So geht also Sommerloch: Ein Handyvideo, aufgenommen zu nächtlicher Stunde am Wegesrand in Kleinmachnow, das etwas zeigt, was eine Löwin sein könnte: Das reicht, um 36 Stunden lang eine nicht enden wollende Nachrichtenflut zu erzeugen, Artikel über Artikel, Liveticker, Twitter-Memes, immer irrere Theorien. Am Ende stellte sich die Löwin als das Borstentier heraus, das sie immer schon gewesen ist. Und als Erinnerung, wie Medien in der Saure-Gurken-Zeit funktionieren: Killerwels Kuno, Krokodile im Baggersee, Problemstorch Ronny, und jetzt eben ein Wildschwein, das als Löwin gelesen wird, weil: Is’ ja Berlin.
Man muss der Löwin dankbar sein, weil sie für kurze Zeit eine andere Sau vertrieben hat, die vor ihr durchs mediale Dorf getrieben wurde: die angebliche Eskalation der Gewalt in den Freibädern der Republik. Die hatte – Springer und Unionsparteien sei Dank – vorher eine große Welle gemacht, auch wenn sich das meiste davon bei näherem Hinsehen als Schlag ins Wasser herausstellte, buchstäblich.
Gewalt, Prügeleien, Randale: Es reichte ein Bericht über das Columbiabad in Berlin-Neukölln, das geräumt werden musste, weil sich eine Gruppe von Jugendlichen den Anordnungen der Bademeister widersetzt hatte, um eine Flut von Artikeln, Berichten und Kommentaren zu erzeugen. Nicht so witzig wie die über die Löwin von Kleinmachnow, aber teilweise mit ebenso geringem Wahrheitsgehalt. Die Freibäder seien nicht mehr sicher, las man. Die Gewalt nehme überhand. Es klang, als hätten Horden von jugendlichen Männern mit Migrationshintergrund die Nichtschwimmerbecken und Planschen der Republik übernommen. Was ist da wirklich dran?
Damals war nicht alles besser
In Wiesbaden kann man das Kallebad besuchen. Unter freiem Himmel steht da eine geriffelte gelbe Rutsche, von der Kinder ins Wasser schlittern, am Imbiss gibt es blau-rotes Slush-Eis und im Büro sitzt ein Bademeister mit dickem Bauch und langem Bart, der sagt, manche Jugendliche seien zwar respektlos, „aber wir haben damals ja auch Scheiße gebaut“. Mitten in der aufgeheizten Debatte ist Janine Wissler hierhergekommen.
Man muss sich die Linken-Chefin als kurzsichtige Person vorstellen. Irgendwas mit minus 7 Dioptrien. Im Schwimmbad ist sie deswegen schon häufig über Wiesen geirrt: vorbei am Handtuch, auf dem ihre Freunde auf sie warteten, und mit den falschen Süßigkeiten in der gemischten Tüte. Das Problem habe sie mittlerweile „abgestellt“, sagt sie. Heute trägt sie Eintageslinsen, wenn sie planschen geht. Müssten ihr jetzt, wo sie sehen kann, nicht die ganzen „Gewalttäter“ am Beckenrand auffallen, vor denen der neue CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gewarnt hat? Wissler sitzt unter einem roten Langnese-Schirm und isst Pommes mit Mayo. Zumindest hier, im Kallebad, ist alles ruhig. Eine Deutschlandflagge weht ordnungsgemäß im Wind. Nur einmal ruft ein Junge seinem Kumpel „du Hurensoooohn“ hinterher.
Wissler hatte Linnemanns Forderung nach Schnellverfahren gegen Schwimmbad-Prügler als „blanken Populismus“ abgetan. Aber kennt sie die Situation in öffentlichen Schwimmbädern überhaupt? Hat sie nicht vielleicht einen privaten Pool zu Hause? Ein böser Blick. „Ich besitze nicht einmal eine Immobilie“, antwortet Wissler, „ich wohne zur Miete.“ Im Waldschwimmbad von Dietzenbach, einer 30.000-Einwohner-Stadt bei Frankfurt, habe sie als Kind ihre ersten Runden im Wasser gedreht. Das Standardessen an der Bude: ein Brötchen mit zwei zerquetschten Schokoküssen.
Egelsbach? Saugefährlich dort!
Dass auch die ein oder andere Nase mal zerquetscht wird, hätten Schwimmbäder nicht exklusiv. „Das Oktoberfest könnte man dichtmachen, wenn man Prügeleien zum Maßstab nimmt.“ Da hat Wissler nicht unrecht: 2022 musste die Polizei 1.819-mal auf der Wiesn ausrücken. Wenn jede Schlägerei auf Volksfesten so durch die Medien ginge wie die im Columbiabad, würden sich die Leute bald nicht mehr ins Bierzelt oder auf Geisterbahnen trauen.
In Dietzenbach, wo Wissler herkommt, nennt man die Kirmes traditionell „Kerb“. Das ist eine Gaudi inklusive Baumaufstellen, Autoscootern und ordentlich Bierständen. „Das größte Ziel vieler 15-Jähriger bei uns war es, Kerbborsch zu werden“, erinnert sich die Politikerin. Das sind jene Jungs, die sich besonders bei der Vorbereitung auf das Fest reinhängen. Ob so einem Kerbborsch nach einer zu starken Cola-Korn-Mische nicht auch mal die Lampen durchbrennen? Wissler erinnert sich nicht an solche Vorfälle in Dietzenbach. Aber in Egelsbach, gleich um die Ecke, lieferten sich 2019 rund 35 Jugendliche auf der Kerb eine Schlägerei. In der Oberhessischen Presse war das ein Riesending. Aber in die bundesweiten Talkshows hat es der Vorfall nicht geschafft. Dabei musste sogar der Diensthundeführer mit Vierbeiner zur Streitschlichtung nach Egelsbach kommen.
Und, haben Spiegel-Kolumnisten anschließend tagelang über die Sicherheit auf kirchlichen Volksfesten gestritten, vor den aggressiven „Jungbullen“ in Traditionsgewändern gewarnt, die kein Recht und Gesetz kennen und denen der Staat mit aller Härte begegnen müsse? Nein: Die Massenschlägerei in Egelsbach endete mit einer „Die Polizei ermittelt“-Meldung in den Lokalnachrichten. In Berlin war das anders.
In Berlin wurde seit den 1970ern kein Freibad mehr gebaut
Dass es dort, genauer: im Columbiabad in Neukölln, mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit dem Badpersonal und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gegeben hat, ist Fakt. Auch ein Brief der dortigen Belegschaft, der schon im Juni an die kommunalen Berliner Bäderbetriebe (BBB) geschickt worden war, belegt die Schwierigkeiten der Mitarbeiter des Bades, sich gegen Jugendliche durchzusetzen, die ihren Anweisungen nicht Folge leisteten, sie teilweise rüde angingen und offenbar dafür keinerlei Konsequenzen fürchten müssen. Man kann davon ausgehen, dass die Gründe dafür vor allem in Testosteron und fehlendem Personal liegen. Trotzdem diskutierte die Republik wieder einmal über „Neukölln“: Das ist zu einer Art polit-medialer Chiffre geworden, in die alle möglichen Leute alles Mögliche hineinprojizieren, auch wenn sie selbst noch nie einen Fuß in den Bezirk gesetzt haben. Der neue Berliner Bürgermeister Kai Wegner stattete dem nahe gelegenen Prinzenbad sogar einen Besuch ab und kündigte an, was Politiker in derlei Situationen eben so ankündigen: Künftig werde eine mobile Polizeiwache vor dem Bad stationiert. Und man werde Ausweiskontrollen einführen, damit man Hausverbote endlich wirksam durchsetzen könne.
Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die tatsächliche Gewalt in den Freibädern sich von der gefühlten Sicherheitslage dort entkoppelt hat: Die polizeilich erfasste Zahl von Gewalttaten in Berliner Freibädern, die zu einem Hausverbot führten, lag in den Jahren vor Corona bei 77 (2018) und 71 (2019). Im Jahr 2022 fiel sie auf 57. Ähnlich verläuft der Trend bei den Hausverboten überhaupt: Gab es 2018 noch mehr als 500 Hausverbote und 2019 mehr als 400, so kam es im Jahr 2022 nur insgesamt zu 133. Und das bei Besucherzahlen von mehr als vier Millionen im Jahr 2019. Zahlen für das Jahr 2023 liegen noch keine vor, aber es deutet nichts darauf hin, dass sie eine starke Zunahme von Gewalttaten zeigen werden. Wegner kennt sich indes mit Debatten über „Neukölln“ aus: Wahrscheinlich verdankt er ihnen sogar seine Wahl. Denn die Schwimmbaddiskussion ist ja nichts anderes als eine Neuauflage der Berliner Silvesterdebatte: Auch da gab es Randale, die im echten Leben klein, aber in der medialen Wiederaufarbeitung riesig geworden waren. Wegners CDU schaffte es damals mit tätiger Unterstützung seines Parteivorsitzenden Friedrich Merz, aus verhaltensauffälligen Jugendlichen eine große Sicherheitsdebatte zu ventilieren.
Katalin Gennburg sitzt für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie ärgert sich darüber, dass die Politik nach Jahrzehnten des Wegsparens die Polizei schickt, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen. Die 39-Jährige hat recherchiert: Seit den 1970er Jahren wurden in Berlin keine neuen Freibäder mehr errichtet. Dabei wohnen mittlerweile eine halbe Million mehr Menschen in der Stadt als damals. Das sei „eine politische Entscheidung“ gewesen, vermutet Gennburg. Denn so ein Freibad stünde durchschnittlich 7,5 Monate im Jahr leer. Die Initiative Pool-Potentials setzt sich dafür ein, die Berliner Becken in den Wintermonaten anderweitig zu nutzen. Dann könnten dort kleine Theaterbühnen entstehen. Oder Trampolinparks. Gennburg wollte von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport wissen, was sie von der Idee hält. In der Antwort heißt es, man unterstütze das Projekt mit einem „finanziellen Zuschuss“, die Vorschläge müssten „jedoch hinreichend auf Realisierbarkeit“ sowie „die zu erwartenden Folgekosten“ überprüft werden.
Wissler hat kein Seepferdchen
Tatsächlich gibt es keine Partei, die schwimmbadpolitisch so viel zu bieten hat wie die Linke. Also mit echter Schwimmbadpolitik über echte Schwimmbäder, nicht über Planschen als vermeintliche Symbolorte gescheiterter Integrationspolitik. Anfang Juli veröffentlichte sie ein Papier, in dem sie ein „bundesweites Sanierungsprogramm“ fordert. Seit dem Jahr 2000 sei jedes zehnte Schwimmbad in der Republik geschlossen worden – durchschnittlich 40 Bäder pro Jahr. Von den noch existierenden 6.500 öffentlichen Bädern sei die Hälfte sanierungsbedürftig. Schon 2016 hatte der Sanierungsstau laut Universität Wuppertal 4,5 Milliarden Euro betragen. Der dürfte seitdem nicht geringer geworden sein. Wegen des Bädersterbens sei Deutschland auf dem Weg, ein „Land der Nichtschwimmer“ zu werden.
Wie gut sich Wissler wohl über Wasser halten kann? „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das Seepferdchen jemals gemacht habe“, sagt sie. Sie kann sich an keinen Aufnäher an der Badehose erinnern. Aber den Freischwimmer habe sie in der Tasche. Im Juli hat sie das Sechs-Punkte-Papier „SOS-Seepferdchen in Not“ vorgestellt. Dort wird kritisiert, dass Schwimmbäder zu den „freiwilligen Aufgaben der Kommunen“ gehören. Dadurch würde, sobald das Geld knapp ist, an dieser Stelle gespart.
Mit Folgen: 2022 konnten doppelt so viele Grundschulkinder nicht schwimmen wie noch vor fünf Jahren. Also fordert die Linke kostenlosen Eintritt für die Jüngsten. 548 Millionen Euro würde das im Jahr kosten. Aber ist das nicht eine handzahme Forderung für eine linke Partei? Wieso sollen nicht alle für umme planschen können? „Das ist eine berechtigte Frage“, antwortet Wissler, „natürlich können wir auch andere Modelle diskutieren.“ Aber irgendwo müsse man anfangen. Beim öffentlichen Nahverkehr poche die Linke auch zunächst auf einen Nulltarif für Kinder und Jugendliche. Danach könne man ja einen drauflegen.
Allerdings wird dadurch noch nicht das Problem des Bädersterbens gelöst. In Berlin gibt es im wenig wohlhabenden Marzahn-Hellersdorf kein einziges Freibad. Und in Treptow-Köpenick kann man zwar in die Schwimmhalle Baumschulenweg gehen. Aber die Besuchszeiten unter der Woche sind 6.30 Uhr bis 8.00 Uhr. Danach ist das Becken für Grundschulklassen reserviert, weil die Kinder aus mehreren Bezirkend dort schwimmen lernen und es nicht genug andere Bäder in der Gegend gibt.
Ob sich keiner mehr kloppt, wenn mehr kostenlose Bäder gebaut würden? Unwahrscheinlich. Bis auf die Superreichen begegnen sich alle möglichen Menschen am Becken – mindestens, um schwimmen zu lernen. Und vielleicht hätte es auch Wissler ohne die Schulstunden im Wasser nie an die Spitze der Linkspartei geschafft? Das war ja auch ein Sprung „mitten ins Haifischbecken“, wie sie sagt. Wohl wahr.
wurde: die angebliche Eskalation der Gewalt in den Freibädern der Republik. Die hatte – Springer und Unionsparteien sei Dank – vorher eine große Welle gemacht, auch wenn sich das meiste davon bei näherem Hinsehen als Schlag ins Wasser herausstellte, buchstäblich.Gewalt, Prügeleien, Randale: Es reichte ein Bericht über das Columbiabad in Berlin-Neukölln, das geräumt werden musste, weil sich eine Gruppe von Jugendlichen den Anordnungen der Bademeister widersetzt hatte, um eine Flut von Artikeln, Berichten und Kommentaren zu erzeugen. Nicht so witzig wie die über die Löwin von Kleinmachnow, aber teilweise mit ebenso geringem Wahrheitsgehalt. Die Freibäder seien nicht mehr sicher, las man. Die Gewalt nehme überhand. Es klang, als hätten Horden von jugendlichen Männern mit Migrationshintergrund die Nichtschwimmerbecken und Planschen der Republik übernommen. Was ist da wirklich dran?Damals war nicht alles besserIn Wiesbaden kann man das Kallebad besuchen. Unter freiem Himmel steht da eine geriffelte gelbe Rutsche, von der Kinder ins Wasser schlittern, am Imbiss gibt es blau-rotes Slush-Eis und im Büro sitzt ein Bademeister mit dickem Bauch und langem Bart, der sagt, manche Jugendliche seien zwar respektlos, „aber wir haben damals ja auch Scheiße gebaut“. Mitten in der aufgeheizten Debatte ist Janine Wissler hierhergekommen.Man muss sich die Linken-Chefin als kurzsichtige Person vorstellen. Irgendwas mit minus 7 Dioptrien. Im Schwimmbad ist sie deswegen schon häufig über Wiesen geirrt: vorbei am Handtuch, auf dem ihre Freunde auf sie warteten, und mit den falschen Süßigkeiten in der gemischten Tüte. Das Problem habe sie mittlerweile „abgestellt“, sagt sie. Heute trägt sie Eintageslinsen, wenn sie planschen geht. Müssten ihr jetzt, wo sie sehen kann, nicht die ganzen „Gewalttäter“ am Beckenrand auffallen, vor denen der neue CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gewarnt hat? Wissler sitzt unter einem roten Langnese-Schirm und isst Pommes mit Mayo. Zumindest hier, im Kallebad, ist alles ruhig. Eine Deutschlandflagge weht ordnungsgemäß im Wind. Nur einmal ruft ein Junge seinem Kumpel „du Hurensoooohn“ hinterher.Wissler hatte Linnemanns Forderung nach Schnellverfahren gegen Schwimmbad-Prügler als „blanken Populismus“ abgetan. Aber kennt sie die Situation in öffentlichen Schwimmbädern überhaupt? Hat sie nicht vielleicht einen privaten Pool zu Hause? Ein böser Blick. „Ich besitze nicht einmal eine Immobilie“, antwortet Wissler, „ich wohne zur Miete.“ Im Waldschwimmbad von Dietzenbach, einer 30.000-Einwohner-Stadt bei Frankfurt, habe sie als Kind ihre ersten Runden im Wasser gedreht. Das Standardessen an der Bude: ein Brötchen mit zwei zerquetschten Schokoküssen.Egelsbach? Saugefährlich dort!Dass auch die ein oder andere Nase mal zerquetscht wird, hätten Schwimmbäder nicht exklusiv. „Das Oktoberfest könnte man dichtmachen, wenn man Prügeleien zum Maßstab nimmt.“ Da hat Wissler nicht unrecht: 2022 musste die Polizei 1.819-mal auf der Wiesn ausrücken. Wenn jede Schlägerei auf Volksfesten so durch die Medien ginge wie die im Columbiabad, würden sich die Leute bald nicht mehr ins Bierzelt oder auf Geisterbahnen trauen.In Dietzenbach, wo Wissler herkommt, nennt man die Kirmes traditionell „Kerb“. Das ist eine Gaudi inklusive Baumaufstellen, Autoscootern und ordentlich Bierständen. „Das größte Ziel vieler 15-Jähriger bei uns war es, Kerbborsch zu werden“, erinnert sich die Politikerin. Das sind jene Jungs, die sich besonders bei der Vorbereitung auf das Fest reinhängen. Ob so einem Kerbborsch nach einer zu starken Cola-Korn-Mische nicht auch mal die Lampen durchbrennen? Wissler erinnert sich nicht an solche Vorfälle in Dietzenbach. Aber in Egelsbach, gleich um die Ecke, lieferten sich 2019 rund 35 Jugendliche auf der Kerb eine Schlägerei. In der Oberhessischen Presse war das ein Riesending. Aber in die bundesweiten Talkshows hat es der Vorfall nicht geschafft. Dabei musste sogar der Diensthundeführer mit Vierbeiner zur Streitschlichtung nach Egelsbach kommen.Und, haben Spiegel-Kolumnisten anschließend tagelang über die Sicherheit auf kirchlichen Volksfesten gestritten, vor den aggressiven „Jungbullen“ in Traditionsgewändern gewarnt, die kein Recht und Gesetz kennen und denen der Staat mit aller Härte begegnen müsse? Nein: Die Massenschlägerei in Egelsbach endete mit einer „Die Polizei ermittelt“-Meldung in den Lokalnachrichten. In Berlin war das anders.In Berlin wurde seit den 1970ern kein Freibad mehr gebautDass es dort, genauer: im Columbiabad in Neukölln, mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit dem Badpersonal und Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gegeben hat, ist Fakt. Auch ein Brief der dortigen Belegschaft, der schon im Juni an die kommunalen Berliner Bäderbetriebe (BBB) geschickt worden war, belegt die Schwierigkeiten der Mitarbeiter des Bades, sich gegen Jugendliche durchzusetzen, die ihren Anweisungen nicht Folge leisteten, sie teilweise rüde angingen und offenbar dafür keinerlei Konsequenzen fürchten müssen. Man kann davon ausgehen, dass die Gründe dafür vor allem in Testosteron und fehlendem Personal liegen. Trotzdem diskutierte die Republik wieder einmal über „Neukölln“: Das ist zu einer Art polit-medialer Chiffre geworden, in die alle möglichen Leute alles Mögliche hineinprojizieren, auch wenn sie selbst noch nie einen Fuß in den Bezirk gesetzt haben. Der neue Berliner Bürgermeister Kai Wegner stattete dem nahe gelegenen Prinzenbad sogar einen Besuch ab und kündigte an, was Politiker in derlei Situationen eben so ankündigen: Künftig werde eine mobile Polizeiwache vor dem Bad stationiert. Und man werde Ausweiskontrollen einführen, damit man Hausverbote endlich wirksam durchsetzen könne.Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die tatsächliche Gewalt in den Freibädern sich von der gefühlten Sicherheitslage dort entkoppelt hat: Die polizeilich erfasste Zahl von Gewalttaten in Berliner Freibädern, die zu einem Hausverbot führten, lag in den Jahren vor Corona bei 77 (2018) und 71 (2019). Im Jahr 2022 fiel sie auf 57. Ähnlich verläuft der Trend bei den Hausverboten überhaupt: Gab es 2018 noch mehr als 500 Hausverbote und 2019 mehr als 400, so kam es im Jahr 2022 nur insgesamt zu 133. Und das bei Besucherzahlen von mehr als vier Millionen im Jahr 2019. Zahlen für das Jahr 2023 liegen noch keine vor, aber es deutet nichts darauf hin, dass sie eine starke Zunahme von Gewalttaten zeigen werden. Wegner kennt sich indes mit Debatten über „Neukölln“ aus: Wahrscheinlich verdankt er ihnen sogar seine Wahl. Denn die Schwimmbaddiskussion ist ja nichts anderes als eine Neuauflage der Berliner Silvesterdebatte: Auch da gab es Randale, die im echten Leben klein, aber in der medialen Wiederaufarbeitung riesig geworden waren. Wegners CDU schaffte es damals mit tätiger Unterstützung seines Parteivorsitzenden Friedrich Merz, aus verhaltensauffälligen Jugendlichen eine große Sicherheitsdebatte zu ventilieren.Katalin Gennburg sitzt für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie ärgert sich darüber, dass die Politik nach Jahrzehnten des Wegsparens die Polizei schickt, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen. Die 39-Jährige hat recherchiert: Seit den 1970er Jahren wurden in Berlin keine neuen Freibäder mehr errichtet. Dabei wohnen mittlerweile eine halbe Million mehr Menschen in der Stadt als damals. Das sei „eine politische Entscheidung“ gewesen, vermutet Gennburg. Denn so ein Freibad stünde durchschnittlich 7,5 Monate im Jahr leer. Die Initiative Pool-Potentials setzt sich dafür ein, die Berliner Becken in den Wintermonaten anderweitig zu nutzen. Dann könnten dort kleine Theaterbühnen entstehen. Oder Trampolinparks. Gennburg wollte von der Senatsverwaltung für Inneres und Sport wissen, was sie von der Idee hält. In der Antwort heißt es, man unterstütze das Projekt mit einem „finanziellen Zuschuss“, die Vorschläge müssten „jedoch hinreichend auf Realisierbarkeit“ sowie „die zu erwartenden Folgekosten“ überprüft werden.Wissler hat kein SeepferdchenTatsächlich gibt es keine Partei, die schwimmbadpolitisch so viel zu bieten hat wie die Linke. Also mit echter Schwimmbadpolitik über echte Schwimmbäder, nicht über Planschen als vermeintliche Symbolorte gescheiterter Integrationspolitik. Anfang Juli veröffentlichte sie ein Papier, in dem sie ein „bundesweites Sanierungsprogramm“ fordert. Seit dem Jahr 2000 sei jedes zehnte Schwimmbad in der Republik geschlossen worden – durchschnittlich 40 Bäder pro Jahr. Von den noch existierenden 6.500 öffentlichen Bädern sei die Hälfte sanierungsbedürftig. Schon 2016 hatte der Sanierungsstau laut Universität Wuppertal 4,5 Milliarden Euro betragen. Der dürfte seitdem nicht geringer geworden sein. Wegen des Bädersterbens sei Deutschland auf dem Weg, ein „Land der Nichtschwimmer“ zu werden.Wie gut sich Wissler wohl über Wasser halten kann? „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das Seepferdchen jemals gemacht habe“, sagt sie. Sie kann sich an keinen Aufnäher an der Badehose erinnern. Aber den Freischwimmer habe sie in der Tasche. Im Juli hat sie das Sechs-Punkte-Papier „SOS-Seepferdchen in Not“ vorgestellt. Dort wird kritisiert, dass Schwimmbäder zu den „freiwilligen Aufgaben der Kommunen“ gehören. Dadurch würde, sobald das Geld knapp ist, an dieser Stelle gespart.Mit Folgen: 2022 konnten doppelt so viele Grundschulkinder nicht schwimmen wie noch vor fünf Jahren. Also fordert die Linke kostenlosen Eintritt für die Jüngsten. 548 Millionen Euro würde das im Jahr kosten. Aber ist das nicht eine handzahme Forderung für eine linke Partei? Wieso sollen nicht alle für umme planschen können? „Das ist eine berechtigte Frage“, antwortet Wissler, „natürlich können wir auch andere Modelle diskutieren.“ Aber irgendwo müsse man anfangen. Beim öffentlichen Nahverkehr poche die Linke auch zunächst auf einen Nulltarif für Kinder und Jugendliche. Danach könne man ja einen drauflegen.Allerdings wird dadurch noch nicht das Problem des Bädersterbens gelöst. In Berlin gibt es im wenig wohlhabenden Marzahn-Hellersdorf kein einziges Freibad. Und in Treptow-Köpenick kann man zwar in die Schwimmhalle Baumschulenweg gehen. Aber die Besuchszeiten unter der Woche sind 6.30 Uhr bis 8.00 Uhr. Danach ist das Becken für Grundschulklassen reserviert, weil die Kinder aus mehreren Bezirkend dort schwimmen lernen und es nicht genug andere Bäder in der Gegend gibt.Ob sich keiner mehr kloppt, wenn mehr kostenlose Bäder gebaut würden? Unwahrscheinlich. Bis auf die Superreichen begegnen sich alle möglichen Menschen am Becken – mindestens, um schwimmen zu lernen. Und vielleicht hätte es auch Wissler ohne die Schulstunden im Wasser nie an die Spitze der Linkspartei geschafft? Das war ja auch ein Sprung „mitten ins Haifischbecken“, wie sie sagt. Wohl wahr.