Philosophie In seinem brillanten Essay „Geist und Müll“ befasst sich der Philosoph Guillaume Paoli mit dem katastrophalen Zustand unserer Welt
So sieht vielleicht die Sehnsucht nach einem disruptiven Bruch mit der Gegenwart aus
Krise, Katastrophe? Wie soll man den Zustand nennen, in dem sich unsere Welt gerade befindet? Stehen uns Kollaps oder Untergang bevor? Ist „Apokalypse“ der passende Terminus für sich überlagernde Krisen mit Eskalationspotenzial? Der seit 30 Jahren in Berlin lebende und auf Deutsch schreibende Philosoph und Freitag-Autor Guillaume Paoli entscheidet sich in seinem neuen Buch Geist und Müll für den Begriff des Desasters als „gefährliche, dauerhafte Lage, der man nur mit größten Schwierigkeiten entkommen kann“. Im Begriff des Desasters komme zum Ausdruck, was unsere Situation derzeit ausmache: „Das gigantische Scheitern einer ganzen Zivilisation, (…) Zorn angesichts der verheerenden Konsequenzen sowie die Bockigkeit, sich n
ie Bockigkeit, sich nicht damit abzufinden.“ Guillaume Paolis 250 Seiten langer Essay ist ein aufrührerisches Buch, das sich durch die Katastrophen unserer Zeit fräst und nach dem geistigen Zustand unserer Welt fragt. Der aktuelle, in alle Richtungen ausfransende Text voller Politik, Philosophie, soziologischer Debatten, emanzipatorischer Kämpfe, Wissenschafts- und Technologiegeschichte mäandert durch unsere Gegenwart und Vergangenheit und strahlt die Wut eines vor sich hin brodelnden Vulkans aus.Die 122 Teilkapitel, die sich mitunter wie kleine Miniaturen lesen, lassen sich als Lavaströme verstehen, die den Kraterhang dieses nicht immer einfach zu erkundenden Theoriehügels hinabfließen. Leben wir in der Endzeit, in der nächsten Ära des Massensterbens, der dann gleich die ganze Menschheit zum Opfer fällt? Können wir etwas dagegen tun? Wenn ja, was? Diese Fragen stehen im Raum, werden in den politischen Debatten unserer Zeit ständig neu gestellt, aber nie beantwortet. Das kann auch nicht der 1959 geborene Guillaume Paoli, aber immerhin fällt ihm dazu eine ganze Menge ein. Der titelgebende Müll ist die Kehrseite der ungebremsten Inwertsetzung der planetaren Ressourcen. Es gibt immer mehr Abfallberge, die zum nicht ausschlagbaren Erbe jener Generation werden, die in diese vermeintliche Endzeit hineingeboren wird, zu den „negativen Commons“, wie der von Paoli zitierte Philosoph Alexandre Monnin so treffend schreibt. Der drohende Weltuntergang erlebt in der Kulturindustrie seit einiger Zeit einen regelrechten Boom in Form von Weltuntergangsfilmen. Darin, so Paoli, drücke sich die Sehnsucht nach einem disruptiven Bruch mit der Gegenwart und dem „Immer weiter so!“ aus.Dabei ist die mitschwingende Angst vorm Weltuntergang ein Privileg westlicher Gesellschaften, wo die Lebensbedingungen noch mehr oder weniger intakt sind, während im Globalen Süden, wo unzählige Menschen auf der Flucht sind und die Konsequenzen des Klimawandels viel brutaler zuschlagen, die Zerstörung von Umwelt und gesellschaftlicher Normalität längst zur Realität wurde. Also was tun? Der grüne Kapitalismus ist für Paoli definitiv keine Lösung. Selbst wenn sich alle heldenhaft verhielten und ihren CO₂-Fußabdruck minimierten, hätte das kaum Wirkung. Es müssten die drei Viertel der Treibhausgas-Emissionen reduziert werden, die gut 100 Konzerne erzeugen. Das ist keine Neuigkeit, aber damit widerspricht Paoli explizit jeder Hoffnung oder Ideologie, die auf eine marktkonforme Lösung der Klimakrise setzt. Denn weder die Erhaltung des Status quo ist eine Option, noch irgendeine Reform geschweige denn die von vielen auf der rechten Seite erträumte Reaktion. Eigentlich bräuchten wir eine Revolution, die ist aber nicht in Sicht. Der paradoxe Umstand, dass die Revolution ebenso unabdingbar wie gleichzeitig unmöglich ist, stelle „die Tragödie der Gegenwart“ dar, so der Philosoph.Paoli versucht geistesgeschichtliche Entwicklungslinien im Umgang mit dem Desaster aufzuzeigen. Das reicht von den Ausführungen des Club of Rome bis zu dem Philosophen Günther Anders, einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Anti-Atomkraft-Bewegung. Anders rief dazu auf, „Mut zur Angst“ zu haben, und trifft damit einen zentralen Punkt der heutigen Klimabewegung. Allerdings müsse diese Angst furchtlos, belebend und nicht egoistisch sein, damit sie die Menschen „statt in die Stubenecken hinein in die Straßen hinaus“ treibe, so Anders. Dabei ermuntert Paoli nicht zu Demonstrationen oder Aktionen der Klimabewegung. Den Klima-Aktivismus und die Aktionen der Letzten Generation bezeichnet er an einer Stelle sogar als lächerlich. Aber das sei eine „edle Form der Lächerlichkeit“, die zeige, wie unermesslich die Aufgabe eigentlich ist und wie beschränkt die Möglichkeiten sind. Wobei sich das Buch nicht in der Klimafrage erschöpft. Schon der IPCC wies darauf hin, dass die Fokussierung auf das Klima allein nicht reiche, um die Probleme, vor denen wir stehen, zu bewältigen. Vielmehr müsse die Welt in all ihren komplexen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen berücksichtigt werden.Dementsprechend schreibt Paoli in Geist und Müll auch über den Lockdown, über die verquere Logik von Verschwörungstheoretikern, über Aufstände, Plünderungen, neoliberale Regierungslogik und über die Entfremdung des Individuums, die in der heutigen Theoriebildung kaum mehr eine Rolle spiele, aber grundlegend sei für ein Verständnis, um Routinen aufzubrechen. Denn auch wenn es vor allem darum gehe, eine kapitalismuskritische Position einzunehmen, müssten wir uns alle von liebgewordenen Gewohnheiten wie Billigflügen und einem entgrenzten, Müll produzierenden Konsum verabschieden. Scharfe und mitunter unsachliche Kritik übt Guillaume Paoli an dem unlängst verstorbenen Sozilogen Bruno Latour, dem er vorwirft, genau diese seiner Meinung nach notwendige kapitalismuskritische Position in Sachen Klima nicht einzunehmen. Gegen Ende seines Essays signalisiert Paoli vor allem Sympathie für alle sozialen Bewegungen und Kämpfe, die sich gegen die Kapitallogik richten, so divers sie auch sein mögen. „Überall, wo die kapitalistische Entropie wütet, (sind) Störungen und Blockaden erwünscht. Aus Liebe und Zorn.“Placeholder infobox-1