu mussten so viele Soldaten und unschuldige Zivilisten ihr Leben lassen? Den 1973 erzielten Kompromiss hätte man – womöglich besser! – schon vor dem Krieg haben können, ohne Blutvergießen.UN-Resolution fordert VerhandlungenDie Frage ist also: Könnten Verhandlungen den Ukraine-Krieg beenden, bevor er weiter eskaliert? Gibt es eine (zumindest provisorische) Lösung, die beide Seiten akzeptieren? Hat man aus dem Verlauf früherer Kriege nicht doch ein paar Lehren gezogen? Oder sind Verhandlungen ohne Druck auf dem Schlachtfeld undenkbar? Wladimir Putin will seine Kriegsziele nicht aufgeben und der ukrainische Präsident hat Verhandlungen per Dekret verboten.Ganz unrealistisch ist eine Kontaktaufnahme dennoch nicht. Denn bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn hat die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution ES-11/1 vom 2. März 2022 einen Ausweg empfohlen. Zwar wurde der Inhalt der spektakulären Resolution in westlichen Medien extrem einseitig wiedergegeben – man hob vor allem die Verurteilung des russischen Angriffskrieges durch 141 der 193 UN-Staaten hervor –, doch das Kleingedruckte enthält durchaus eine Überraschung. In Punkt 8 der Resolution fordert die Generalversammlung die Konfliktparteien auf, „sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Umsetzung hinzuwirken“. Punkt 14 fordert noch einmal „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“.Nun werden kundige Völkerrechtler einwenden, die UN-Generalversammlung könne so viele idealistische Empfehlungen abgeben wie Sandkörner in der Sahara liegen, zuständig für eine Konfliktbeendigung sei allein der Sicherheitsrat, und dort blockiere Russland mit seinem Veto eine Lösung. Dieses Veto kann jedoch umgangen werden, und zwar durch die am 3. November 1950 anlässlich des Korea-Krieges beschlossene Resolution „United for Peace“. In ihr wird der Generalversammlung die Befugnis zur Einberufung von Dringlichkeitssitzungen erteilt, wenn der Sicherheitsrat durch ein Veto blockiert ist. Zwar kann die Generalversammlung keine militärische Friedenserzwingung beschließen, aber politische Maßnahmen kann sie durchaus ergreifen. Etwa die Bildung einer „UN Ceasefire Group“ aus nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, wie es Indien, Kanada und der Iran im Dezember 1950 versucht haben. Eine Garantie für das Erreichen eines Abkommens ist das nicht, aber einen Versuch wäre es wert. Brasilien als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats könnte in einer solchen Waffenstillstandsgruppe die Führung übernehmen.Eine UN-FriedenstruppeNimmt man die Verhandlungsergebnisse in früheren Kriegen als Maßstab, wird sich die Ukraine, obwohl eindeutig Opfer der russischen Aggression, auf einen schmerzlichen Kompromiss einlassen müssen. Die wichtigsten Punkte sind die Festlegung einer Demarkations- oder Waffenstillstandslinie, die Einrichtung einer demilitarisierten Zone, der Abzug aller fremden Streitkräfte, die Rückführung der Kriegsgefangenen und die Überwachung des Waffenstillstands durch eine neutrale Friedenstruppe der UN. Anschließend käme das zu Unrecht geschmähte Minsker Abkommen wieder auf die Agenda.Doch möglicherweise ist eine friedliche Lösung erst nach einem Machtwechsel in den USA 2024 und nach einer Tauwetterperiode in Russland realisierbar. In der Korea-Frage erleichterten der Wahlsieg des Republikaners Dwight D. Eisenhower im November 1952 und der Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 die Unterzeichnung eines Friedensabkommens enorm.



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Von Veritatis

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