Wer in diesem Jahr in Tokio U-Bahn gefahren ist, hat es eventuell gesehen: Dort schaut einem ein junger Herr, Mitte 30, mit etwas resigniertem Blick von einem Plakat entgegen. Er heißt Kohei Saito, ist Professor für Philosophie und bewirbt darauf sein neues Buch. In Japan ist er so etwas wie ein marxistischer Superstar.

Über eine halbe Million Mal hat sich sein 2020 erschienener Bestseller Capital in the Anthropocene bereits verkauft. Nun erscheint es auch in Deutschland, allerdings mit einem kampflustigeren Titel: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Für Saito ist es schon jetzt ein Riesenerfolg. 500.000 verkaufte Werke sind eine Seltenheit, vor allem für eine marxistische Kampfschrift. Wie kommt dieser Hype zustande und ist er berechtigt?

Wir befinden uns im Zeitalter des Kapitalozäns

Artensterben, Waldbrände, Überflutungen – die Liste der Zerstörungen durch den Klimawandel ist lang. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich der Planet durch menschliches Einwirken um 1,1 Grad erhitzt, darin ist sich die Wissenschaft einig. Dafür macht Saito vor allem den globalen Norden und dessen „imperiale Lebensweise“ verantwortlich. Die Ausbeutung von Arbeitskräften und „geplünderten Rohstoffen des globalen Südens“ sei die Grundlage des Kapitalismus, worin sich gleichermaßen seine Dysfunktionalität zeige.

Mit dieser grundlegenden Analyse ist Saito nicht allein. Laut dem US-amerikanischen Historiker und Humangeografen Jason Moore befinden wir uns im Zeitalter des „Kapitalozäns“. Einer Epoche, die sich durch den starken Einfluss des Kapitalismus auf die Natur auszeichne. Und genau dort liege das Übel begraben, so sieht es Saito. Und auch im deutschen Diskurs gibt es Stimmen, die „das Ende des Kapitalismus“ ausrufen, wie zuletzt die Journalistin Ulrike Herrmann. Damit bringt sie auf den Punkt, um was es Saito in letzter Konsequenz auch geht: den Kapitalismus abzuschaffen.

Saito beeindruckt in den ersten Kapiteln seines Buches mit einer sehr soliden Zusammenfassung des Nachhaltigkeitsdiskurses und macht in verständlicher Sprache deutlich, wo er dabei steht. Für ihn gibt es kein grünes Wachstum, das den Kapitalismus retten kann. Das begründet er unter anderem am Beispiel der „wahren Kosten“ eines Elektroautos: Billige Arbeitskräfte und Raubbau im globalen Süden seien nötig, um die darin enthaltenen Lithium-Ionen-Batterien herzustellen. Nachhaltig sei das keineswegs. Das Hauptproblem liegt für ihn im Wirtschaftswachstum: Einen Green New Deal, wie ihn populäre Stimmen wie der Ökonom Jeremy Rifkin oder der US-Politiker Bernie Sanders fordern, lehnt Saito folglich ab.

Aus marxistischer Perspektive eine gewagte Position. Schließlich sind Wirtschaftswachstum und steigende Produktivität laut Marx essenziell für den Weg in eine klassenlose Gesellschaft. Dieses theoretische Problem löst Saito durch eine umständliche Exegese verschiedener Marx-Quellen. Ein Unterfangen, das für einen marxistischen Lesekreis erhellend sein mag, hier allerdings ins Leere führt. Auch wenn er plausibel darlegt, dass Marx über Jahre missverstanden wurde – unveröffentlichte Schriften zeigen ihn laut Saito als Vorreiter der Nachhaltigkeit –, fragt man sich: Welchen Mehrwert hat diese Erkenntnis? Die Dysfunktionalität kapitalistischer Wirtschaftsweise wurde schließlich schon ausführlich analysiert, nicht zuletzt von Theoretiker:innen, die Saito selbst im Vorfeld anführt.

Ein autoritärer Klima-Maoismus?

Um dem antagonistischen Verhältnis von Kapitalist:innen und Arbeiter:innen Auftrieb zu verschaffen, spricht Saito häufig von „dem Kapitalismus“ oder „dem Kapital“ („Wenn wir ihn (den Kapitalismus) nicht aus eigener Kraft stoppen können, bedeutet das das Ende der Geschichte der Menschheit“). Die Definitionsschärfe leidet an dieser Stelle zunehmend. Es hört sich so an, als verstecke sich hinter diesen Begriffen eine eigene Entität, so als habe man als Leser:in rein gar nichts mit diesem System am Hut. Ganz nach dem Motto: Kapitalismus, das sind immer die anderen. Mit hochtrabender Weltrettungs-Rhetorik verkündet Saito im vorletzten Kapitel seinen Vorschlag für das, was nach dem Systemsturz kommen soll: der „Degrowth-Kommunismus“.

Hier nennt er fünf zentrale Punkte: Hinwendung zu einer Gebrauchs- statt Tauschwirtschaft, Verkürzung von Arbeitszeit, Aufhebung von uniformer Arbeitsteilung sowie eine größere Wertschätzung für systemrelevante Berufe. Außerdem, und das ist Saito sehr wichtig, fordert er die Demokratisierung von Produktionsprozessen. Damit will er vor allem dem Vorwurf zuvorkommen, seine Vision könne in einen autoritären „Klima-Maoismus“ münden.

Doch genau hier liegt eine Schwachstelle von Saitos Argumentation. Was, wenn nicht alle von Degrowth begeistert sind und lieber weiter dem Konsum frönen, statt sich mit „Gitarre spielen, Bilder malen oder lesen“ zufriedenzugeben?

Anders als die mit der britischen Kriegswirtschaft liebäugelnde Herrmann liefert Kohei Saito keine überzeugenden Vorschläge dafür, wie sein Degrowth-Kommunismus demokratische Mehrheiten finden soll. Neben der Stärkung von Gewerkschaften und Energiegenossenschaften plädiert er unter anderem für Bürger:innenversammlungen.

Als Positivbeispiel zieht Saito die „Bürgerversammlung für das Klima“ (Convention citoyenne pour le climat) in Frankreich heran. Bürger:innen entwickelten dabei 150 Vorschläge für Klimaschutzmaßnahmen, die Saito vor allem für ihre Radikalität lobt. Dabei vergisst er allerdings, zu erwähnen, dass das Papier schlussendlich kaum politische Konsequenzen hatte.

Erschienen ist Saitos Werk während der Corona-Pandemie, sicherlich ein Grund für den Erfolg, denn im Zuge dieser fundamentalen Krise entpuppte sich die Marktlogik an vielen Stellen als völlig unbrauchbar. Ein ideales Zeitfenster, um daran zu erinnern, was Saito ohne Fragen deutlich macht: Ein „Systemsturz“ ist unausweichlich. Fraglich allerdings, ob dieser in friedlicher Einvernehmlichkeit dadurch erreicht wird, dass „die Bevölkerung den Konsum von Fleisch sowie die Anzahl ihrer Flüge“ reduziert.

Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus Kohei Saito Gregor Wakounig (Übers.), dtv Verlag 2023, 320 S., 25 €



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Von Veritatis

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