Meinung Der Philosoph Slavoj Žižek ist nach dem Stopp des Palästinakongresses und den Verboten gegen Varoufakis besorgt über die Einschränkung der Redefreiheit. Die jüngste Repression gegen Palästinenser und Juden drohe Antisemitismus zu schüren


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Ausgabe 17/2024

Slavoj Žižek sieht im Einreiseverbot gegen Yanis Varoufakis Deutschland an der Grenze zum Autoritären kratzen

Slavoj Žižek sieht im Einreiseverbot gegen Yanis Varoufakis Deutschland an der Grenze zum Autoritären kratzen

Foto: Leonhard Simon / picture alliance / SZ Photo

Es ist erst April, aber wir haben schon einen Kandidaten für das Foto des Jahres 2024: Am 12. April stoppte die deutsche Polizei einen Palästina-Kongress in Berlin. Unter den Abgeführten war auch Udi Raz, ein Jude mit einer roten Kippa. Ein Grinsen der deutschen Polizisten scheint erkennbar, die hier einen Juden wegschleppen. Nach Zählung der Berliner Kuratorin und Journalistin Emily Dische-Becker, selbst aus einer Familie von Überlebenden, sind diejenigen, die im anhaltenden deutschen „Kampf gegen Antisemitismus“ gecancelt wurden, zu etwa 30 Prozent jüdischer Herkunft. Auch jener Kongress war eine gemeinsame Initiative der Organisationen Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost und DiEM25, deren führende Persönlichkeit Y

Antisemitismus“ gecancelt wurden, zu etwa 30 Prozent jüdischer Herkunft. Auch jener Kongress war eine gemeinsame Initiative der Organisationen Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost und DiEM25, deren führende Persönlichkeit Yanis Varoufakis ist.Dem früheren Finanzminister Griechenlands war mitgeteilt worden, dass das deutsche Innenministerium für die Dauer des Kongresses ein Einreiseverbot gegen ihn erlassen habe, das auch eine etwaige Online-Zuschaltung umfasste. Dass das Innenministerium im Nachhinein noch nicht einmal zu der Sanktion stehen wollte und Journalisten sich auf die Suche nach den Verantwortlichen machten – war es nun doch das Bundesinnenministerium oder die Berliner Innensenatorin, die Bundespolizei, die Berliner Ausländerbehörde? –, unterstreicht noch Yanis Varoufakis’ bitteren Kommentar: dass nämlich Deutschland mit diesem Verbot die Grenzen des Autoritarismus überschreite.Und auch wenn einzelne Politiker von Die Linke nun das Verbot kritisieren, haben alle deutschen Parteien, inklusive der Grünen und der Linken, zu der anti-antisemitischen Cancel Culture beigetragen, die sich nun auch gegen jenen Palästina-Kongress entlud. Auch in den USA gibt es vergleichbare Vorgänge: Unter anderem wurde die Politologin Jodi Dean vom Hobart and William Smith College in Geneva, Upstate New York, beurlaubt, nachdem sie einen Aufsatz veröffentlicht hatte, der emanzipatorische Potenziale im Hamas-Anschlag vom 7. Oktober suchte. Dennoch bleibt Deutschland das Extrembeispiel dafür, wie sich das Establishment die Cancel Culture angeeignet hat.Um jeden Verdacht über das vermeintlich antisemitische Potenzial von Varoufakis’ Rede zu zerstreuen, sollte man sie einfach lesen. Sie verurteilt eindeutig jede Form von Antisemitismus. Alles, was Varoufakis fordert, ist die Anwendung der gleichen Maßstäbe auf beiden Seiten des Konflikts, also das Ende der offensichtlichen Doppelmoral bei dessen Bewertung. Am 13. April 2024 meldete CNN, dass „Hunderte von israelischen Siedlern palästinensische Dörfer umzingelten und Bewohner im gesamten besetzten Westjordanland angriffen, nachdem ein israelischer Junge, der aus einer Siedlung verschwunden war, tot aufgefunden wurde“. Nennen wir diese Angriffe beim Namen: Es geht hier um Lynchmobs statt normaler polizeilicher Ermittlungen – und die Israelische Armee sieht den Siedlern bei ihrer schmutzigen Arbeit einfach zu. Kann man sich überhaupt vorstellen, wie der aufgeklärte Westen reagieren würde, wenn Hunderte von Palästinensern israelische Siedlungen angriffen, nachdem ein palästinensischer Junge verschwunden wäre?Bomben auf ganz GazaEin anderer Fall: Am 18. Januar 2024 lehnte Premierminister Benjamin Netanjahu das Projekt eines palästinensischen Staates ab. Er versprach, dass Israel das gesamte Gebiet, das es derzeit besetzt hält, übernehmen werde – „from the river to the sea“. Er sagte das wörtlich: „Ich stelle klar, dass in jeder Vereinbarung in der Zukunft der Staat Israel das gesamte Gebiet vom Fluss bis zum Meer kontrollieren muss.“ Die Formulierung „vom Fluss bis zum Meer“ ist in den vergangenen drei Monaten besonders ins Visier geraten. Verwendeten Palästinenser oder Linke diesen Satz, um ein freies Palästina zu fordern – wie in der Parole „From the river to the sea, Palenstine will be free“, behaupteten die Rechten, dass damit der Tod aller Juden in Israel gefordert werde.Dieselbe Phrase, die bisher in diesem Sinn als völkermörderisch angeprangert wurde, wird nun von Netanjahu verwendet. Vor etwa einem Monat habe ich darüber geschrieben, wie die Formel „from the river to the sea“ nun de facto von Israel übernommen wird. Ich schrieb dies noch als Anklage, als Zuspitzung dessen, was Israel tatsächlich tut und plant, aber niemals öffentlich zugeben würde. Nun aber wird der Satz ganz offen vom Premierminister ausgesprochen. Der öffentliche Diskurs ist so unendlich obszön geworden: Am 2. April 2024 sagte Netanjahu, der Tod von sieben Entwicklungshelfern in Gaza sei ein „tragischer Fall, in dem unsere Streitkräfte unbeabsichtigt Unschuldige getroffen haben“ – wenn also Tausende von palästinensischen Kindern in Gaza sterben, ist das dann kein „tragischer Fall, in dem unsere Streitkräfte unbeabsichtigt Unschuldige getroffen haben“?Die Karten liegen jetzt auf dem Tisch: Bis vor kurzem gab Israel vor, zwei Regeln zu befolgen: Erstens sei Kritik an der israelischen Staatspolitik zulässig, Antisemitismus hingegen nicht. Zweitens richte sich die Bombardierung des Gazastreifens gegen die Hamas, die die einfachen Palästinenser selbst terrorisiere, aber nicht gegen die Bevölkerung. In letzter Zeit sind diese beiden Unterscheidungen jedoch zusammengebrochen: Netanjahu hat in einigen Interviews offen erklärt, dass heute, wo direkter Antisemitismus nicht erlaubt ist, die Kritik an Israel an seine Stelle tritt. Zugleich erklären hohe Funktionäre des Staates Israel immer offener, dass der gesamte Gazastreifen von der Ideologie der Hamas beherrscht werde.Placeholder image-1Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat behauptet, dass über 70 Prozent der Israelis die Idee einer „Förderung der freiwilligen Einwanderung“ von Menschen aus Gaza in Staaten wie Kongo unterstützten, weil in Gaza „zwei Millionen Menschen jeden Morgen mit dem Wunsch aufwachen, den Staat Israel zu zerstören“. Nach dieser Logik sind wirklich ausnahmslos alle Menschen in Gaza legitime militärische Ziele. Vor diesem Hintergrund ergeben die wahllos wirkenden israelischen Bombenangriffe vielleicht einen Sinn. Und es ist klar, dass das Westjordanland als Nächstes auf der Liste steht. Deshalb ist das oft wiederholte Argument „Israel kann die Hamas nicht wirklich auslöschen“ ganz einfach dumm. Es geht völlig am Thema vorbei: Das wahre Ziel des Krieges ist es, dass Israel den Gazastreifen und das Westjordanland vollständig integriert, um ein Großisrael vom Fluss bis zum Meer zu schaffen. Je mehr die Hamas als Bedrohung besteht, desto besser ist die israelische Militärintervention zu rechtfertigen.Wenn Israel nach der Zerstörung der meisten Gebäude und der gesamten Infrastruktur einen Waffenstillstand im Gazastreifen akzeptiert, wird dieser Schritt zweifellos als Beweis für die Selbstbeschränkung Israels begrüßt werden. Und dasselbe wäre passiert, wenn Israel beschlossen hätte, nicht auf den iranischen Drohnenangriff zu antworten. Es wird als gemäßigte Kraft gepriesen werden, die einen großen Krieg im Nahen Osten verhindert. Also soll es die Arbeit in Gaza zu Ende bringen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht hier überhaupt nicht um Solidarität mit dem Iran. Man erinnere sich vielmehr daran, was vor einem Jahr im Iran geschah, an die große Rebellion, die ausbrach, nachdem die Revolutionsgarden eine kurdische Frau im Gefängnis ermordet hatten, eine Revolte der Frauen, die die gesamte iranische Gesellschaft erfasste und das Regime in seinen Grundfesten erschütterte.Viele Kommentatoren haben bemerkt, dass in Bezug auf den Krieg in Gaza die Kluft zwischen den staatlichen und Mainstream-Medien sowie der öffentlichen Meinung auseinanderklafft. Das gilt für die westlichen Industriestaaten, aber auch für einige arabische Länder, zum Beispiel Ägypten, Jordanien und Marokko. Die Regierungen unterstützen grundsätzlich Israel, während ein großer Teil der öffentlichen Meinung mit dem Leiden der Palästinenser mitfühlt. Die Gefahr, die ich hier sehe, ist, dass sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Form von Antisemitismus entladen könnte. Und auch Handlungen wie das Canceln von Yanis Varoufakis in Deutschland könnten sich so als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung erweisen. Nennen wir das Problem beim Namen: Die Affäre um Varoufakis wäre dann ein neues, besonders verdrehtes Kapitel in der Geschichte des Antisemitismus.



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Von Veritatis

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