Europa Stephan Steinlein ist deutscher Botschafter in Frankreich. Schon einmal war er das – im Jahr 1990. Ein Besuch beim letzten Botschafter der DDR in Paris, der jetzt zurück an der Seine ist
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Ausgabe 22/2024
„Ich habe mir, also, das hoffe ich, ein gewisses Verständnis für die Nöte der Menschen bewahrt, ohne jeden Dünkel“, sagt Steinlein
Foto: Andreas B. Krüger für der Freitag
Petites pâtisseries, kleine Gebäckstücke, sind auf dem runden Empire-Tisch im Grünen Salon des Palais Beauharnais angerichtet. Vergoldeter Stuck, schwere Vorhänge, ausladende Kronleuchter und durch die hohen Fenster ein Blick über den blühenden Garten bis hinüber zur Seine. Die Residenz des deutschen Botschafters liegt nur wenige Schritte von der Nationalversammlung und dem Außenministerium am Quai d’Orsay entfernt. Weit hat es Stephan Steinlein nicht zu den Machtzentren der französischen Republik. Seit August 2023 ist der 63-Jährige hier Botschafter der Bundesrepublik. Hier, wo 1990 seine diplomatische Karriere begann. Auch als Botschafter. Sechs Wochen lang. Für einen Staat, der wenig später Geschichte sein sollte.
Über diese Zeit Geschichten erzählen, das kann Steinlein gut. Er ist zugewandt und dann am authentischsten, wenn es gar nicht um Politik geht, sondern um Menschen.In seine Geburtsstadt Finsterwalde, in der er die ersten Lebensjahre verbrachte, kehrt er nur selten zurück. Einmal, zu seinem 60. Geburtstag, reiste er mit seinen Kindern in die Lausitz: „Das war genau in der Corona-Zeit. Alles hatte zu, und wir haben irgendwo gesessen und Döner gegessen.“ Als er neun war, ging es für die Pfarrersfamilie weiter nach Nauen und für Stephan später zur Lehre ins Walzwerk Hennigsdorf. Bei seiner kirchlichen Herkunft war die Berufsausbildung die einzige Chance, ans Abitur zu kommen. „Man musste schon als Kind immer lernen, zwischen Kenntnissen und Bekenntnissen zu unterscheiden. Das war so ein Erziehungsgrundsatz. Die können dir zwar Kenntnisse abverlangen, zum Beispiel: Was ist die Lehre des historischen und dialektischen Materialismus? Aber sie können nicht fragen, ob das wahr ist, mir kein Bekenntnis abverlangen. Damit bin ich aufgewachsen.“Dissens mit Wolfgang UllmannStatt Stahl in Container zu verladen und einzuschmelzen, sitzt der Schüler lieber hinter dem Kranführer, um zu lesen. Trotzdem glaubt er: „Das war eine Erfahrung, die alle Kollegen, die Abiturienten im Westen nicht machen konnten. Dass man wirklich mal mit Arbeitern zusammen war. Und ich kam zwar aus einem Akademikerhaushalt, aber bei uns zu Hause gingen alle ein und aus, erzählten von ihren Schwierigkeiten oder suchten ein Bett. Es war ein offenes Haus, und ich habe mir, also, das hoffe ich, ein gewisses Verständnis für die Nöte der Menschen bewahrt, ohne jeden Dünkel.“An der Theologischen Hochschule Berlin traf er schließlich auf Gleichgesinnte, die auch von Hause aus systemkritisch, oppositionell und stark politisiert waren. „Es war eine Suche nach Wahrheit, nach Philosophie, nach Erkenntnissen, und immer die Frage: Versuchst du, in den Westen zu gehen?“ Steinlein pflegte Kontakte zur polnischen Oppositionsbewegung Solidarność und gehörte zum Kreis um seinen Doktorvater Wolfgang Ullmann, den späteren Mitgründer von Demokratie Jetzt und Bündnis 90, bis zu seinem Tod 2004 Herausgeber des Freitag. Ullmann war es auch, der ihm 1989 zu einem Forschungsaufenthalt in Straßburg verhalf, wo er Französisch lernte. Dann fiel die Mauer, Steinlein lernte die Deutschlehrerin Françoise kennen, bis heute die Frau an seiner Seite, die Mutter von dreien seiner vier Kinder.Es beginnt das wohl verrückteste Jahr der DDR-Geschichte: Alles scheint möglich, alles ist im Um-, Auf- und Zusammenbruch. Modrow, Volkskammerwahlen, de Maizière, und plötzlich ist da dieser Botschaftsposten in Paris vakant, der Name Steinlein fällt. „Als ich Anfang Mai gefragt wurde, ist man davon ausgegangen: Die Übergangszeit wird so drei, vier Jahre dauern. Dann machte das auch Sinn, noch jemanden zu schicken. Doch der Zeithorizont wurde von Woche zu Woche kürzer, und es war klar, die Uhr tickt, und es kann jeden Tag passieren.“ Ob „es“, die Wiedervereinigung, nicht zu schnell kam, zu überstürzt, zu wenig einend? „Das ist der große Unterschied zu vielen meiner damaligen Freunde aus der DDR-Opposition: Ich habe Kohls Zehn-Punkte-Plan voll unterstützt und mich damit politisch von Ullmann und anderen Weggefährten entfernt, die sich für eine neue verfassungsgebende Versammlung eingesetzt haben. Und zwar nicht, weil ich das per se für unsinnig hielt, aber ich wusste, die Zeit haben wir nicht. Meine größte Sorge war, dass die Westdeutschen merken, was das alles kosten wird, und sagen: Nee, nee, das wollen wir lieber nicht.“In Paris kommt er nicht mehr dazu, dem damaligen Präsidenten François Mitterrand sein Beglaubigungsschreiben zu überreichen, und darf daher keine Offiziellen treffen. Stattdessen beginnt er damit, die DDR-Botschaft in der vornehmen Rue Marbeau im 16. Arrondissement und das Kulturzentrum am Boulevard Saint-Germain abzuwickeln. „Die Mitarbeiter hier hatten nicht denselben Zeithorizont; die haben immer noch gedacht, das dauert alles viel länger. Das heißt, erst mal musste man diese Zeiten synchronisieren. Sosehr ich dieses Regime gehasst habe, ich habe die Menschen nicht gehasst. Und ich wusste, dass wir eine Verantwortung haben für die Menschen. Ich ging von ihrer Loyalität aus und wollte sie davon überzeugen, dass wir noch gemeinsam was machen, denn als Chef brauchst du ein Projekt.“ Steinlein macht eine Bestandsaufnahme, von Städtepartnerschaften, von Strukturen, die brauchbar sind oder ideologisch belastet. Er schaut, was bewahrt und was liquidiert werden sollte.Was den Zeithorizont angeht, lag Steinlein richtig: Am 31. August 1990 wird der Einigungsvertrag unterzeichnet, gegen den es in Frankreich ernste Vorbehalte gab. Oft resümiert man das französische Unwohlsein mit dem Satz des Résistance-Kämpfers François Mauriac: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt.“Mit der Einheit geht sein kurzes diplomatisches Intermezzo in der französischen Hauptstadt zu Ende. Er zieht weiter, ins Auswärtige Amt in Bonn, später in die deutsche Botschaft Warschau und schließlich, 1999, ins Bundeskanzleramt. In der Hauptstadt trifft er jenen Mann, dessen Nachname mit der gleichen Silbe beginnt: An Frank-Walter Steinmeiers Seite wird er mehr als 20 Jahre lang arbeiten. „Ich frage ihn um Rat und er manchmal mich“, sagt er. „Wir telefonieren oft.“ Dabei dürfte es in den vergangenen Monaten durchaus auch um den heutigen Blick auf die gemeinsam erdachte deutsche Russland-Politik gegangen sein.Macron auf StaatsbesuchEine Politik, die Steinlein heute vollauf als gescheitert ansieht und die er in gewisser Weise durch das Stärken der Achse Paris/Berlin, aber eben auch der nach Warschau wieder geradezubiegen versucht. Als Bundespräsident Steinmeier während Emmanuel Macrons Staatsbesuch in dieser Woche nicht müde wurde, die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen zu beschwören, war Steinlein stets an seiner Seite.Dabei gilt Deutschland in Frankreich seit vielen Jahren als Bremser, als Zauderer; nicht ohne Grund trug Angela Merkel dort den Beinamen „Madame Non“. Immerhin gab es mit ihr stets adrette Fotos, darauf viel „bisou-bisou“ – Küsschen mit Nicolas Sarkozy, François Hollande und dann Macron. Letzterem sagt man nach, er empfinde wenig Sympathie für den drögen, unspektakulären deutschen Kanzler Olaf Scholz, der so anders ist als er selbst. „Da stimmt die Chemie nicht“, monierte CDU-Chef Friedrich Merz gerade, um hinzuzufügen, er selbst könne das besser.Stephan Steinlein hingegen sagt, es hinke schlichtweg der Vergleich mit der Vergangenheit: „Heute verklärt man die Zeit mit Merkel. Aber Merkel/Sarkozy, das war kein Traumpaar, wirklich nicht. Es war zeitweise richtig schwierig“, sagt er. Ein Vorgänger habe ihn halb ernst, halb scherzhaft gewarnt: „Das deutsch-französische Verhältnis ist eigentlich immer schwierig.“ Er hingegen habe das Gefühl, man habe „eine ganze Menge hinbekommen, und in beiden Systemen, auf allen Ebenen gibt es Leute, denen es wirklich am Herzen liegt und die bereit sind, auch die Extrameile zu gehen, um gemeinsam voranzukommen – was nicht selbstverständlich ist. Das deutsch-französische Verhältnis ist in der Hinsicht einzigartig.“Ostdeutschland et la FranceEs gibt ja tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen Scholz und Macron: Beide stehen innenpolitisch auf ziemlich wackligen Beinen. Macron ringt im Parlament für all seine Vorhaben um Mehrheiten, Scholz’ Ampelkoalition ringt mit sich selbst. Beide stehen unter massivem Druck von rechts außen. Aus den Europawahlen wird die Le-Pen-Partei Rassemblement National ohne Zweifel wie schon 2019 als stärkste Kraft hervorgehen, in Deutschland lag die AfD zuletzt in allen Umfragen immer noch vor der SPD. Ob von den gemeinsamen Auftritten dieser Woche ein innenpolitisches Zeichen der Stärke bleibt? „Der Rechtextremismus ist eine Realität, wir müssen aufwachen“, sagte Macron in seiner Rede vor der Frauenkirche in Dresden. In Sachsen, wo am 1. September wie in Thüringen der Landtag gewählt wird, sprach der französische Präsident von der Faszination für autoritäre Regime: „Unser Europa kann sterben, wenn wir falsche Entscheidungen treffen.“Dass Macron sich auf dieser Reise so sehr mit der ostdeutschen Geschichte befasst hat, ist auch deswegen wichtig, weil das beiderseitige Verhältnis lange Zeit ein französisch-westdeutsches Verhältnis war. Steinlein geht es auch darum, diesen Rückstand aufzuholen. Denn zwar kannten die Ostdeutschen den ein oder anderen Louis-de-Funès-Film oder kamen wie Steinlein selbst ausnahmsweise mal an ein Asterix-Heft, aber Reisen nach Frankreich oder der Spracherwerb waren so gut wie unmöglich.Um Sprache geht es auch an diesem Abend im Palais Beauharnais, denn gleich wird Steinlein den Übersetzerpreis Nerval-Goethe verleihen. Im Nebenraum werden deshalb schon goldfarbene Stühle gerückt, im Untergeschoss Häppchen für die Gäste bereitet. Ein kleiner Ausflug noch in die obere Etage des Palais, wo Steinlein Besuchern gern von der Dreyfus-Affäre erzählt, jenem legendären Spionage-Justizskandal, der hier 1894 mit einem zerfetzten Stück Papier im Mülleimer seinen Anfang nahm. Oder die Geschichte über das nie reparierte Einschussloch im zerplatzten Spiegel im hochherrschaftlichen Schlafzimmer, das noch aus Zeiten der Pariser Kommune stammt.Dann geht’s hinunter zu den Gästen, zum Händeschütteln mit der Verlags- und Übersetzerelite. Stephan Steinlein kommt noch einmal zurück, ihm sei noch etwas eingefallen: „Wenn Sie wissen wollen, warum ich das alles gemacht habe, also warum ich gegen das System war, das war die Enge. Es war alles zu eng.“ Dann stellt er sich neben Françoise – elegant gekleidet, mit Kurzhaarschnitt und Brille –, die viele Jahre lang zahlreichen Diplomaten im Auswärtigen Amt Französisch beigebracht hat. Übersetzungen, sagt Steinlein, seien beiden eine große Leidenschaft. In diesem Jahr wird Laurent Cassagnau geehrt, der auch DDR-Lyrik wie jene von Barbara Köhler übersetzt. Eines ihrer Gedichte, Rondeau Allemagne, trägt ausgerechnet einen französischen Titel. Es liest sich wie ein in Poesie gegossener Gedankenstrich, mit dem sich das Leben des Oppositionellen, des französisch-ost-westdeutschen Grenzgängers und Diplomaten zusammenfassen lässt: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd, / Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt, / Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt; / Ich harre aus im Land und geh ihm fremd.“Placeholder authorbio-1