Katja Wolf und Sahra Wagenknecht geben sich einig, das BSW, CDU und SPD in Thüringen auch: Der „Regierungsvertrag“ für eine Brombeer-Koalition steht, eine Regierung noch nicht. Wie ist der erste große BSW-interne Streit ausgegangen?
SPD-Landeschef Georg Maier, CDU-Ministerpräsidentenkandidat Mario Voigt sowie das Führungsduo des BSW in Thüringen, Katja Wolf und Steffen Schütz, präsentieren im Erfurter Landtag ihren Koalitionsvertrag
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Ein V-Wort hat es in jedem Fall geschafft in den ersten Koalitionsvertrag, den das Bündnis Sahra Wagenknecht in seiner elf Monate jungen Parteigeschichte ausgehandelt hat. Zwar nicht die „Vernunft“, die das BSW ja neben der „Gerechtigkeit“ als Anhängsel im Parteinamen trägt. Aber „Verantwortung“ klingt doch auch vernünftig. „Mut zur Verantwortung. Thüringen nach vorne bringen“ ist überschrieben, was die Koalitionäre CDU, BSW und SPD „Regierungsvertrag“ genannt und im Erfurter Landtag öffentlich vorgestellt haben.
Nach den Landtagswahlen im September ist es nicht Brandenburg, schon gar nicht Sachsen, wo als Erstes ein Koalitionsvertrag zustande kommt, sondern Thüringen – das einzige
Regierungsvertrag“ genannt und im Erfurter Landtag öffentlich vorgestellt haben.Nach den Landtagswahlen im September ist es nicht Brandenburg, schon gar nicht Sachsen, wo als Erstes ein Koalitionsvertrag zustande kommt, sondern Thüringen – das einzige der drei Bundesländer, in dessen Landtag es keine Koalitionsmehrheit ohne AfD (oder Linke) gibt. Weswegen diese Koalition nun zwar einen Regierungsvertrag hat, aber mit 44 von 88 Mandaten noch keine Mehrheit, um CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt zum Ministerpräsidenten zu wählen. Es kann also alles noch schiefgehen.Trägt der Koalitionsvertrag die Handschrift des BSW?Doch bis hierhin haben es die vier, die da knapp drei Monate nach der Landtagswahl vor die Presse treten, geschafft – CDU-Ministerpräsidentenkandidat Mario Voigt, SPD-Landeschef Georg Maier, BSW-Landeschef Steffen Schütz – den weitesten Weg hatte dessen Co-Chefin Katja Wolf. Sie eint mit allen anderen wie mit vielen Politikern auf der landes- und kommunalpolitischen Ebene in sämtlichen Parteien samt AfD der unbedingte Wille, regieren zu wollen – und zu beweisen, dass die vielfach empfundene Dysfunktionalität des Staates und seiner Demokratie korrigierbar ist. Schon die Wortwahl „Regierungsvertrag“ statt „Koalitionsvertrag“ soll dieses parteiübergreifende Verantwortungspathos unterstreichen. Davon reden vor allem Voigt und Maier phrasenreich, dafür hat Wolf sogar die Partei gewechselt. Und in ihrer neuen so einiges über sich ergehen lassen, als ein Sondierungspapier vorlag und Sahra Wagenknecht wie andere BSW-Bundespolitiker dieses in der Luft zerrissen.Schon vor der Präsentation des Koalitionsvertrags hatte Wagenknecht nun in der ARD ihre Absolution erteilt – und die Pressekonferenz in Erfurt gerade erst beendet, das schickten Wagenknecht, Wolf, Schütz und Bundesgeneralsekretär Christian Leye, der zwischenzeitlich als Emissär in Thüringen gewesen war, eine wortreiche gemeinsame Mitteilung mit dem Titel „BSW setzt versprochenen Neustart für Thüringen um“. Stimmt, was die Vier darin behaupten, „in dem nun vorliegenden Koalitionsvertrag ist die BSW-Handschrift klar erkennbar“?Tatsächlich findet die unveränderte und von Wagenknecht & Co. gescholtene Friedens-Passage aus der Präambel („Wir erkennen aber auch an, dass viele Menschen in Thüringen die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen kritisch sehen bzw. ablehnen“) nun im Kapitel „Kultur und Sport, Demokratie und Zusammenhalt“ Wiederaufnahme, dort heißt es: „Wir erkennen an, dass viele Menschen in Sorge um die aktuelle geopolitische Lage und den Krieg in Europa sind und die Stationierung von Mittelstreckenraketen als eine fundamentale Veränderung der strategischen und militärischen Lage in Europa und auch in Deutschland begreifen. Eine Stationierung und deren Verwendung ohne deutsche Mitsprache sehen wir kritisch. Wir fördern eine breit angelegte Debatte; hierzu wollen wir in Thüringen die Möglichkeit schaffen, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht nur äußern können, sondern dass ihre Meinung in Bürgerräten gehört werden wird.“Was steht über die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen im Vertrag?Bürgerräte für den Frieden – und eine gemeinsame kritische Bewertung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen, das lässt sich durchaus als BSW-Handschrift lesen. Und somit als Zugeständnis nicht nur der CDU, sondern auch einer SPD, die kurz vor Bundestagswahlen und nach der Entscheidung für Olaf Scholz als Kanzlerkandidat kaum Interesse haben dürfte, als Partei wahrgenommen zu werden, die für die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen sogar eine Landesregierung platzen lässt. Mit dem zweiten Objekt dieser kritischen Bewertung, einer Verwendung der Waffen ohne deutsche Mitsprache, sei nur die geltende Rechtslage wiedergegeben, relativiert SPD-Landeschef Georg Maier. Tatsächlich erscheint hier alles ein wenig relativ: Denn zum Ersten hat der Stationierung eine SPD-geführte Bundesregierung längst zugestimmt, und zum Zweiten mag die Vorstellung von den USA, die erst ihre Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden platzieren, sie dann aber nicht abschießen, weil eine deutsche Regierung dagegen Widerspruch wagt, mit Rechtslagen konform gehen – nicht aber mit realen geopolitischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen.Fakt ist, dass Fragen von Krieg und Frieden – gerade noch vor allem aus Westdeutschland für völlig obsolet im Bereich der Landespolitik erklärt – sich nun äußert umfangreich in einem Landes-Regierungsvertrag wiederfinden. Fakt ist auch, dass die Koalitionäre „die Schaffung von Lehr- und Forschungskapazitäten für Friedens- und Konfliktforschungen an Thüringer Hochschulen“ anstreben, um „kooperative Strategien auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen erforschen“ zu lassen. In Bezug auf die Schulen heißt es: „Der Unterricht darf keine Werbeplattform für eine berufliche Zukunft bei der Bundeswehr sein.“Und das Corona-Amnestiegesetz?Die Bildungspolitik und das Regierungsvertrags-Versprechen, den grassierenden Unterrichtsausfall zu bekämpfen, dürften für den Zuspruch zu dieser Regierung in Thüringen, kommt sie zustande, am Ende wie die Schaffung von „Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung“ entscheidender sein als das Wording in Sachen Krieg und Frieden. Eine vereinbarte Modernisierung und die Ausnutzung von Spielräumen der Schuldenbremse verschaffen dafür einen Rahmen, der aber ohne Grundgesetz-Reform im Bundestag weiter eng bliebe. In der Migrationspolitik sieht der Vertrag vor, Asylsuchende ohne Bleibeperspektive gar nicht mehr auf die Kommunen zu verteilen, schneller abzuschieben und dafür landeseigene Haftplätze zu schaffen – also das, was CDU und BSW wollen.Bleibt jenes Thema, für das CDU und BSW ebenso wie die AfD im Thüringer Landtag bereits einen Untersuchungsausschuss beantragt haben: die Corona-Politik. „Wir wollen einen Schlussstrich unter die juristischen Folgen der Corona-Pandemie ziehen und damit empfundene Ungerechtigkeiten abmildern und für Rechtsfrieden sorgen“, heißt es, und weiter: „Noch offene oder noch anhängige Bußgeldverfahren sollen nicht weiterverfolgt bzw. deren Einstellung angeregt werden.“ Über das, was BSW in seiner Mitteilung „geplantes Corona-Amnestiegesetz“ nennt, steht geschrieben: „Wir prüfen, ob ein Amnestie-Gesetz in diesem Zusammenhang notwendig ist.“