Migration Die Zahl der unerlaubten Einreisen ist stark gestiegen. Doch in vielen Fällen ist die Grenzüberquerung ohne Papiere nicht strafbar. Wie mit der Statistik Stimmung gemacht wird – bis zu Behörden, Gerichten und dem Bundesinnenminsterium
Kein Pass? Ab in die Statistik: „Da überprüft später niemand, ob nicht doch ein Bleiberecht bestand“
Foto: Thomas Victor / Agentur Focus
Im Osten des Landes könnte es in Zukunft wieder öfter heißen: Guten Tag, einmal die Ausweispapiere, bitte. Denn dort kommen immer Menschen ohne Papiere an. Hatte die Pandemie zuletzt international für einen Rückgang der Fluchtbewegungen gesorgt, sind die Zahlen jetzt wieder stark gestiegen. Im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum beträgt der Anstieg für die deutsch-tschechische Grenze 50 Prozent, für die deutsch-polnische Grenze sogar 144 Prozent. Über diese Grenzen kommen inzwischen mehr Menschen als an allen anderen deutschen Grenzabschnitten zusammen. Das ruft die Ost-CDU auf den Plan. Die Landesinnenminister Sachsens und Brandenburgs, Armin Schuster und Michael Stübgen, fordern stationäre Grenzkontrollen und werden da
dabei von ihrem Parteivorsitzenden Friedrich Merz unterstützt. Akteure wie AfD und Bundespolizeigewerkschaft plädieren schon länger dafür. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lehnt das bisher ab, will bei der Bundespolizei aber eine Taskforce „Schleuserkriminalität“ in Kooperation mit Polen und Tschechien einrichten. Tschechien habe dem bereits zugesagt. Die Taskforce solle „den Fahndungsdruck deutlich erhöhen“, was effektiv darauf hinauslaufen dürfte, dass im Grenzgebiet künftig genauer hingeschaut wird. Weitreichende Folgen also für eine Statistik, die erst wenige Wochen alt ist – und ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Bild hatte Mitte August aus einem internen Bericht der Bundespolizei zitiert. Jetzt, genau einen Monat später, stellt Faeser ihr neues Projekt vor. In der Schublade wird sie es schon länger gehabt haben, schließlich stehen die Praktiken von Schleusern schon länger im Fokus und werden auch von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Der Verweis auf die steigenden Zahlen ist jedoch fester Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit des Innenministeriums zu diesem Thema. „Ein Begriff, den das Recht gar nicht kennt“Sind die Zahlen wirklich so klar, wie sie scheinen? Adrian Wedel, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin, beginnt das Gespräch mit dem Freitag mit einer Vorbemerkung. Die illegale Einreise sei „ein Begriff, den das Recht gar nicht kennt“. Es gebe den Straftatbestand der unerlaubten Einreise, Paragraph 95 des Aufenthaltsgesetzes. Der ist erfüllt, wenn Personen ohne Aufenthaltstitel, Einreisevisum oder Reisepass die deutsche Grenze überqueren. Allerdings verbietet die Genfer Flüchtlingskonvention in Artikel 31, die unerlaubte Einreise zu bestrafen, wenn sie im Zusammenhang mit einem Asylantrag steht. Laut deutscher Rechtsprechung gilt das auch dann, wenn die Betroffenen auf dem Weg nach Deutschland sichere Drittstaaten durchquert haben. Selbst für den Fall, dass der Asylantrag abgelehnt werde, erklärt Wedel, gebe es europäische Rechtsprechung, die die Bestrafung in der Regel ausschließe. Um aussagekräftige Zahlen darüber zu erhalten, wer tatsächlich illegal, also auf strafbare Weise ins Land kommt, müssten die Asylbewerber also herausgerechnet werden, selbst, wenn ihre Chancen auf Anerkennung gering sind. Wer die Menschen eigentlich sind, um die es hier geht, ist nicht leicht herauszufinden. Für unerlaubte Einreisen sind die Herkunftsländer nicht aufgeschlüsselt – schließlich fehlen die entsprechenden Papiere. Ein Blick in die generellen Einreisestatistiken zeigt: Neben europäischen Ländern, die 79 Prozent der Zuwanderung ausmachen, kommen die Menschen derzeit vor allem aus Syrien, der Türkei und Afghanistan. Manchmal, so Rechtsanwalt Adrian Wedel, gebe es in diesen Ländern gar keine Möglichkeit, einen Pass zu bekommen. Auch diese Fälle fließen in die Statistik. Die Anerkennungsquoten für Syrien und Afghanistan betrugen im Jahr 2022 jeweils 90 und 83 Prozent. Für die Türkei allerdings sank die Quote von knapp 28 Prozent im Jahr 2022 auf 15 Prozent in diesem Jahr. Feindliche Stimmung vor GerichtBerücksichtigen die Zahlen die Asylbewerber? Wedel winkt ab. „Das sind polizeiliche Statistiken, die Tatverdächtige erfassen. Da überprüft später niemand, ob nicht doch ein Bleiberecht bestand.“ Wenn solche Zahlen es dann aus den Polizeistatistiken über Medien und konservative Opposition bis zur Bundesinnenministerin schaffen, mache sich das auch in der täglichen Arbeit bemerkbar. „Je feindlicher die gesellschaftliche Stimmung wird, desto schwerer wird es, die Ansprüche einzelner Menschen in den Verfahren durchzusetzen. Man merkt, dass sich so ein Diskurs auch vor Gericht widerspiegelt, dass den Menschen zunehmend misstraut wird, Fluchtgeschichten nicht geglaubt werden, sondern grundsätzlich gefragt wird: ‘Lügen die uns nicht vielleicht doch an?’“ Und dann gibt es da noch die Praxis, die Adrian Wedel den „eigentlichen Skandal“ nennt. Immer wieder bekämen seine Mandanten Strafbefehle per Post, wegen Paragraph 95 Aufenthaltsgesetz, unerlaubte Einreise. Obwohl sie unter die internationalen Regelungen fallen, die eine Bestrafung ausschließen. Strafbefehle sind schriftliche Verfahren ohne mündliche Verhandlung und haben die gleiche Wirkung wie ein Urteil. Irgendwann kommt ein Brief ins Haus, der eine Geldstrafe und eine Frist festlegt. Oft fehle auch noch die Übersetzung, sagt Wedel. Viele der Betroffenen „verstehen das erst gar nicht, oder wenn sie es verstehen, lesen sie erst mal nur: ‘Sie sind ohne Aufenthaltstitel über die Grenze…’ und denken, wahrscheinlich wird es seine Richtigkeit haben.“ Wenn er dann Einspruch einlege, stelle die Staatsanwaltschaft das Verfahren in den meisten Fällen ohne Auflagen ein, manchmal gebe es Freisprüche. „Keiner meiner Mandantinnen und Mandanten wurde nach einem solchen Verfahren verurteilt. Von Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Feld tätig sind, höre ich das Gleiche. Aber wir können unsere Arbeit nur machen, wenn die Leute zu uns kommen, weil sie wissen, welche Rechte sie haben.“Überprüfen lässt sich das nicht, die Einstellungsquoten von Strafbefehlsverfahren werden nicht erfasst oder nach Delikten aufgeschlüsselt. Am genauesten von allen schaut weiterhin die Polizei hin – und speist jeden, der ohne Papiere einreist, in ihre Statistik ein. Auch, wenn er da eigentlich nichts zu suchen hat.