Im Gespräch 29 Prozent der für die Mitte-Studie 2023 Befragten vertreten neurechte Orientierungen – vor allem „entsicherte Marktförmige“. Wer das ist und was der Studientitel „Die distanzierte Mitte“ bedeutet, erklärt Mitherausgeber Andreas Zick
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Kundgebung der AfD Thüringen im September 2022 unter dem Motto „Zuerst unser Land! Leben muss bezahlbar sein“
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Herr Zick, heute erscheint die neue „Mitte-Studie“, in der Sie den Rechtsextremismus in der deutschen Gesellschaft untersuchen. Wie rechts ist die sogenannte Mitte?
Andreas Zick: Zunächst muss man feststellen, dass die Gefahr nicht mehr nur vom klassischen Rechtsextremismus kommt, sondern zunehmend von einer neurechten, völkisch-autoritären Ideologie. Diese wird etwa von Teilen rechtspopulistischer Milieus oder verschwörungsorientierter Gruppen vertreten. Die Neue Rechte distanziert sich zwar offiziell vom Nationalsozialismus, jedoch teilt sie mit dem klassischen Rechtsextremismus etwa die Ablehnung des Staates und seiner Institutionen. Außerdem ist sie geprägt durch einen rassistischen Ethnopluralismus, wonach manche Ethnien angeblich minderwertige
it dem klassischen Rechtsextremismus etwa die Ablehnung des Staates und seiner Institutionen. Außerdem ist sie geprägt durch einen rassistischen Ethnopluralismus, wonach manche Ethnien angeblich minderwertiger seien und sich Völker nicht vermischen sollten. Des Weiteren beschwört die Neue Rechte verschwörungstheoretische Mythen: Dass man seine Meinung nicht mehr frei äußern könne oder dass uns „die da oben“ betrügen würden. Schließlich wird vermittelt, dass auch gewaltsamer Widerstand gegen die aktuelle Politik nötig sei. Solche teils menschenfeindlichen und antidemokratischen Positionen sind nun aber nicht nur unter Anhängerinnen und Anhängern der AfD weit verbreitet, sondern auch immer mehr in der Mitte der Gesellschaft.Wie zeigt sich das?Insgesamt 29 Prozent der von uns Befragten vertreten die neurechten Orientierungen. Wir bemerken zudem einen klaren Anstieg geschlossen rechtsextremer Einstellungen – von 1,7 Prozent in der letzten Mitte-Studie auf aktuell mehr als acht Prozent. So sind nun beispielsweise 24 Prozent der Meinung: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzig starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“ Bei den jüngeren Befragten, bei bildungsschwächeren Gruppen oder den Ostdeutschen ist die Zustimmung sogar noch höher. Das alles zeigt den gefährlichen Rechtsruck der Mitte, der zugleich vor dem Hintergrund manifester Hasstaten und einer starken Reorganisation des Rechtsextremismus verstanden werden muss.Wie konnten rechte Erzählungen so salonfähig werden?Erstens werden viele antidemokratische Einstellungen gar nicht als solche verstanden. Sie basieren zwar oft auf rassistischen, antisemitischen, sexistischen und klassistischen Ideologien der Minderwertigkeit – doch diese werden einfach geleugnet, indem jene, die sie lautstark äußern, zugleich behaupten, sie wären die Opfer, die ihre Meinung nicht sagen dürften. Der Rechtspopulismus hat den Wutbürger gewissermaßen politisch veredelt. Ein anderer Grund sind die multiplen Krisen, die sich immer stärker auf die Lebensverhältnisse auswirken – da sind Konflikte zunächst normal. Die entscheidende Frage ist, wie wir mit den Krisen und Unsicherheiten umgehen. In manchen Fällen kann das den Zusammenhalt stärken – wie etwa nach der Flutkatastrophe in Westdeutschland vor gut zwei Jahren. Meist aber ist das Gegenteil der Fall: Menschen suchen in ihrer nationalen Zugehörigkeit einen Vorteil im vermeintlichen Konflikt um knappe Ressourcen in Krisenzeiten.Placeholder infobox-1Warum profitiert die Rechte im Gegensatz zur Linken von der Krise – obwohl gerade in Krisenzeiten die Verarmung der Menschen zunimmt?Also, die Linke zerlegt sich ja wieder mal selbst, kleine Teile rücken sogar nach rechts. Linke Ideen stoßen zudem auf eine Mauer in der Mitte, die eine Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit und Umverteilungen ablehnt. Außerdem sind es eben nicht nur die Prekären, die dem Rechtspopulismus anhängen, sondern wie gesagt auch ein Teil der Mittelschicht. Diese Menschen haben Angst vor einem Abstieg – und der Rechtspopulismus spielt sich dann als angeblicher Retter auf. Da geht es um manifeste Interessen, eigene Privilegien zu schützen, die man bedroht sieht. Unsere aktuellen Analysen zeigen, dass vor allem sogenannte „entsicherte Marktförmige“ neurechte Einstellungen vertreten – das sind Menschen, die sich von Krisen bedroht fühlen und zugleich meinen, dass andere, die dem Wettbewerb nicht standhalten, selbst schuld seien.„46 Prozent sind für Umverteilung von Vermögen“Und die rechten Erzählungen verfangen dann mehr als eine Kritik am bestehenden kapitalistischen Ausbeutungssystem?Kapitalismuskritik, Modelle einer gerechteren Verteilung oder Konsumverzicht könnten greifen, wenn der Krisenmodus ein anderer wäre: Also wenn wir in Krisenzeiten besonders in das Gesundheitssystem und in Bildung investieren und die Solidarität mit den Schwächsten hochfahren würden, etwa mit Kindern und Alten. Aber das greift nicht, weil wir in einem System des permanenten Wettbewerbs leben. Zudem bekommen die Leute mit, dass die Schwächeren nicht gut durch die Krisen kommen. All das führt dazu, dass Konkurrenzdenken und Besitzstandswahrung in Krisen nochmal an Schärfe gewinnen. In dieser Logik muss man letztlich gegen andere kämpfen, um den Status quo zu erhalten oder vermeintliche Bedrohungen abzuwehren. Dabei wird die Gefahr immer größer, dass demokratische Grundwerte beschädigt werden, weil Rechtspopulisten und Rechtsextreme die Spaltung vorantreiben, indem sie Wut und Verachtung schüren, den Klimawandel leugnen oder Minderheiten als Feindbilder kennzeichnen. Demgegenüber wären Krisenzeiten eigentlich gut geeignet, um soziale Ungleichheit anzusprechen. In unserer Studie meinen 46 Prozent, das Vermögen der Reichen müsse zugunsten der Armen umverteilt werden und 32 Prozent meinen das noch „teils-teils“.Die neue italienische Regierung zeigt, was viele rechte Parteien wollen: eine Politik gegen die Armen. Sind rechte Ideologien letztlich ein Feigenblatt des Neoliberalismus?Das kann man so sagen, zumindest gelingt es der extremen Rechten, sich als harmloser Kümmerer in einer rabiaten Gesellschaft dazustellen. Die Rechten versprechen, die Mittelschicht zu schützen – indem man es den Ärmsten wegnimmt. Und auch die völkische Idee selbst, also der nationalchauvinistische Gedanke von einem starken Deutschland, ist ja verbrämt neoliberal: Dies appelliert an die Konkurrenz und verspricht der eigenen Klientel Macht und Dominanz. Zugleich gibt es im Rechtspopulismus dieses bigotte Verhalten: Man macht Geschäfte, hält alle Beziehungen zu Russland aufrecht, man nimmt auch finanziell alles aus den Parlamenten mit, aber man hetzt gegen dieses System.Laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wären die Hauptleidtragenden einer AfD-Regierung ihre eigenen Wähler:innen – und zwar in Bezug auf fast alle Politikbereiche. Warum wählen die Leute trotzdem AfD?Die AfD wünscht sich so starke Einschnitte bei den Sozialleistungen wie keine andere Partei. Aber indem sie gegen Minderheiten, insbesondere gegen Migranten hetzt, soll den Menschen weisgemacht werden, dass die Probleme verschwinden würden. Immer mehr Leute glauben dieser Propaganda, weil sie ihre eigene Situation sowie die gesellschaftliche Realität falsch einschätzen. Zugleich wächst in der individualistischen Gesellschaft die Einsamkeit, viele Menschen haben keine Anbindung mehr an Institutionen. Das macht ebenso anfälliger für den Populismus wie die Tatsache, dass viele Leute bei all der Veränderung nicht mehr wissen, nach welchen Spielregeln die Gesellschaft überhaupt funktioniert. Dieses Gefühl der Regel- und Normlosigkeit ist besonders im Osten der Republik stark. Die blühenden Landschaften sind ausgeblieben, das frühe Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, sitzt fest. Populismus als Notwehr?Wenn dann als Notwehr gegen einen Untergang, den man selbst inszeniert. Es reicht nicht, nur zu sagen, dass eine politische Machtlosigkeit die Menschen zu den Populisten treibe. Der Extremismus erreicht die Leute vor allem dort, wo sie bereits Ressentiments haben.Was sind das für Ressentiments und woher kommen sie?Das, was wir als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erfassen, drückt sich vor allem in rassistischen Einstellungen gegenüber Gruppen aus, die als „Fremde“ verstanden werden. Stark vertreten sind auch antisemitische und klassistische sowie sexistische Einstellungen. Diese Ressentiments kommen aus der Mitte der Gesellschaft und aus institutionellen Praktiken der Selektion, wo die Abwertung immer wieder reproduziert wird. Das alles entspringt einer historisch gewachsenen Ideologie der Ungleichwertigkeit, die gerade in Krisenzeiten aktiviert wird. Gut 34 Prozent der von uns Befragten meinen: „Im nationalen Interesse können wir nicht allen die gleichen Rechte gewähren.“„Es wäre wichtig, dass mehr Menschen wieder das Gefühl haben, mitwirken zu können und gebraucht zu werden“Wie lassen sich solche Vorurteile abbauen?Zentral wäre ein Abbau struktureller Diskriminierung. Außerdem müssen Vorurteile aufgearbeitet werden, statt sie zu leugnen oder abzuwehren. Dafür sind politische, historische und auch soziale Bildung abseits von Hetze oder Fake News wichtig. Im Alltag noch wichtiger ist es, mit anderen, die vermeintlich anders sind, in Kontakt zu kommen. Das ist ein Königsweg, der Distanzen und Herabwürdigungen bremst. Dafür braucht es wiederum Räume der Begegnung ohne Ausgrenzungsmechanismen, das heißt Räume, in denen die Würde aller garantiert ist. Generell wäre es wichtig, dass mehr Menschen wieder das Gefühl haben, mitwirken zu können und gebraucht zu werden. Man muss den Menschen ein Identitätsangebot machen.Und wer macht heute dieses Angebot?Bildungseinrichtungen, Wohlfahrtsverbände, die Zivilgesellschaft, Vereine und viele andere. Aber immer mehr Angebote werden auch von Rechten gemacht – und das mit größerem Erfolg. Sie bieten eine nationale Nostalgie vom Deutschsein, von deutschen Familien und deutschen Tugenden an. Die demokratischen Parteien hingegen haben bisher kaum schlüssige Antworten auf die Frage, wie unsere Gesellschaft angesichts der globalen Herausforderungen aussehen soll. Stattdessen verfallen sie selbst in einen populistischen Duktus und werfen sich gegenseitig Kontrollverlust vor – etwa wenn es um den Klimawandel oder um Fragen der Migration geht, denken wir nur an die Debatte um die Silvestergewalt. All das verstärkt das destruktive Misstrauen gegenüber der Demokratie.Wie ließe sich dem beikommen?Der massive Vertrauenseinbruch kann nicht durch Sicherheitsversprechen kompensiert werden, die aufgrund der globalen Krisen nicht eingehalten werden können. Demgegenüber wäre es gut, wenn die Politik insgesamt transparenter agieren würde. Viele Politikerinnen und Politiker haben sich zudem mehr an den Thesen des Populismus abgearbeitet als eigene Akzente zu setzen. Ich möchte aber nicht alles schlechtreden: Es gibt Ansätze zu Dialogen, etwa nach der fatalen rechten Demonstration 2018 in Chemnitz, da hat es viele Veranstaltungen auch im Kulturbereich gegeben. Mir fehlt aber insgesamt ein positiver Blick auf das Land: Warum tun sich viele so schwer damit, festzustellen, wie gut sie durch die Krisen gekommen sind, auch weil es massive Hilfen gab? Ebenso fällt es dem Populismus zu leicht, Einwanderung zu skandalisieren. Uns allen würde es ohne Einwanderung viel schlechter gehen. Die Leistungen vieler Minderheiten werden zu wenig anerkannt, das gilt auch für die Ostdeutschen.Es braucht also andere Erzählungen über unsere Gesellschaft?Wir müssen mehr darüber nachdenken, wie sich Identitätszugehörigkeit begründet, wie wir Teilhabe gewährleisten können und wie wir zusammenleben wollen.„Nur elf Prozent sind nicht der Meinung, dass der Klimawandel eine Bedrohung für das Land ist“Können Sie etwas konkreter werden?Wir könnten darüber nachdenken, wie Städte, in denen Menschen offensichtlich auch gerne leben, inklusiver und würdevoller gestaltet werden können, selbst wenn sie nach der Krise veröden. Barcelona macht das gerade vor: Früher war die Stadt vom Auto geprägt und von hektischem ökonomischem Wettbewerb, jetzt wird sie ökologisch umgebaut: Teile werden für Autos gesperrt, so dass sich Leute dort begegnen und neue Formen des Zusammenlebens entstehen können. Außerdem müsste die Zivilgesellschaft viel mehr gefördert werden, sie braucht Entlastung und Gesetze, die die Arbeit der Demokratiestärkung dauerhafter unterstützen. Das heißt, der Staat müsste wieder mehr investieren?Es wird nicht anders gehen, als in Bildung, Infrastruktur und in die Sozialsysteme zu investieren. Wachsende soziale Ungleichheit schädigt die Demokratie. Und mal ganz banal gesprochen: Wie will ich Kindern, Eltern und Lehrpersonal erklären, dass wir in einer bildungsstarken Demokratie leben, wenn der Putz von der Wand fällt? Und eines ist auch klar: Wir merken immer mehr, dass wir die Rechnung ohne die Umwelt gemacht haben. Positiv gewendet heißt das: Im Zuge des Klimawandels gäbe es eine historische Chance, die Transformation zu nutzen, um eine bessere Gesellschaft zu bauen. Nur elf Prozent der Befragten der Mitte-Studie sind nicht der Meinung, dass der Klimawandel eine Bedrohung für das Land ist. Demgegenüber ist eine klare Mehrheit progressiv in Bezug auf Klimaschutz. An solche fortschrittlichen Mehrheiten gilt es anzuknüpfen. In der Mitte-Studie meinen immerhin 76 Prozent der Befragten: „In einer Demokratie sollte die Würde und Gleichheit aller an erster Stelle stehen“; weitere elf Prozent stimmen dem „teils-teils“ zu.