Unsere Autorin trifft die neue Staffel der Tech-Dystopie-Serie „Black Mirror“ ins Herz


Die siebte Staffel spielt statt in der Zukunft in Parallelwelten und der Vergangenheit

Foto: Netflix


Folge um Folge einen Weltausschnitt entwerfen, der einen erschreckenden Ausblick aufs Kommende gibt: Mit dieser Formel wurde Charlie Brookers Anthologie-Serie Black Mirror seit 2011 weltweit bekannt. 2016 übernahm Netflix die Serie vom britischen Sender Channel 4, und trotz eindrücklicher Folgen wie San Junipero und USS Callister drohte Black Mirror mit seinen bitteren Pointen formelhaft zu werden. Brooker versuchte dem entgegenzusteuern, indem er die sechste Staffel statt in der Zukunft in Parallelwelten und der Vergangenheit spielen ließ. Oder hatte 2023 das Dystopische die Gegenwart schon derart eingeholt, dass der fiktive Blick ins Künftige müßig schien?

Gewöhnliche Leute, die Eröffnungsfolge der neuen Staffel, verneint das, wenn sie dem Abo-Modell von Streaming-Giganten eine neue Schreckensvision entlockt: Nachdem bei Amanda (Rashida Jones) ein inoperabler Gehirntumor entdeckt worden ist, fällt sie ins Koma. Daraufhin nimmt ihr verzweifelter Ehemann Mike (Chris O’Dowd) das Angebot des Start-ups River Minddankbar an. Das vom Tumor befallene Gehirnareal soll herausgeschnitten und als digitales Back-up reproduziert werden, das Amanda für eine stolze Gebühr von 300 Dollar monatlich „streamen“ kann. Die Freude über Amandas Rettung weicht bald der Ernüchterung, als sich die Preisstruktur von River Mind ändert und Werbefreiheit, Netzabdeckung und erholsamer Schlaf für Amanda nur noch im deutlich teureren Abo-Paket erhältlich sind. Bald ist auch Mike selbst gezwungen, sich auf einer zwielichtigen Live-Plattform zu demütigen, um ein erträgliches Leben für Amanda zu ermöglichen …

Wer nach dieser Folge weitere Erzählungen erwartet, die um Figuren kreisen, die in die Mühlen eines inhumanen Tech-Kapitalismus geraten, wird jedoch eines Besseren belehrt. Die restlichen Folgen behandeln eher unterschiedliche Dimensionen der Nostalgie. In der herrlich tragikomisch-verzettelten Folge Hotel Reverie etwa sehnt sich die Schauspielerin Brandy (Issa Rae) danach, an etwas Romantischem mitzuwirken. Das Angebot der Hauptrolle in einer Neuauflage des Casablanca-Verschnitts Hotel Reverie kommt da wie gerufen, obgleich die hierfür verwendete Technologie wenig mit einem Dreh im klassischen Sinne zu tun hat.

Die gesamte Handlung des Schwarz-Weiß-Films wird als Computersimulation nachprogrammiert, in die Brandy eintauchen und dabei die Rolle des herausgeschnittenen Leading Man übernehmen soll. Die Figuren um sie herum halten sich und diese Welt für echt, so auch die Filmheldin Clara (Emma Corrin), die nicht ahnt, dass die Schauspielerin, die sie einst verkörperte, wenige Jahre nach dieser Rolle tragisch verstarb. Natürlich läuft nichts nach Plan bei Brandys Ausflug in diese Scheinwelt und bald erahnt Clara die weitere Dimension ihres Seins, als wäre sie „mit unergründlicher Trauer verbunden, die die Zeit durchdringt“.

Die Suche nach der verlorenen Erinnerung

Auch auf selbstreferenzieller Ebene findet sich Nostalgie in dieser Staffel wieder, in Form von Rückbezügen, die man in dieser mit zunehmendem Staraufgebot ausgestatteten Anthologie-Serie durchaus kalkuliert finden kann: So wartet die Folge Spielzeug in Anmutung eines harschen Techno-Thrillers mit einer Rückblende in die 1990er auf, in der Will Poulter in einem kleinen Gastauftritt wieder in die Rolle des Computerspielentwicklers Colin Ritman aus dem Black-Mirror-Film Bandersnatch schlüpft. Zudem enthält diese Staffel mit USS Callister: Willkommen bei Infinity erstmals die Fortsetzung einer vergangenen Folge – in sehenswerter Spielfilmlänge und einem für weitere Sequels offenen Ende.

In eine besondere emotionale Tiefe dringt die Folge Eulogy vor. Paul Giamatti spielt hier einen alleinstehenden Mann, der vom Tod seiner Ex-Freundin erfährt und darum gebeten wird, seine Erinnerungen an sie für eine immersive Trauerfeier beizusteuern. Nur hat er nicht mal mehr ihr Gesicht vor Augen, da er dieses nach dem schmerzhaften Beziehungsende in den 1990ern aus allen analogen Fotos herausgeschnitten hat. Die Suche nach der verlorenen Erinnerung wird zu einer so qual- wie gefühlvollen Reise in eine Zeit, in der Andenken in Form von Fotos, Briefen, Tonträgern noch von unwiederbringlicher Kostbarkeit waren. Eine Zeit, die uns schon jetzt abhandengekommen ist und deren Abgesang in einer in der Zukunft spielenden Erzählung seltsam präzise ins Herz trifft.



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Von Veritatis

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