Am Deutschen Theater Berlin beginnt die Intendanz Iris Laufenbergs mit einer Suchbewegung: „Weltall Erde Mensch“ geht den Möglichkeiten einer besseren Welt nach – per Reise in andere Wahrscheinlichkeiten. Ein grandioser Auftakt

Gegen Ende des dritten Jahrtausends herrscht seit Jahrhunderten weltweiter Kommunismus. Das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ ist nach streng wissenschaftlicher Methode verwirklicht. Die Menschen leben in Freiheit und Gleichheit zusammen und schauen die Dinge, wie sie sind. Dafür erhalten sie, wie es seit tausend Jahren Brauch ist, zur Jugendweihe das Buch Weltall Erde Mensch.
Das ist der Ausgangspunkt der gleichnamigen, fast vierstündigen Inszenierung, mit der das Deutsche Theater Berlin (DT) am Samstag nicht nur die neue Spielzeit, sondern auch die neue Intendanz unter Iris Laufenberg eröffnet hat. Laufenberg, bisher Leiterin des Schauspielhauses Graz, folgt auf Ulrich Khuon, der dem DT fast 15 Jahre vorstand. Große Fußstapfen also, aber man kann sagen: Der Abend macht Hoffnung, dass hier eine gute neue Ära beginnt.
Regisseur Alexander Eisenach, der auch als Autor tätig ist und zum mit Laufenberg angetretenen künstlerischen Team gehört, hat das Stück mit dem Ensemble erarbeitet. Dabei verbleibt er nicht auf der komisch-quasiapologetischen Ebene, mit der es beginnt: Eine Jugendweiheszene, bei der zwölf Schauspieler:innen das Publikum adressieren, in den Händen je ein Exemplar des in der DDR von Mitte der 50er bis Mitte der 70er an Jugendliche ausgegebenen Buches. Denn in die heile Welt bricht die Erkenntnis ein, dass auch das sozialistische Ende der Geschichte keins ist: aus einer anderen Wahrscheinlichkeit, einem Paralleluniversum, kommt Besuch und berichtet von einer Welt ohne Männer – was den Frauen vor Augen führt, wie wenig mit dem Kapital das Patriarchat abgeschafft wurde. Das Ereignis wird zum Motivator für einen wilden Ritt durch Raum, Zeit und Theorie. Denn eine Gruppe mutiger „Astrogatoren“ macht sich auf die Reise in Richtung „Whileaway“, um diese männerlose Welt zu besuchen. Geplante Reisezeit: 200 Jahre, mitten durch ein schwarzes Loch.
Tanzen, singen, lachen: ein Fest der Sinnlichkeit
Die verschiedenen Erzählfäden verlieren sich in der Folge immer wieder, um sich dann wieder zu berühren; zugleich gibt es nach postdramatischer Manier lange theoretische Reflexionen über Zukunft und Utopie, Heldentum und Kollektivität, lineares Erzählen und die „Erzählform Tasche“.
Wem das nun dröge vorkommt, der sei beruhigt: Das Ganze ist ein Fest der Sinnlichkeit: hier wird getanzt und gespielt, deklamiert, geschrien, geflüstert; die Emotionen fliegen hoch und runter, es wird viel gelacht und zumindest einer Zuschauerin war danach zum Weinen zumute.
Manche Gags mögen offensichtlich sein, so, wenn es heißt, auch die Kunst sei jetzt Offenbarung, keine Vernebelung mehr – und dann die Nebelmaschinen angeworfen werden. Andere sind subtiler: Die immer wieder kolportierte zentrale Bedeutung des Theaters für das Glück der Menschheit ist gelungene Selbstironie und ein leiser Seitenhieb auf Kolleg:innen, die sich tatsächlich als Weltverbesserungsapparat verstehen.
Dabei kommen auch Drehbühne und Livevideotechnik hervorragend zum Einsatz. Erstere suggeriert die ineinander verlaufenden Wahrscheinlichkeiten. Letztere versinnbildlicht tatsächlich größere Nähe oder Gleichzeitigkeit, wenn etwa Szenen auf einen halb heruntergelassenen Gazevorhang projiziert werden.
„Weltall Erde Mensch“ ist kein Propagandastück
Das Deutsche Theater reaktiviert hier ein utopisches Denken, das in Zeiten des sich zu Tode siegenden Kapitalismus verloren geglaubt schien. Dafür graben sie tief im kollektiven Gedächtnis. Die Verbindung zwischen utopischem Sozialismus und dem Traum vom Weltall ist uralt: Schon 1908 beschrieb Alexander Bogdanow in Der rote Planet eine Erde, die den Sozialismus von Marsbewohnern lernt. Auf den Film Die Reise zum Mond von 1902 wird visuell direkt angespielt, wie auch auf sozialistische Ästhetik vor der Gleichschaltung zum Realismus. Dass der Weltraum nicht nur für Ressourcen und imperiales Machtstreben steht, sondern Ausdruck einer Hoffnung auf ein besseres Leben auf der Welt selber ist – das ist heutzutage wieder ein subversiver Gedanke. Auch die Überlegung, dass endgültige Gerechtigkeit erst mit dem Sieg über den Tod erreicht wird, weil damit auch die Zeit dem Privatbesitz entzogen wird, eine Welt der Gleichen unter Gleichen also nur eine der Unsterblichen ist, ist in ihrer so klar ausformulierten Schönheit selten zu hören.
Doch Weltall Erde Mensch ist kein Propagandastück, ganz im Gegenteil. Es sind die Zweifler und Zögerer, die immer wieder im Mittelpunkt stehen; die aus dem Streben nach dem guten Leben eine Suchbewegung machen und nicht das Abhaken eines Programms. Was, wenn der neue Mensch keine Utopie, sondern eine Dystopie ist? Wenn wir mit dem „Traum der Freiheit einschlafen“ und „im Gefängnis“ erwachen? Wäre der Sieg einer Idee nicht der Tod aller anderen Ideen? So gut kann man von der Dialektik der Aufklärung erzählen!
Am Ende löst sich alles auf in einer slapstickhaften Szene, die sich anfühlt, als sei man auf einem Ketamintrip hängen geblieben: da quietscht ein geflügelter Urmann auf der Bühne rum und behaarte Mandarinen gehen zur Therapie – bis schließlich die Jugendweihe-Szene zurückkehrt („Das war unser Kulturprogramm“), nur um gleich wieder zu entschwinden. Es gibt keinen Halt in der Geschichte, aber es ist unsere Aufgabe als Menschen, unsere Geschichte in die Hand zu nehmen – denn es gibt mehr Möglichkeiten, als wir denken.
Weltall Erde Mensch Text: Alexander Eisenach und Ensemble, Regie: Alexander Eisenach Deutsches Theater Berlin
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