Etwas Eigentümliches hat es schon, dieses schwarz-weiß gefilmte Gesicht, der ovale Kahlkopf mit der großen Brille, der da in die Kamera spricht. Steht er vor Gericht? Will er sich bewerben? Beides würde passen, der Mann trägt Anzug und Krawatte. Er schildert seinen Werdegang, trocken und präzise, an der Schwelle zum Gestelzten. Es sind die einzigen Filmaufnahmen von Uwe Johnson in Gehen und Bleiben, dem neuen Film von Volker Koepp, der doch eigentlich Johnson im Zentrum hat – den Schriftsteller, der 1934 im heutigen Kamień Pomorski an der Ostsee geboren wurde, auf beiden Seiten Deutschlands lebte, mit nur 49 Jahren in Sherness an der englischen Küste starb und ein Werk hinterließ, das vielen als sperrig gilt.
So wie beim genaueren Lesen wird auch hier beim zweiten Hören deutlich, wie viel bereits in wenigen Sätzen stecken kann. Johnson zählt zu seiner Ausbildung eben nicht nur das „Studium der Germanistik“, sondern sagt „Studium der Germanistik und weiterer Folgen des Krieges“. Er wohnte nicht einfach in Rostock und Leipzig, sondern in „Rostock an der Warnow und Leipzig an der Pleiße“. Er studierte auch über das Studium hinaus, nämlich „Eisenbahnverbindungen zwischen Sachsen und Mecklenburg“. Dass er sich mit so einem Hobby präsentierte, sagt wohl mindestens so viel aus wie das Hobby selbst. Er erwähnt noch seinen „Umzug nach West-Berlin“ und stellt abschließend fest: „Genehmigung des dortigen Bezirksamtes liegt vor.“ Wer würde ihm anderenfalls wohl sein Wohnrecht streitig machen? Ist das auch kauziger Humor, eine ironische Aneignung bürokratischer Formen?
In jedem Fall wurde hier bewusst am Wort gearbeitet – und nun auch am Bild. Aus diesen 70 Sekunden kurzen Aufnahmen entwickelt Koepp gleichsam seinen ganzen Film. Beiläufig erwähnte Themen ziehen ihre roten Fäden durch Gehen und Bleiben, verweben sich mit den Interessen des Regisseurs: Landschaften (vor allem die nordöstliche rund um Koepps Geburtsstadt Stettin) und jene, die dort leben. Darunter auch bekannte Gesichter: Kollege Hans-Jürgen Syberberg zeigt den Graben, von dem aus er als Neunjähriger den Brand von Demmin gesehen hat, im Frühjahr 1945. Dann schimpft er grinsend über Johnson: „Der wollte immer Mecklenburger sein, aber er war aus Pommern, der Hund!“ Das Gespräch kommt bald auf die Vergewaltigungen durch russische Soldaten (Syberberg: „Das war so üblich.“) und auf die Zeit, ab der man nicht mehr davon sprach.
Auch der Schauspieler Peter Kurth erzählt in Goldberg, dem Ort seiner Kindheit, von früher und liest aus Johnsons Texten: „Warum? Darum. Eine Antwort für Kinder, mit der sich nur Erwachsene zufriedengeben.“ Literaturwissenschaftler, Freunde und Bekannte Johnsons kommen zu Wort, stets auf Augenhöhe gefilmt, so wie Koepp es auch mit Landschaften macht. Der nunmehr so gängige Drohnenflug, das Filmen von oben herab, ist seine Sache nicht. Einmal mehr wird hier das Kino zum Schutzraum fürs Erinnern, Zuhören und Denken.
In Anklam blickt ein alter Bauer zufrieden auf sein Leben, nicht zuletzt, weil man in seinem Dorf „alles richtig gemacht“ habe (auch das war offenbar im Osten möglich). Trotzdem habe auch er überlegt, in den Westen zu gehen – doch seine Mutter hatte bereits zwei Söhne verloren. Gehen und Bleiben – das Thema zieht sich durch alle Biografien, durch die Jahrzehnte, von Prag ’68 bis zur Ukraine ’22. Ein lang verheiratetes Paar schwor sich einst: „Wenn das in der DDR so weiter bleibt, sind wir mit 30 weg.“ Stattdessen kam Gorbatschow, die beiden blieben. „Aber“, ergänzt sie, „weg war man auch, wenn man gelesen hat. Theater, Filme, das war weg sein. Was von der Welt hören, sehen, das hat ganz extrem Anteil an unserem Leben gehabt.“ Im Hier und Heute passt das auch auf Koepps Film.
Gehen und Bleiben Volker Koepp Deutschland 2023, 168 Minuten
genaueren Lesen wird auch hier beim zweiten Hören deutlich, wie viel bereits in wenigen Sätzen stecken kann. Johnson zählt zu seiner Ausbildung eben nicht nur das „Studium der Germanistik“, sondern sagt „Studium der Germanistik und weiterer Folgen des Krieges“. Er wohnte nicht einfach in Rostock und Leipzig, sondern in „Rostock an der Warnow und Leipzig an der Pleiße“. Er studierte auch über das Studium hinaus, nämlich „Eisenbahnverbindungen zwischen Sachsen und Mecklenburg“. Dass er sich mit so einem Hobby präsentierte, sagt wohl mindestens so viel aus wie das Hobby selbst. Er erwähnt noch seinen „Umzug nach West-Berlin“ und stellt abschließend fest: „Genehmigung des dortigen Bezirksamtes liegt vor.“ Wer würde ihm anderenfalls wohl sein Wohnrecht streitig machen? Ist das auch kauziger Humor, eine ironische Aneignung bürokratischer Formen?Eingebetteter MedieninhaltIn jedem Fall wurde hier bewusst am Wort gearbeitet – und nun auch am Bild. Aus diesen 70 Sekunden kurzen Aufnahmen entwickelt Koepp gleichsam seinen ganzen Film. Beiläufig erwähnte Themen ziehen ihre roten Fäden durch Gehen und Bleiben, verweben sich mit den Interessen des Regisseurs: Landschaften (vor allem die nordöstliche rund um Koepps Geburtsstadt Stettin) und jene, die dort leben. Darunter auch bekannte Gesichter: Kollege Hans-Jürgen Syberberg zeigt den Graben, von dem aus er als Neunjähriger den Brand von Demmin gesehen hat, im Frühjahr 1945. Dann schimpft er grinsend über Johnson: „Der wollte immer Mecklenburger sein, aber er war aus Pommern, der Hund!“ Das Gespräch kommt bald auf die Vergewaltigungen durch russische Soldaten (Syberberg: „Das war so üblich.“) und auf die Zeit, ab der man nicht mehr davon sprach.Auch der Schauspieler Peter Kurth erzählt in Goldberg, dem Ort seiner Kindheit, von früher und liest aus Johnsons Texten: „Warum? Darum. Eine Antwort für Kinder, mit der sich nur Erwachsene zufriedengeben.“ Literaturwissenschaftler, Freunde und Bekannte Johnsons kommen zu Wort, stets auf Augenhöhe gefilmt, so wie Koepp es auch mit Landschaften macht. Der nunmehr so gängige Drohnenflug, das Filmen von oben herab, ist seine Sache nicht. Einmal mehr wird hier das Kino zum Schutzraum fürs Erinnern, Zuhören und Denken.In Anklam blickt ein alter Bauer zufrieden auf sein Leben, nicht zuletzt, weil man in seinem Dorf „alles richtig gemacht“ habe (auch das war offenbar im Osten möglich). Trotzdem habe auch er überlegt, in den Westen zu gehen – doch seine Mutter hatte bereits zwei Söhne verloren. Gehen und Bleiben – das Thema zieht sich durch alle Biografien, durch die Jahrzehnte, von Prag ’68 bis zur Ukraine ’22. Ein lang verheiratetes Paar schwor sich einst: „Wenn das in der DDR so weiter bleibt, sind wir mit 30 weg.“ Stattdessen kam Gorbatschow, die beiden blieben. „Aber“, ergänzt sie, „weg war man auch, wenn man gelesen hat. Theater, Filme, das war weg sein. Was von der Welt hören, sehen, das hat ganz extrem Anteil an unserem Leben gehabt.“ Im Hier und Heute passt das auch auf Koepps Film.Placeholder infobox-1