Meinung Glaubt man sich jüngst häufenden „Recherchen“, sind die Künste nur noch toxische Hölle. Aber Vorsicht ist angebracht
Lederjacken und Samtbezug: Theater sind Räume der Widersprüchlichkeit
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„Mir wird das Drama in seiner planmäßigen Modellhaftigkeit und Abgeschlossenheit, seiner Beherrschbarkeit von Wirklichkeit immer fremder“, sagte Frank Castorf. Im Roman dagegen finde er eine der Zeit und Realität gemäße Komplexität. Auf die Bühne brachte er Dostojewski, Seelenabgründe und Verstrickungen, die Wildheit menschlicher Natur und zivilisatorische Verkommenheit. Wenn schon Drama, dann spießte er es auf mit einer kämpferischen Wollust. Er horchte hinein in Blankverse und legte sie bloß bis auf die letzte Silbe. Freiheitspathos und Moralparaden entlarvte er als hohle Phrasen und verleibte sie Komik und Slapstick ein.
Heute aber ist alles anders. Das Brachiale und Uneindeutige wird auf der Bühne weniger denn je ge
;hne weniger denn je geschätzt. Inzwischen sind Theaterinszenierungen oftmals so absehbar geworden wie ein durchschnittlicher Krimiplot oder der Cast für eine Netflix-Serie. Die Bühne verwandelt sich dabei entweder in ein steriles Labor normversessener, vermeintlich progressiver Sprechpraktiken – oder in ein analfetischistisches Scheißhaus. Das Groteske und Ungeheuerliche menschlicher Leidenschaften versinkt jedoch in beiden Fällen im Schlamm der Angepasstheit.Der Reinheitsfimmel auf der Bühne macht sich längst auch Backstage bemerkbar. Der Anspruch an gewaltfreies Sprechen wird immer höher geschraubt. Emiliy Brontës Sensibility unterliegt dem Sense, Empfindsamkeit trumpft über die Vernunft. Mit Argusaugen sucht man nach den blinden Flecken der Aufklärung und spannt Partners in Crime aller Couleur ein, um unliebsame, unfolgsame, ungehörige Bühnenmenschen vom Platz zu verweisen. Diejenigen, die den Vorgaben von Staub-zu-Glitzer-Kollektiven und einer Sandkastensoldateska nicht genügen, werden zu Coaching-Sessions und zu Nachhilfestunden in Sachen korrekter Mitarbeiterführung verdonnert.Über Shermin Langhoff vom Berliner Maxim-Gorki-Theater etwa ergoss sich vor zwei Jahren eine Flut an Anschuldigungen und Vorwürfen: Machtmissbrauch, toxisches Arbeitsklima, verbale Gewalt – all die üblichen Worthülsen und Platzhalter für ein vages, schwer fassbares und kaum darstellbares Unwohlsein wurden ausgeschüttet. On top of it: Misogynie, ja tatsächlich. Das mag freilich auch nur auf einen ersten Blick erstaunen, denn längst ist von tokens des Patriarchats, von perfiden Bündnissen mit den patriarchalen Herrschern und von Copycats männlicher Herrschaftsausübung die Rede. Wer sich schuldig bekennt, ist noch nicht schuldig genug. Auch an Abbitten und Schambekundungen gibt es immer etwas zu mäkeln. Hochmut, Kühle, die Unfähigkeit, Ich zu sagen, obschon doch das Wir an allen Ecken und Enden eingefordert und zum neuen Vorzeigepronomen erhoben wird.Kritik, das ist auch so ein Geschäft Natürlich wurde auch an Autoritäten und politische Instanzen appelliert. Rechtliche Schritte wurden in Erwägung gezogen, geklagt, wie überhaupt der Marsch durch die Instanzen und Aktenmeter an Beleidigungsklagen von einer neuen Bürokratiebesessenheit zeugen.Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit hatte im Mai 2021, kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Langhoff, in einem Interview mit der Berliner Stadtillustrierten tip bereits seine Einschätzung kundgetan. Weder rücksichtslos noch egozentrisch sei die inkriminierte Intendantin. Die Kulturberichterstattung aber sei an einem Tiefpunkt angelangt. Die Kritiken und Recherchen zu Langhoffs angeblichem „Machtmissbrauch“ läsen sich wie ein „Freundschaftsdienst“ und die „Begleitmusik für ein Arbeitsgerichtsverfahren“, das damals die Dramaturgin Johanna Höhmann angestrengt hatte.Darüber hinaus witterte Ruch freilich auch kunsttheoretische Differenzen: „Den einen missfällt doch schon, wenn nicht den ganzen Tag über Michel Foucault geredet, sondern plötzlich ziemlich viel gemacht wird.“ Anpacken und zupacken kann einem schnell zum Verhängnis werden, wenn Umarmungen als körperliche Übergriffe aus- oder umgedeutet werden. Der Kunst den obersten Rang zuzuerkennen, noch vor Ideologie und Herkunft, kann einen dann schon den Kopf kosten.Ruch, dem Gorki Theater beruflich verbunden, Langhoff schätzend, sprach eine unbequeme Wahrheit aus: Aus Kritik, ob berechtigt oder nicht, entwickelt sich vielfach ein Geschäftsmodell, um eigene Ansätze in den Markt zu pushen. Kritik wird dann zum Vorwand, zum Mittel,nliebsame Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Das mag man nicht einmal einem unschönen Charakter zuschreiben müssen. Kritik ist immer auch ein Distinktionsmerkmal und Jeton im Vabanquespiel des Lebens. Die ökonomischen Zwänge können so stark werden, dass selbst die Kritik der Ökonomie vermarktet wird. Einem kapitalismuskritischen Kunstberserker wie Castorf mag das zum Vorteil gereichen. Gleichgesinnte Köpfe landen selten unter der Guillotine, wenn man den eigenen Markenkern nicht zerstören will. Hinzu kommt, dass Castorf noch einer Ära der theatralen Raw Power angehörte, die intellektuelles Gemetzel genauso umfasste wie emotionale Aufwühlungen.Aber noch einmal: Die Zeiten aber haben sich seit Castorfs Tagen grundlegend geändert.Was ist Gewalt? Wenn alles, dann nichts Seit Jahren schon tobt ein erbitterter Kampf um einen Gewaltbegriff, der sich von seiner ursprünglichen Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit entfernt hat. Gewalt ist heute irgendwie alles, das Patriarchat, ein jähzorniger Ton, ein Bauarbeiterpfiff und ungeschicktes Flirten. Gewalt ist das Pendant des Traumas: Als Großbegriffe, in die die ganze Welt hineinpassen soll, ereilt beide ereilt das Schicksal einer Inflation bis zur Entwertung. Die Gewaltsensibelsten unter uns bestimmen das Maß der Dinge. Die Verrückung des Maßes aber führt zu einer Verflüchtigung und letztlich zur Unsichtbarwerdung traditioneller, harter, realer Gewalt. Allseits gefühlte Gewalt ist ein Hohn für diejenigen, die sie an Leib und Seele schmerzhaft verspürt haben. Und der mit diesem Gestus oft verbundene Schrei nach Verschärfung des Strafrechts, diese eifrige Suche nach Gesetzeslücken ist nichts anderes als ein Schlag für alle, die Selbstermächtigung praktizieren und nicht nur propagieren.Der Gewaltbegriff hat im Strafrecht verschiedene Phasen durchlaufen: von ursprünglich physischer Gewalt über psychische Gewalt bis hin zum entgegenstehenden Willen. Hinzu kommt der konret reichlich vage Terminus „strukturelle Gewalt“, der seit den 1970ern theoretisiert wird und inzwischen den Gewaltdiskurs dominiert. Das Private wie der öffentliche Raum, jede einzelne Nische, die man nicht strafrechtlich erfasst und durchgeregelt glaubt, wird einfrig durchforstet nach inhärenten Machtstrukturen, die autoritär und rechtlich gelöst werden sollen.Für die Welt der Künste heißt das folgendes: Der Bachmannwettbewerb? Zu gewaltvoll! Käthchen von Heilbronn? Zu gewaltvoll! Gewalt und Vergewaltigung sollen in literarischen Texten nur noch als Leerstelle erscheinen, um die Leser nicht zu verletzen. Falls das Thema explizit behandelt wird, wie von der beim Bachmannwettbewerb prämierten Performance- und Theaterautorin Laura Leupi, klingt der Text so steril, als hätte man eine Flasche Domestos darüber gekippt. Dieser toten Sprache, in ein alphabetisches Raster gezwängt, bedarf es wohl, um dem gesellschaftlichen Verlangen, Gewalt zu bürokratisieren, gerecht zu werden. Wer Sprache als gewalttätiger erachtet als körperlichen Zwang, wagt es nicht am Schmerz zu rühren, sondern kerkert sich ein mit seinen Buchstaben. Ein typisches Beispiel für eine blutleere ideologische Kaperung eines an die Nieren gehenden Themas.Die Abwertung der individuellen ResilienzDie ursprüngliche Solidarität mit den Ohnmächtigen kippt in eine Zementierung der Machtlosigkeit – sowohl auf den Theaterplanken als auch der Bühne des Lebens. Das Opfer wird zum Zielobjekt von Menschen, die sich weniger für das individuelle Schicksal als für die Kritik gesellschaftlicher Strukturen interessieren. Die Gesellschaft soll in Pflicht genommen werden; die persönliche Leistung engagierter Individuen tritt in den Hintergrund. Soziologie trumpft über individuelle Widerstandsfähigkeit. Individuelle Resilienz wird abgewertet als neoliberales Phantasma.Dem Phönix, der sich aus der Asche erhebt, werden die Flügel gestutzt. Ein vermeidbares Schicksal, da beide Stoßrichtungen kompatibel sind: Widerstandsfähige Menschen fällt es leichter, an gesellschaftlichen Dynamiken teilzuhaben. Wir als Gesellschaft sollten daher ein Interesse daran haben, den Konkurrenzkampf von Opfer-Konzepten ad acta zu legen und stattdessen das handlungsfähige Individuum wiederzuentdecken.Philipp Ruch wies auf die schädlichen Nebeneffekte einer Allianz aus Kulturpresse, Theaterquerelen und Rechtspolitik im Fall Langhoff hin, die Süddeutsche Zeitung schließt Jahre später zu dieser Kritik auf: Eine Recherche des ARD-Mittagsmagazins, gemäß derer 90 Prozent der Befragten an deutschen Staats- und Stadttheatern mit „Machtmissbrauch konfrontiert“ seien, wird vehement bezweifelt. Über Intendanten und über „verbale Drohungen“ zu raunen, sei müßig. Die Ärmel sollten hochgekrempelt und Bühnenverträge gecheckt werden. Back to the boots! – Dem Bühnenverein gewappnet entgegentreten, anstatt sich von der Presse eine Rückendeckung mit Geschmäckle geben zu lassen, sei den Bühnenmitarbeitern geraten.Rechtsfreier Raum, im besten SinneVon Hard facts und Papierkram abgesehen: Eine brancheninterne Selbstintrospektion, so schmerzhaft sie sein mag, wäre angebracht: Sind die Bretter, die die Welt bedeuten, so morsch, dass jeder Laut sie schon zusammenbrechen lässt, jedes Aufstampfen in den Orkus führt? Ist jeder Kontakt, jedes Zeichen von Nähe bereits Gewalt? Oder ist das Theater ein freies Experimentierfeld, ein im besten Sinne eben rechtsfreier Raum, in dem Selbstorganisation und Grenzüberschreitung, Einvernehmlichkeit und Kontroverse gespielt, gelebt und geformt werden können?Die über 80-jährige Schauspielerin Macha Méril sagte einmal im Interview: „Schauen Sie, wenn ein Regisseur und eine Schauspielerin intensiv zusammenarbeiten, kann das doch nur im Sex enden!“ Einvernehmlich natürlich. Macha glaubt an die Kraft der Frau. Das Theater ist ein körperlicher Raum, ein Denkraum auch und manche schaffen es sogar ihre Kritik in tragfähige Change-Management-Konzepte umzuwandeln: Die Schauspielerin Mareile Blendl, die Claus Peymann Zunder gegeben hat, bietet Trainings an für „Morphing“ und nutzt die Lust für Wandel: „Es ist der Spieltrieb, der uns über uns hinauswachsen lässt.“Nicht dem Wort verhaftet bleiben, sondern die Welt aus den Angeln haben, sich selbst herausschälen aus vertrackten Lagen, das Risiko des inneren und äußeren Wandels eingehen – Selbstbehauptung beginnt beim eigenen rebellischen Wandlungspotenzial. Elfriede Jelinek sagte einmal im Gespräch: „Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater.“Das Spiel ist eröffnet!