Bundesweit nehmen Bedrohungen und Gewalttaten durch Neonazis zu. Doch die neue Bundesregierung behandelt das Thema nur nebensächlich. Während die AfD immer stärker wird, bleiben spürbare Antworten aus. Wann wird endlich gehandelt?
Hunderte Neonazis marschieren wieder durch Berlin
Foto: Omer Messinger/Getty Images
Die kommende Bundesregierung sieht im kürzlich präsentierten Koalitionsvertrag den Wald vor lauter Bäumen nicht. Nur dass es sich beim Wald nicht um eine idyllische Grünfläche in Deutschland handelt – sondern um Neonazis.
Diese sorgen aktuell dafür, dass Schüler*innen wie jüngst in Duisburg aufgrund von Drohungen nicht zur Schule gehen können. Dass eine 17-jährige in Wetzlar zum Opfer eines mutmaßlichen Femizids wird. Oder dass in Thüringen laut der Betroffenen-Beratungsstelle „Ezra“ neue Höchstzahlen extrem rechter Gewalt gemeldet werden.
Allein in der vergangenen Woche ist so viel passiert, dass das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen wie ein Fähnchen in einem Jahrhundertsturm wirkt. Wie ein Fähnc
Betroffenen-Beratungsstelle „Ezra“ neue Höchstzahlen extrem rechter Gewalt gemeldet werden.Allein in der vergangenen Woche ist so viel passiert, dass das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen wie ein Fähnchen in einem Jahrhundertsturm wirkt. Wie ein Fähnchen, dessen Mast abzubrechen droht. Am Tag, an dem die AfD in Umfragen zum ersten Mal bundesweit stärkste Kraft wird, bejubeln SPD und Union einen knapp 150-seitigen Koalitionsvertrag, in dem die Worte „Rechtsextremismus“ und „rechtsextremistisch“ insgesamt dreimal vorkommen. Von der neuen Bundesregierung habe ich nicht viel erwartet – und wurde trotzdem enttäuschtVon der neuen Bundesregierung habe ich bezüglich Demokratieförderung, antifaschistischer Wirtschaftspolitik oder Klimaschutz nicht viel erwartet – und wurde trotzdem enttäuscht.Papier ohne Folgen„Die Koalitionspartner schließen auf allen politischen Ebenen jede Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen, demokratiefeindlichen und rechtsextremen Parteien aus.“ Vielleicht sind einige Menschen schon froh, dass es zumindest dieser Satz in den Koalitionsvertrag geschafft hat – gerade nach dem Bruch der Brandmauer, der gemeinsamen Abstimmung von CDU und AfD auf Bundesebene im Januar.Aber Leute, die AfD ist bundesweit auf dem Vormarsch. Auf kommunaler Ebene ist die Zusammenarbeit zwischen ihr und der CDU beinahe komplett normal und Sätze wie dieser – und erschreckend wenig weitere – sollen ausreichen, um dem Aufstieg der Faschisten den Nährboden zu entziehen?Gewalterlaubnis von obenSelbstverständlich lässt sich die Wirkmächtigkeit – oder eher Wirkungslosigkeit – eines solchen Vertrags nicht nur an der Anzahl bestimmter Schlagwörter bemessen. Dennoch sollten die Alarmglocken schrillen, wenn das Thema Rechtsextremismus keine große Rolle spielt und zeitgleich die neue Bundesregierung aufrüstet sowie stolz das Ende des 8-Stunden-Arbeitstags, des Bürgergeldes und des Lieferkettengesetzes verkündet.Der von der AfD geprägte, rechte gesellschaftliche Diskurs in Deutschland wird so nicht bekämpft. Schon gar nicht, wenn auch die neue Bundesregierung am Grundrecht auf Asyl sägt oder Sozialverbände vor steigenden Beitragszahlungen bei den Sozialversicherungen warnen.Der von der AfD geprägte, rechte gesellschaftliche Diskurs in Deutschland wird so nicht bekämpftWo die AfD in Umfragen stärkste Kraft ist, aber die regierenden Parteien die gesellschaftliche Ungleichheit nicht beenden oder sogar noch vergrößern, da wird die Dominanz der Rechten weiter wachsen. Die Stärke der AfD wirkt dann auch wie eine Gewalterlaubnis von oben auf die örtlichen Neonazis. Die sind in den vergangenen Monaten bundesweit aktiver geworden. Der Spiegel berichtete im vergangenen Jahr diesbezüglich: „AfD-Anhängerschaft laut Studie deutlich gewaltbereiter als Wählende anderer Parteien.“Augen-Emoji gefolgt von Boxhandschuh-EmojiMit Gewaltdrohungen bin auch ich immer wieder konfrontiert. „Pass auf, dass du dir in sieben Tagen keine fängst, Kleiner“ – diese Nachricht erhielt ich vor gut einer Woche, gefolgt von einem Augen-Emoji, auf das ein Boxhandschuh-Emoji trifft.Sieben Tage später fahre ich für Lesungen in Schulen auf die Insel Rügen: Hier trifft Vereinsamung auf einen schlechten öffentlichen Personennahverkehr und Jugendliche, die sich zum Feierngehen in den Zug setzen müssen. Bei meinen Veranstaltungen vor Ort spreche ich über Wege, um gegen Neonazis aktiv zu werden, und an einer Schule erzähle ich von der Drohung, die mich erreicht hatte.Ich bin erleichtert, als die Lesung mit anschließender Diskussion glimpflich verläuft, auch wenn danach Unruhe aufkommt: Schüler*innen behaupten zu wissen, wer hinter der Nachricht steckt, die Person soll bei meiner Lesung anwesend gewesen sein, bleibt aber mucksmäuschenstill. Die Lehrkräfte wollen mich anschließend nicht allein zum Auto laufen lassen.Ich bin erleichtert, als die Lesung mit anschließender Diskussion glimpflich verläuft Sie berichten davon, wie die neonazistische Gruppe „Mecklenburgs Jugend voran“ auf der Insel versucht, junge Männer zu gewinnen. Es wird deutlich, wie viel Erfolg die Neonazis innerhalb weniger Monate gehabt haben. Von Drohungen, Hakenkreuzen und Hitlergrüßen ist die Rede.Nazis sind anpassungsfähigOb die Baseballschlägerjahre zurück sind? Sie waren nie weg. Meinen Beobachtungen zufolge agiert die extreme Rechte in gewisser Hinsicht zyklisch: Wenn Neonazis das Gefühl haben, dass in ihrer Umgebung ein breiterer demokratischer Grundkonsens besteht, dann treten sie „bürgerlicher“ und unauffälliger auf. Wenn dieser Grundkonsens, wie aktuell, zusammenbricht, und die AfD in Umfragen stärkste Kraft wird, dann verbreiten sich rechte Erzählungen. Das motiviert gewaltbereite, selbstbewusste und junge Neonazis – in allen Teilen des Landes und darüber hinaus.Ob die Baseballschlägerjahre zurück sind? Sie waren nie weg Bei beinahe jeder Lesung stehen Jugendliche vor mir und berichten von ihren Hass- oder Diskriminierungserfahrungen, die sie noch nie irgendwo gemeldet haben. Warum? Weil diese Erfahrungen für die meisten längst „normal“ geworden sind. Und weil viele Verantwortungstragende nicht den Eindruck hinterlassen, dass die Probleme auch nur einen Wimpernschlag ihrer Aufmerksamkeit wert sind. Sie suchen offenbar lieber nach Sündenböcken, um abzulenken.Wenn auch die neue Bundesregierung danach handelt, wird sich die Lage weiter verschärfen.