Wie im ganzen Land wird auch in Gewerkschaften über Aufrüstung gestritten. Verdi-Landeschef Martin Gross warnt vor der Kriegsgefahr, die durch Friedrich Merz noch befeuert werde – und ruft zur Teilnahme an den diesjährigen Ostermärschen auf


Auf Postkarten wurde die Kertsch-Brücke schon zerstört

Foto: Ed Ram/Getty Images


In den deutschen Gewerkschaften wird kontrovers über Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen diskutiert, wie der als Kompromiss zwischen den Lagern zu lesende DGB-Aufruf zu den diesjährigen Ostermärschen (PDF) zeigt. Klar friedenspolitische Positionen vertritt der baden-württembergische Verdi-Landeschef Martin Gross. Er warnt vor der zunehmenden Kriegsgefahr und den verheerenden Auswirkungen der noch vom alten Bundestag beschlossenen „Flatrate für Rüstung“. Auf dem Ostermarsch in Freiburg am Gründonnerstag wird Gross eine Rede halten. Der Freitag sprach vorab mit dem Gewerkschafter in Tübingen.

der Freitag: Herr Gross, Ihr Landesbezirksvorstand Baden-Württemberg fordert den Verdi-Bundesvorstand auf, sich gegen die geplante Stationier

ch in Freiburg am Gründonnerstag wird Gross eine Rede halten. Der Freitag sprach vorab mit dem Gewerkschafter in Tübingen.der Freitag: Herr Gross, Ihr Landesbezirksvorstand Baden-Württemberg fordert den Verdi-Bundesvorstand auf, sich gegen die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland auszusprechen. Wie kam es zu diesem Beschluss?Martin Gross: Die Friedensdebatte hat in Baden-Württemberg eine lange Tradition. Ein Mitglied unseres ehrenamtlichen Landesbezirksvorstands hat den Antrag eingebracht. Und ich selbst bin ja auch Erstunterzeichner des Berliner Appells gegen neue Mittelstreckenwaffen. Am Ende wird es nämlich Donald Trump sein, der über den Einsatz dieser potenziellen Erstschlagwaffen entscheidet. Dieser unberechenbare Präsident am Startknopf der Raketen – das ist doch Wahnsinn.Wie ist die Stimmung an der Gewerkschaftsbasis?Ganz klar: Es gibt unterschiedliche Positionen im Landesbezirk und viele Diskussionen. Ich glaube schon, dass viele sagen: Die Bundeswehr muss verteidigungsfähig sein. Aber zugleich bekomme ich mit, dass eine große Angst herrscht, dass ein Krieg ausbrechen könnte. Bei der aktuellen Debatte um Taurus-Lieferungen an die Ukraine stellt sich die Frage: Welche Eskalation führt letztlich zum Knall? Diese Sorge treibt viele Menschen um – weil sie es nicht einschätzen können. Weshalb die Mehrheit der Deutschen nach wie vor gegen die Taurus-Lieferung ist.Teils werden Friedensbewegte als Ewiggestrige diffamiert. Gerade deshalb sollte man in solchen Zeiten an seinem friedenspolitischen Kompass festhaltenDer designierte Kanzler Friedrich Merz hat sich nun erneut für die Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine ausgesprochen – und nannte dabei die Zerstörung der Kertsch-Brücke, der zentralen Landverbindung zwischen Russland und der annektierten Krim. Mit 500 Kilometern Reichweite könnten diese Marschflugkörper auch Moskau erreichen. Was halten Sie von Merz‘ Taurus-Drohung?Ich halte das für eine große Gefahr. Wenn ein Taurus im Kreml einschlägt, ist die Gefahr groß, dass in Berlin auch etwas einschlägt. Das ist ein Spiel mit dem Feuer – da kann niemand wirklich einschätzen, wie das ausgeht. Dabei leide ich täglich mit der ukrainischen Bevölkerung, die unschuldig zu Opfern Putins wurde. Und trotzdem: Nur auf Eskalation zu setzen, führt ins Chaos. Wir müssen schauen, wie wir diesen Krieg beenden können. Und das wird am Ende des Tages nicht ohne schmerzhafte Kompromisse gehen. So schlimm ich den russischen Angriff auf die Ukraine finde: Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg halb Europa überfallen, 27 Millionen Menschen in der Sowjetunion sind diesem Angriffskrieg zum Opfer gefallen – und trotzdem haben sowjetische Politiker am Ende auch mit deutschen Politikern gesprochen, um zu einem Frieden in Europa zu kommen. Irgendwann muss es auch heute zu Verhandlungen und zu einem Friedensschluss kommen. Mich treibt die Frage um: Was passiert mit meinen drei Kindern und sechs Enkeln, wenn wir das nicht stoppen?In Berlin wird über die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert. Waren Sie selbst bei der Bundeswehr oder Zivildienstleistender? Und ist das ein Thema bei Ihren Kindern?Ich habe damals den Kriegsdienst verweigert – und würde das auch heute tun, weil meine feste Überzeugung ist: Menschen zu töten, kommt für mich moralisch nicht infrage. Mit meinen zwei Söhnen und der Tochter rede ich darüber. Da herrscht natürlich auch die Angst vor dem Krieg. Mein großer Sohn ist 33, der jüngere 27 – und der macht sich schon große Sorgen.In den 1980er Jahren waren viele Gewerkschafter Teil der Friedensbewegung und protestierten gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Bald sind wieder Ostermärsche. Ruft Verdi in Baden-Württemberg zur Teilnahme auf?Die Gewerkschaften rufen nach wie vor zu den Ostermärschen auf. Ich selbst werde am Gründonnerstag in Freiburg sprechen. Teils werden Friedensbewegte ja als „Ewiggestrige“ diffamiert. Und keine Frage: Die Unsicherheit ist groß. Aber gerade deshalb sollte man in solchen Zeiten an seinem friedenspolitischen Kompass festhalten und für Verhandlungen und Entspannung eintreten. Wenn wir so weitermachen, wie es unser Ministerpräsident Kretschmann für die Automobilindustrie vorschlägt, Panzer statt Autos, dann führt das nur in eine Richtung: Diese vielen Waffen werden sich ihren Krieg suchen. Aus Rüstung entsteht am Ende des Tages immer Krieg – ob der dann bei uns oder anderswo geführt wird.5.000 tote junge Menschen, Tag für Tag! Dann erschrecke ich – und frage mich, ob einer meiner Söhne wohl auch einer davon sein wirdSollte die Bundeswehr nicht angemessen für Verteidigungsaufgaben ausgerüstet sein?Doch, aber das ist etwas Anderes als die im Bundestag beschlossene Flatrate für Rüstung. Und deshalb nehme ich aus voller Überzeugung an den diesjährigen Ostermärschen teil. Dies umso mehr, wenn ich dieser Tage die Äußerungen von Patrick Sensburg, Präsident des Reservistenverbandes, höre: Der fordert ein Massen-Heer und eine Million Reservisten, weil wir laut NATO-Berechnungen bei einem möglichen Krieg an der Ostflanke, so wird das heute genannt, täglich mit 5.000 toten Soldaten rechnen müssten – 5.000 tote junge Menschen, Tag für Tag! Dann erschrecke ich – und frage mich, ob einer meiner Söhne wohl auch einer davon sein wird.Welche Spielräume gibt es für Gewerkschaften künftig noch angesichts der zunehmend desolaten Situation der öffentlichen Hand und der gigantischen neuen Staatsverschuldung für die Rüstung?Die Flatrate für Rüstung wird eine hohe Zinslast für den Bundeshaushalt nach sich ziehen – und damit zu Spardruck in allen sozialen Bereichen führen, ob bei Krankenversicherung oder Pflege. Unser Landesfinanzminister Danyal Bayaz hat das in dankenswerter Offenheit gesagt: Ohne einen Rüstungssoli, ohne die Abschaffung eines Feiertages und ohne Kürzungen im Sozialen wird diese Aufrüstung nicht funktionieren. Wir sind doch längst in einem Sog: Rüstung statt armutsfeste Rente.Müssten die DGB-Gewerkschaften nicht deutlicher antimilitaristische Positionen beziehen? Der DGB ruft zwar zur Teilnahme an den diesjährigen Ostermärschen auf, plädiert aber zugleich dafür, „in Deutschland und Europa verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um gemeinsam verteidigungsfähiger zu werden“.Das ist ein Kompromiss, der versucht, die unterschiedlichen Positionen in den Gewerkschaften zu berücksichtigen. Meine inhaltliche Ausrichtung geht stärker in Richtung Friedenspolitik. Auch weil ich glaube, dass wir in eine Spirale nach unten kommen, die uns Gewerkschaften die Spielräume nehmen wird. Wir haben jetzt schon am Verhandlungstisch mit den Arbeitgebern in Bund und Kommunen gemerkt, dass auf der anderen Seite eine Zeitenwende begonnen hat. Mit Mühe und Not konnte man noch diesen Kompromiss erreichen. Dabei ist klar, dass die Arbeitgeber längere Arbeitszeiten für die Beschäftigten wollen. Wir brauchen eine Politik, die die äußere Sicherheit nicht gegen die soziale Sicherheit ausspielt. Wer den sozialen Zusammenhalt torpediert, der macht die Demokratie kaputt und sorgt dafür, dass die Rechten an die Macht kommen. Selbst Bauen und Wohnen wird durch die ungebremste Geldaufnahme teurer, weil die Zinsen auf hohem Niveau bleiben, selbst wenn die Europäische Zentralbank gegensteuert. Dabei sind die fehlenden bezahlbaren Wohnungen schon heute ein Riesenproblem – vor allem für die unteren Lohngruppen. Nur die Aktien der Rüstungskonzerne gehen weiter durch die Decke.



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Von Veritatis

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