Laut Angaben von UN-OCHA, dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, hat die israelische Armee (IDF) mit Stand 15. Mai 35.233 Palästinenser getötet, davon mehrheitlich Frauen und Kinder. In einem historisch einmaligen Ausmaß nahm die IDF auch völkerrechtlich besonders geschützte Gruppen ins Visier. Bis zum 15. Mai starben durch israelische Bomben und Schüsse bisher 143 Journalisten sowie 266 humanitäre Helfer. 1,1 Millionen Menschen in Gaza werden aktuell der höchsten Stufe einer Hungersnot zugeordnet (IPC-Phase 5 – katastrophales Niveau der Ernährungsunsicherheit). Die komplette Stromversorgung ist seit Monaten zerstört (Blackout) und 60 Prozent aller Wohnhäuser gelten als zerstört. Doch trotz dieser Zahlen bleibt der Kanzler bis heute bei seiner Einschätzung, dass Israel sich nach wie vor vollumfänglich an das Völkerrecht halte. Dies bestätigte sein Sprecher nun erneut auf Nachfrage der NachDenkSeiten. Von Florian Warweg.
Die eklatante Doppelmoral hinter der Aussage des Regierungssprechers wird nochmal deutlicher, wenn man sich vorstellen würde, solche Verhältnisse wie in Gaza würden auf die Ukraine zutreffen. Würde die Bundesregierung auch darauf beharren, dass Russland Völkerrecht einhält, wenn seit Monaten wegen Zerstörung der gesamten zivilen Energieinfrastruktur ein kompletter Blackout in der gesamten Ukraine herrschen würde, massenhaft und systematisch Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Wohngebäude zerstört und die Mehrzahl der Todesopfer Frauen und Kinder wären – sowie wenn die russischen Streitkräfte eine dreistellige Anzahl an Journalisten und humanitären Helfern getötet hätten sowie weit über die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung unter einer Hungersnot (Phase 5 „katastrophales Niveau der Ernährungsunsicherheit“) leiden würde? Die Antwort auf diese Frage ist evident. Völkerrecht richtet sich aber nicht nach politischen Präferenzen oder einer vorgeblichen „Staatsräson“:
Es wird vor diesem Hintergrund interessant werden, ob die Bundesregierung angesichts der am 20. Mai vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) beantragten Haftbefehle gegen den israelischen Premier Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Gallant und der dazu gelieferten Begründung (die NachDenkSeiten berichteten) bei ihrer uneingeschränkten Solidarität und der Behauptung, Israel handle in Gaza völkerrechtskonform, bleibt.
Denn die Begründung des ICC-Chefanklägers Karim A.A. Khan für die Beantragung von Haftbefehlen gegen Mitglieder der israelischen Regierung hat es in sich. Er verweist unter anderem auf Beweise für das „Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung“, „vorsätzliche Tötung“, „vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen“ sowie „Ausrottung und/oder Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Alles Punkte, die zudem der völkerrechtlichen Definition von „Genozid“ sehr, sehr nahekommen.
Erklärung des ICC-Anklägers Karim A.A. Khan KC: Anträge auf Haftbefehle im Zusammenhang mit der Situation im Staat Palästina
„Auf der Grundlage der von meinem Büro gesammelten und geprüften Beweise habe ich hinreichende Gründe für die Annahme, dass Benjamin NETANYAHU, der Premierminister Israels, und Yoav GALLANT, der Verteidigungsminister Israels, die strafrechtliche Verantwortung für die folgenden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen, die auf dem Territorium des Staates Palästina (im Gazastreifen) ab mindestens dem 8. Oktober 2023 begangen wurden:
- Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung als Kriegsverbrechen entgegen Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b) Ziffer xxv des Statuts;
- Vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer iii oder grausame Behandlung als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i;
- Vorsätzliche Tötung im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer i oder Mord als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i;
- Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i oder Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe e Ziffer i;
- Ausrottung und/oder Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegen Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a, auch im Zusammenhang mit dem Tod durch Verhungern;
- Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe h);
- andere unmenschliche Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Widerspruch zu Artikel 7(1)(k).
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 15. Mai 2024
Frage Warweg
Herr Büchner, auch angesichts der Darlegung von Herrn Wagner habe ich noch einmal eine allgemeine Verständnisfrage. Der Kanzler hat ja regelmäßig erklärt, er habe vollumfängliches Vertrauen, dass Israel sich bei seinem Vorgehen im Gazastreifen an das Völkerrecht halte. Bleibt der Kanzler weiterhin bei dieser Einschätzung?
Vize-Regierungssprecher Büchner
Ja
Frage Jung (Jung & Naiv)
Ich möchte noch einmal zum Thema Nahostkonflikt zurückkehren. Ich war nur ein bisschen verwirrt mit Blick auf das Völkerrecht, weil Herr Büchner da eine klare Haltung des Kanzlers geäußert hatte. Mein Stand ist: Wenn ein Land eine Resolution des UN-Sicherheitsrats ignoriert, dann ist das ein Völkerrechtsbruch. Es ist ja eine Tatsache, dass Israel die Forderung nach einem Waffenstillstand ignoriert. Bleiben Sie bei Ihrer Aussage von vorhin?
Büchner
Ich glaube, die Haltung des Bundeskanzlers in dieser ganzen Frage ist eigentlich völlig klar und hat sich nicht geändert, und das habe ich eben zum Ausdruck gebracht. Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen den anhaltenden Angriff der Hamas zu verteidigen. Die Selbstverteidigung muss der Bestimmung des humanitären Völkerrechts entsprechend ausgeübt werden. Die Bundesregierung fordert – das wissen Sie auch – die Einhaltung des humanitären Völkerrechts von Israel sowohl in direkten Gesprächen als auch öffentlich ein, und das werden wir auch weiterhin tun. Auch vor dem Internationalen Gerichtshof haben wir das alles umfassend dargelegt.
Zusatzfrage Jung
Ich hatte mich jetzt auf die Resolution des Sicherheitsrats bezogen, der einen Waffenstillstand in Gaza forderte. Dieser Forderung kommt die Hamas nicht nach, Israel aber auch nicht; die verstoßen beide gegen die Resolution. Das erkennen Sie an?
Büchner
Ich habe hier das gesagt, was ich zu sagen habe.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 15.05.2024