Tierwohl Nicht die Tauben sind invasiv, sondern wir sind es – mit der endlosen Betonierung und Verstädterung unserer Umwelt


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Ausgabe 23/2024

Wir müssen unser Verhältnis zu Schwellenbereichstieren überdenken

Wir müssen unser Verhältnis zu Schwellenbereichstieren überdenken

Es klingt nach einem lockeren, spaßigen Sommertag: „Schatz, das Wetter ist wunderschön / Da leid ich’s net länger zuhaus / Heute muss man ins Grüne geh’n / In den bunten Frühling hinaus“. Und wo sich’s dann noch so lustig reimt, findet man rasch auch einen Freizeitvertreib: „Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau / Geh ma Tauben vergiften im Park / (…) / Kann’s geben im Leben ein größres Plaisir“ – wer hier so jubelt, ist zum Glück nur eine Karikatur aus der Feder des aus Österreich stammenden und 2011 verstorbenen Satirikers Georg Kreisler.

Komponiert als symbolische Kritik an der Verharmlosung von Auschwitz, hat das Lied leider inzwischen auch einen sehr realen Kern, da sich

n, da sich immer mehr Städte dazu ermutigt sehen, mit teils brutalen Methoden ihrer sogenannten „Taubenprobleme“ Herr zu werden. Traurigstes und jüngstes Negativbeispiel: Limburg. Genau, jenes Limburg! Nachdem man vor Jahren mit dem dortigen Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst und seinen vergoldeten Badewannen bundesweit in die Schlagzeilen gekommen war, schreckt man nun erneut Besucher:innen und moralisch verantwortungsbewusste Menschen ab, indem man Falkner gegen die vermeintlichen „Ratten der Lüfte“ einsetzen will. Mittels Lebendfallen wollen die Stadtverordneten die Vögel fangen und ihnen anschließend das Genick brechen lassen.Dieses Vorgehen hat inzwischen glücklicherweise eine breite Front zur Gegenwehr hervorgerufen. Zu Recht echauffieren sich zahlreiche über die Unbelehrbarkeit und Inhumanität der Gremienmitglieder und des Bürgermeisters Marius Hahn. Die Protestgruppe will das Vorhaben nicht nur ächten, sondern mit ihrer Petition einen für Juni angesetzten Bürgerentscheid zu der Frage gewinnen.Geboten wäre die Kehrtwende in jedem Fall, schon aus ethischen Gründen und angesichts neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Landestierschutzbeauftragte in Berlin, Kathrin Hermann, hat nämlich bereits 2022 mit einem Gutachten belegen können, dass die Stadttauben ursprünglich von Felsentauben abstammen, die wiederum vom Menschen domestiziert wurden. Statt mit Wild- haben wir es folglich mit Haustieren zu tun. Jene genießen wiederum einen anderen gesetzlichen Schutz. Wir dürften sie genauso wenig töten wie Hunde und Katzen. Vielmehr hätten wir ihnen gegenüber sogar eine Fürsorgepflicht. Eine Neubetrachtung dieser schon so lange unter uns lebenden Schwellenbereichstiere tut also not. Auch weil sie in hohem Maß leidens- und schmerzfähige Wesen sind. Sie verfügen über Intelligenz und eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit. Nur wenige andere Kreaturen haben es schließlich in den vergangenen Jahrhunderten geschafft, langfristig in den urbanen Strukturen zu überleben.Nur wie umgehen mit dem Konflikt von Gütern? Auf der einen Seite stehen die Interessen der Gebietskörperschaften, Gebäude und Straßen sauber zu halten, auf der anderen das vorrangige Staatsziel des Tierschutzes im Grundgesetz. Nicht-menschliche Wesen dürfen demnach nur aus einem vernünftigen Grund beseitigt werden. Zählen Reinheit und Optik dazu? Zumindest muss man es als fraglich ansehen, ob für diese Argumente die teils grausamen Maßnahmen zur Bestandsbegrenzung legitim erscheinen.Denn seit einiger Zeit werden verschiedene und für alle Beteiligten schonendere Vorgehensweisen erprobt. Zum Beispiel in München, Berlin oder Kaiserslautern. Dort hat man Taubenschläge errichtet, in denen die Vögel zunächst ungestört ihren natürlichen Lebeweisen und damit auch ihrer Fortpflanzung nachgehen können. Der besondere Coup besteht nun darin, dass man ihre Eier durch Attrappen ersetzt und auf diese Weise das Populationswachstum verhindert wird. Gefordert wird in der Petition in Limburg übrigens auch, den Tauben in solchen oder ähnlichen Einrichtungen gesundes Futter zuzuführen. Insbesondere aufgrund der Ernährung mit für sie völlig ungeeigneten Fast-Food-Resten und Straßenmüll erweisen sich die Ausscheidungen, etwa an Hauswänden, als aggressiv.Die Pille für das TierApropos Kost. Auch die Stadt Hagen schlägt einen neuen Weg ein. Um die Vögel im Bahnhofsviertel zu dezimieren, bedient man sich eines Futterbeigemischs. Ausgegeben mit Mais, soll es wie eine Pille für das Tier wirken. Im Prinzip eine gute Idee, nur weist etwa der „Bundesverband Menschen für Tierrechte“ darauf hin, dass „Ovistop“ bislang insbesondere an Mastgeflügel getestet worden sei. Die dort zu beobachtenden Nebenwirkungen könnten wiederum gerade bei den unterernährten Tauben tödliche Folgen haben. Bevor das Mittel also flächendeckend zum Einsatz kommt, müsste es erst eine valide Studienlage dazu geben. Andernfalls könnte sich herausstellen, dass diese Strategie eventuell doch nicht friedlicher ausfällt als das Fangen und Töten. Mehr Forschung wäre also ratsam, weil der Ansatz an sich ethisch gut vertretbar ist.Er würde letztlich dem Vorstoß der Sozialwissenschaftler Sue Donaldson und Will Kymlicka Rechnung tragen, die mit Zoopolis eine erste Staatstheorie zur Koexistenz von animalen und humanen Wesen vorlegten. Auch Schwellenbereichstiere sollten über Rechte verfügen. Gemeint sind damit diejenigen, die wie Marder, Waschbär & Co. in unserer Nähe leben, aber nicht in so intensiven Interaktionen mit uns stehen wie Haus- und „Nutztiere“.Zugegeben, keine ganz einfache Herausforderung, zumal einige von diesen Arten in ihrer Masse tatsächlich den Entfaltungsspielraum wiederum anderer Tiere und Menschen einschränken. Wer schon einmal Ratten auf seinem Grundstück hatte, weiß um die schwierige Situation. Denn diese Nager gehören auf der einen Seite zu den schlausten Wesen und dürften damit eine umso höhere Leidensfähigkeit haben; andererseits aber können sie nicht nur Schaden an Haus und Besitz verursachen, sondern etwa Kaninchen schwer zusetzen. Leider ist es so, dass Gift oft das einzige wirksame Mittel darstellt, weil Ratten lernen, nicht mehr in Lebendfallen zu gehen.Was dieses Beispiel wie auch die Causa Taubenbekämpfung verdeutlichen, sind die massiven wissenschaftlichen Missstände. Da wir gesamtgesellschaftlich nur das Bild von den Schädlingen vor Augen haben, gibt es nur unzureichende Forschungsbemühungen, um erstens wirksame und zweitens schonende Maßnahmen zur Bestandsbegrenzung oder zur Fernhaltung der Tiere zu entwickeln. Wenn sich nicht einzelne mitfühlende Menschen engagieren und beispielsweise die Taubenschläge als Option in die Gemeinderäte und Verwaltungen einbringen, greifen Letztere auf das bewährte und grausame Arsenal zu.Man stiehlt sich letztlich aus der Verantwortung, übrigens auch bei der Versorgung der entsprechenden Vögel. Zum Paradox der Diskussion gehört ja, dass viele Tauben zwar verachten, sie aber nicht krank oder sterbend sehen wollen. Warum haben wir es bei deren hoher Anzahl also nicht mit ganzen Friedhöfen in unseren Fußgängerzonen zu tun? Weil es eben genügend Ehrenamtler:innen gibt. Sie betreiben fast immer auf eigene Kosten Taubenauffangstationen, zahlen mitunter die Tierarztkosten und übernehmen damit eine Aufgabe, die die Politik abgegeben hat. In diese mit viel Elan betriebenen Institutionen zu investieren, würde schließlich allen helfen. Den Vögeln und den Menschen. Die Eier könnten dort wie in den Taubenschlägen ausgetauscht werden, zudem würde eine angemessene Fütterung für weniger schädlichen Kot sorgen. Überdies könnten die Kommunen hohe Kosten für Kammerjäger und Falkner sparen.Dieser Wende in der Taubenreduktion muss allerdings zunächst ein Umdenken vorausgehen. Wir müssen aufhören, sie vornehmlich als Belastung anzusehen. Nicht die Tauben sind invasiv, sondern wir sind es, mit der unendlichen Verstädterung und Betonierung unserer Umwelt. Statt sie ausmerzen zu wollen, sollten wir an einer friedlichen Koexistenz interessiert sein. Dies bedeutet: Populationsdezimierung – ja, aber mit den mildestmöglichen Mitteln. Netze und Spikes (Stacheln auf Häusern), in denen Tauben verenden, müssten streng verboten werden. Zudem sollte uns an einer an der Würde der Kreatur orientierten Erziehung gelegen sein. Müssen wir zulassen, dass unsere Kinder Tauben jagen? Nein, wir sollten sie für die Kreatur sensibilisieren. Wir alle sollten uns zudem fragen, ob wir überhaupt taubenfreie Städte wollen? Wollen wir uns nur noch in hygienisch sterilen, devitalen Pflastersteinwüsten bewegen? Wahrscheinlich wären dies sehr triste Orte. Und am Ende würden die Tauben doch so manchem fehlen.



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Von Veritatis

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