Interview Seit fünf Jahren gilt in Deutschland die Istanbul-Konvention gegen häusliche und geschlechtspezifische Gewalt. Die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. Ein Gespräch mit der Erziehungswissenschaftlerin und Frauenhausleiterin Suna Tanış


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Ausgabe 09/2023

Es braucht nicht nur mehr Frauenhausplätze, sondern bessere

Es braucht nicht nur mehr Frauenhausplätze, sondern bessere

Foto: Imago / Funke Foto Services

Fünf Jahre ist es her, seit die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen vor häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland in Kraft trat. Im Oktober vergangenen Jahres zog das zuständige Gremium im Europarat eine bittere Bilanz. Zu wenig Plätze, keine zentrale Koordinierung, keine erkennbare Strategie. Dabei geht es nicht um gut gemeinte Ratschläge, sondern einen völkerrechtlichen Vertrag – dessen Einhaltung die Ampelregierung im Koalitionsvertrag versicherte. Was hat sich getan? Suna Tanış, Erziehungswissenschaftlerin und Leiterin des Frauenhauses Oberhausen, im Interview

Mit Ihrer Kampagne „Rauf die Plätze, fertig, los!“ machen Sie auf Probleme, insbesondere den Platzmangel im Frauenhaussystem

machen Sie auf Probleme, insbesondere den Platzmangel im Frauenhaussystem aufmerksam. Worum geht es konkret?Suna Tanış: Es geht vor allem um die verschiedenen Zugangshürden. Wir haben nach wie vor keine kostenfreien Frauenhausplätze. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: bei uns in Oberhausen kostet die Miete 42 Euro pro Tag pro Person. Für eine Frau mit zwei Kindern bedeutet das Kosten von 126 Euro pro Tag. Jetzt werden viele sagen, das kann man ja gar nicht bezahlen – genau so ist es auch. Deswegen müssen die Frauen Leistungen beantragen. Es sind aber nicht alle leistungsberechtigt. Studentinnen, die Bafög bekommen, haben beispielsweise kein Anrecht darauf.Was passiert mit diesen Frauen?Die werden dann wiederum von Spenden getragen. Aber wenn wir Betroffenen sagen müssen, dass sie kein Anrecht auf Leistungen haben, kommt es vor, dass sie lieber zum Gewalttäter zurückkehren, als Spenden anzunehmen. Denn es ist natürlich eine Demütigung. Die kommen zu uns und möchten Hilfe – und das Erste, worum man sich kümmern muss, anstatt die Gewalterfahrung anzugehen und aufzuarbeiten, ist die Existenzsicherung. Wir wollen unsere Ressourcen nutzen, um den Frauen zu helfen, nicht zum Ausfüllen von sechzehn seitigen Anträgen für das Jobcenter. Es kommt auch nicht auf die bloße Quantität der Plätze an, sondern auf die Qualität. Beispielsweise hatten wir eine Frau, deren vierzehnjährige Tochter körperlich eingeschränkt war und keine Treppen steigen konnte. Die Frau hat keinen anderen Frauenhausplatz gefunden und unser Haus ist nicht barrierefrei. So musste sie jeden Tag mehrmals dieses vierzehnjährige Mädchen auf den Rücken nehmen und nach oben laufen. Da hat man einen Kloß im Hals.„Immer wieder fällt jemand durchs Raster“GREVIO, das Kontrollgremium zur Einhaltung der Istanbul-Konvention, attestiert in seinem Bericht „erhebliche Sicherheitsbedenken“ insbesondere für Frauen mit Behinderungen oder prekärem Aufenthaltsstatus sowie für Mütter und ältere Frauen. Wer ist denn eigentlich ausreichend geschützt in Deutschland?Wohlhabende Männer. Die sind voll und ganz geschützt. Nein, ernsthaft: es reicht einfach nicht. Jede der Gruppen, die Sie genannt haben, hat spezielle Bedarfe. Durch den Krieg haben wir beispielsweise viele Flüchtlingsfrauen im Haus, da braucht man also Dolmetscher. Dafür müssen wir ausgerüstet sein, auch finanziell. Es ist ein Flickenteppich aus verschiedenen Mischfinanzierungen, und immer wieder fällt jemand durchs Raster. Zum Beispiel bekam eine Frau jeden Monat von ihrem Mann, der eine Firma besaß, Geld überwiesen, mit dem Verwendungszweck „Gehalt“. Wir konnten dem Jobcenter nicht klar machen, dass diese Frau nicht bei ihrem Mann arbeitet, dass es keinen Vertrag gibt. Uns wurde nicht geglaubt und deshalb bekam sie keine Leistungen.Das geht?Ja, wenn die Finanzierungsstrukturen so verworren sind, sind die Frauen solchen Dingen ausgesetzt. Die Betroffene hatte einen starken Willen, die hat das durchgezogen, aber wir haben sehr viele Frauen, die irgendwann aufgeben. Wer zu uns kommt, hat in der Regel jahrelang Gewalt erfahren – ist also oft nicht stabil und muss erst mal aufgebaut werden.Wir haben die Istanbul-Konvention ratifiziert. Im Koalitionsvertrag hieß es, man wolle sich mehr um die Umsetzung bemühen. Trotzdem passiert relativ wenig. Was bringt so eine Konvention überhaupt?Es ist wichtig, dass es die Istanbul-Konvention gibt. Natürlich ist sie noch nicht umgesetzt, in anderen Ländern übrigens auch nicht. Ich möchte aber hinzufügen, dass diese Regierung wenigstens auf dem richtigen Weg ist. Uns wird zugehört, der Wille ist da. Deutschland hat ein föderales System, da ist es schwierig, gemeinsame Standards zu setzen. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, zentrale Koordinierungsstellen einzurichten, dem ist Deutschland bisher nicht nachgekommen. Es ist gut, dass wir mit der Istanbul-Konvention etwas in der Hand haben, womit wir Druck ausüben können und ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen geschaffen wird.„Ich denke, dass es Strategie hat, keine Daten zu erheben“Sie sind seit achtzehn Jahren im Frauenhaus tätig. Welche Entwicklung haben Sie in dieser Zeit beobachtet? Was hat sich gebessert, was verschlechtert?Ich habe die Anfänge des Gewaltschutzgesetzes mitbekommen, das Opfern häuslicher Gewalt die Möglichkeit gibt, den Täter durch die Polizei aus der Wohnung entfernen zu lassen. Damals war das eine Katastrophe. Da wurde zum Beispiel bei Frauen ohne Deutschkenntnisse der Mann als Dolmetscher herangezogen und sollte übersetzen, ob die Frau ins Frauenhaus will. Es gab viele Erfahrungsberichte von Betroffenen, bei denen wir gesagt haben, das kann doch wohl nicht wahr sein. Inzwischen hat bei der Polizei eine Sensibilisierung stattgefunden. In einigen Bundesländern stehen Frauenunterstützungssysteme finanziell besser da. Einiges geht in die richtige Richtung – aber insgesamt? Wir würden ja nicht auf die Barrikaden gehen, wenn alles gut wäre. Vor achtzehn Jahren mussten die Frauen Miete für einen Frauenhausplatz zahlen und heute müssen sie das immer noch.Eine weitere Lücke, die einfach nicht geschlossen wird, ist die Datenerhebung. Immerhin wird häusliche Gewalt seit einigen Jahren in den Kriminalstatistiken berücksichtigt, das ist positiv. Aber – und das regt auch die Istanbul-Konvention an – es muss beispielsweise in Krankenhäusern erhoben werden, wie viele Frauen mit Verletzungen von häuslicher Gewalt behandelt werden. Das ist ein viel besserer Indikator, weil längst nicht alles polizeilich erfasst wird. Ich denke, dass das Strategie hat, keine Erhebungen zu machen, damit man als Staat nicht dagegen vorgehen muss. Hier muss es endlich ein Umdenken geben, auch in vielen anderen Bereichen wie Justiz oder Jugendamt.



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Von Veritatis

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