Was bleibt vom Krieg – und was kehrt zurück? Ein Grab in Schleswig-Holstein, ein warmer Abend am Schwarzen Meer: Zwei Erinnerungen aus unterschiedlichen Zeiten – aus der eigenen Familiengeschichte und aus einer Begegnung in Russland. Eine Reflexion von Maike Gosch mit Blick auf die aktuelle Kriegstüchtigkeitsdebatte über Krieg, Erinnerung, transgenerationale Wunden – und über die leise Hoffnung, dass wir es diesmal besser machen.

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Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, (…) und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, (…) haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“
Präambel der UN-Charta

Es fällt mir ein wenig schwer, diesen Artikel zu schreiben. Vielleicht, weil er der persönlichste ist, den ich bisher für die NachDenkSeiten geschrieben habe. Aber ich habe das Gefühl, ich muss ihn schreiben. Es sind zwei kurze Geschichten aus meinem Leben, fast nur Schlaglichter. Aber ich denke in den letzten Wochen öfter über sie nach – eigentlich seit dem Frühjahr 2022 schon. Es geht in ihnen um die deutsche Geschichte und um den Zweiten Weltkrieg, den ich zum Glück nie erlebt habe. Aber seine Spuren spüre ich bis heute, so wie die meisten (alle?) Menschen hier in Deutschland und in Europa. Die Traumata leben fort, der Schmerz, die Wut, die Angst hallen durch die Jahrzehnte bis zu uns.

Nur hört man aktuell viel zu wenig von den Menschen, denen der Horror dieser Zeit noch präsent ist. Sind sie die schweigende Mehrheit, oder besser die nicht zu Wort kommende Mehrheit? Die Menschen, die die Lektionen aus der Vergangenheit gelernt haben, die gerade wieder überschrien und überschrieben werden?

Die erste Geschichte handelt von meinem Onkel, den ich nie kennengelernt habe. Ich kannte nur sein Grab, auf dem Friedhof mit der schönen Dorfkirche im kleinen Ort in Schleswig-Holstein, in dem meine Großeltern wohnten und in dem mein Vater als eines von vielen Geschwistern aufgewachsen war. Da lag er begraben. Sein Name war Hans Dieter. Und ich kannte ein Foto von einem Jungen mit dunkelblonden Haaren in einem sehr ordentlichen Seitenscheitel, einem weißen Hemd und Pullunder. Er sah meinem Vater ähnlich. Als Kind stand ich vor dem Grabstein und rechnete aus, wie alt er geworden war. Gestorben kurz vor seinem 17. Geburtstag. Als Kind faszinierte mich das. Gräber waren für ältere Leute, eigentlich.

Er war der älteste Sohn der Familie, der große Bruder meines Vaters und seiner jüngeren Geschwister. Sein Vater war nicht dabei, als er geholt wurde, er war damals schon in Kriegsgefangenschaft. Meiner Großmutter hatte er Jahre vorher noch zum Abschied gesagt: „Pass gut auf meinen Jungen auf.“ Und meine Großmutter hatte das versucht. Aber sie holten ihn, an einem Tag im Frühjahr 1945, fast genau 80 Jahre ist es jetzt her, vom Hofplatz des Bauernhofs von Verwandten. Mit Gewalt zerrten sie an ihm, er klammerte sich an meine Großmutter, weinte dabei. Meine Tante, die erst 8 war, erinnert sich noch heute daran, dass sie erstaunt war, dass er weinte – ein so großer Junge. Aber natürlich gab es kein Erbarmen, sie nahmen ihn mit. Meine Tante und mein Vater standen dabei nur einen Meter hinter ihrer Mutter, kriegten alles mit. Mein Vater war 6 Jahre alt.

Immer, wenn ich jetzt die kurzen Videos von den Zwangsrekrutierungen in der Ukraine sehe, muss ich an diese Szene denken. Auch bei den Diskussionen über das Absenken des Rekrutierungsalters in der Ukraine (28, nein 26, nein 24, nein 20, nein 18) denke ich daran. Ich sehe keine Zahlen vor mir, ich sehe junge Männer. Auch wenn ich die Bilder der unzähligen Kriegsgräber sehe, über denen die gelb-blauen Flaggen wehen, dann sehe ich junge Männer, sehe ich den Jungen, meinen Onkel, und meine Oma, wie sie versucht, ihn festzuhalten. Und denke an das Grab, wie es da lag in dem ruhigen, überwachsenen Friedhof und das Schweigen in der Familie meines Vaters, dass ihn und seine Geschichte danach immer umgab.

Ich war natürlich nicht dabei auf dem Hofplatz im Frühjahr 1945, aber ich habe das Gefühl, als wäre ich dabei gewesen. Wenige Wochen später, Mitte April 1945, war er dann tot. Erschossen an der “Ostfront“, von den Russen. Kurz nach diesem sinnlosen Opfer ging der Krieg zu Ende. Aber für ihn war es zu spät. Mein Großvater kam Monate später aus der Kriegsgefangenschaft zurück und erfuhr erst dann, was geschehen war. Er würde nie darüber sprechen können. Der Schmerz lief durch die Familie, auch durch meinen Vater und prägte sein Leben. Und erreichte damit auch mich und die nächste Generation.

Unsere Familie ist nur eine von Millionen in Deutschland, die so etwas oder etwas Ähnliches erlebt haben. Es ist nichts Besonderes, aber genau deshalb ist es wichtig.

Die zweite Geschichte, das zweite Schlaglicht, habe ich selbst erlebt. Es war im Herbst 1991, ich war 18 Jahre alt und im Rahmen meiner Abiturreise zum ersten Mal in der Sowjetunion und in Russland. Unser unkonventioneller und abenteuerlustiger Geschichts- und Erdkundelehrer hatte beschlossen, dass wir Hamburger Gymnasiasten in diesem Jahr nicht nur, wie es an unserem humanistischen Gymnasium üblich gewesen war, die Wahl zwischen Griechenland oder Rom haben sollten, sondern es auch eine Reise hinter den vor kurzem gefallenen Eisernen Vorhang geben sollte. Das fand ich natürlich spannend, nur einige Monate vorher hatte es den Putschversuch gegeben, mit Panzern auf dem Roten Platz, dem Machtkampf zwischen Gorbatschow und Jelzin, den Unabhängigkeitsbestrebungen der russischen Teilrepublik und schließlich dem Wahlsieg des häufig betrunkenen Präsidenten Jelzin. Die vorletzte Station unserer Reise war der schöne Ort Sotschi am Schwarzen Meer. Wir waren schon anderthalb Wochen in dem riesigen Land unterwegs und in der Sowjetunion herumgereist, waren in Moskau gewesen, in Mineralny Vody (dem Geburtsort des Dichters Lermontow, den wir alle vorher nicht kannten, wovon die russischen Literaturstudenten, mit denen wir uns trafen, entsetzt waren), dann Wandern im Kaukasus. Wir hatten vieles Aufregende erlebt, viel Wodka getrunken, einige Kulturschocks verarbeitet und Vorurteile abgebaut.

Auch Sotschi erstaunte mich, es war so südlich – ich hatte, wenn ich an die Sowjetunion dachte, immer nur einen verschneiten Roten Platz und Fellmützen vor dem inneren Auge gehabt –, voller Palmen, exotischen Pflanzen und üppigen Blumenbeeten. An diesem Abend aßen wir in einem Restaurant, es war ein sehr milder Abend. Wir saßen draußen im Garten, der Duft der vielen Blumen lag in der Luft, die Grillen zirpten. Unsere Schülergruppe saß an mehreren längeren Tischen verteilt, wir hatten schon gegessen, rauchten Zigaretten und tranken. Wir sprachen über Musik und dachten vielleicht an Liebesgeschichten, Flirts, Intrigen und Trinkwettbewerbe und daran, wie wir später heimlich auf ein Freiluft-Rapkonzert gehen konnten, das in der Nähe des Hotels am Strand stattfinden sollte. Da kam der Wirt des Lokals zu uns an den Tisch, ein kleiner älterer Mann mit tiefen Falten im Gesicht, freundlichen braunen Augen und einem weißen Bart. Er setzte sich zu uns, stellte eine Flasche klaren Schnaps und ein Tablett mit kleinen Gläsern auf den Tisch. Dann begann er, sich mit uns zu unterhalten, mit Pausen für die Übersetzerin.

Nach ein paar Fragen darüber, wo genau wir her seien und was wir alles schon auf unserer Reise gesehen hatten, erzählte er vom Großen Krieg – davon, dass er selbst Soldat gewesen sei und dass sein Vater, sein Onkel und seine beiden Brüder im Kampf gegen die Deutschen gefallen waren. Ich war bestürzt, es war schon spät, vielleicht war ich auch etwas betrunken. Ich dachte an meinen Onkel und mir liefen die Tränen die Wangen herab. Ich sagte zu ihm: „Es tut mir so leid.“ Er war ganz bestürzt, legte den Arm um mich. „Nein, bitte weine nicht. Das waren doch arme Leute, eure Väter und Großväter – genau wie meine Verwandten. Sie mussten doch kämpfen, sie waren doch nicht schuld.“ Er schenkte die Gläser voll, verteilte sie am Tisch. „Deswegen bin ich nicht gekommen. Als ich gehört habe, dass ihr Deutsche seid, wollte ich mit euch anstoßen. Auf die Freundschaft. Darauf, dass es nie wieder Krieg zwischen unseren Völkern geben soll.“ Und das taten wir dann. Es klingt vielleicht pathetisch, aber ich fühle mich daran bis heute gebunden wie an einen Schwur.

Auch das ist jetzt schon wieder fast 35 Jahre her. Und jetzt ist der Frühling gekommen, die Luft riecht nach Blüten, nach feuchter Erde. Die Blätter der Kirsch- und Magnolienbäume liegen wie Konfetti im Gras. Das Leben erwacht wieder – es ist so eine hoffnungsvolle, sonnige, frische Zeit. Und dennoch: In allen Medien, in Politikerreden, im Koalitionsvertrag der neuen Regierung wird das Land gerade wieder kriegstüchtig gemacht – wird alles praktisch und ideell vorbereitet für neuen Krieg, gegen Russland. Als ich in dem schönen Restaurantgarten an diesem warmen Herbstabend mit dem freundlichen alten Mann anstieß, hätte ich mir nicht vorstellen können, was für eine Entwicklung jetzt wieder anläuft.

Es fühlt sich an wie eine Zeitschlaufe, wie etwas Zwangsläufiges. Als stünden wir unter einem Bann, einem Wiederholungszwang. Wer will denn Krieg? Wer will denn, gerade in Deutschland, wieder Krieg? Wir waren doch schon mal weiter. Ich höre den Politikern zu, den „Experten“ in den Talkshows, und ich verstehe sie nicht. Und ich frage mich: Was haben ihre Familien im Krieg erlebt? Was haben ihre Väter und Mütter, ihre Großeltern, Onkel und Tanten ihnen erzählt? Wie sind sie mit dem Schmerz, dem Verlust, dem Sterben, dem Morden umgegangen? Wie haben sie darüber geredet, wie haben sie es verarbeitet, was haben sie daraus für Schlüsse gezogen?

Und natürlich würde keiner von ihnen sagen, dass er „für Krieg“ ist. Sie halten ihn nur für unausweichlich. Und so wird er unausweichlich. Das hatten wir doch alles schon mal – schon zweimal im 20. Jahrhundert. Ich weiß es aus meiner Arbeit, es geht nicht darum, Argumente gegen den Krieg zu finden – natürlich ist keiner für Krieg, außer die Rüstungsindustrie und der Tiefe Staat. Es geht darum, Argumente gegen die Notwendigkeit von Krieg zu finden. Deswegen habe ich mich viel mit Kriegspropaganda beschäftigt und schreibe darüber und arbeite dazu. Aber gerade fühlt es sich an, als würde man sich gegen eine große Flutwelle stemmen – machtlos und schwach im Angesicht der fast allumfassenden Propaganda.

Aber zum Glück gibt es viele alte und auch neue Initiativen und Aktionen für Frieden, viele Menschen und Organisationen werden jetzt tätig und laut. Die Ostermärsche werden hoffentlich in diesem Jahr riesig sein. Wir müssen und können das Rad noch herumdrehen.

Es kann doch nicht ewig so weitergehen.

Titelbild: malinar/shutterstock.com



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Von Veritatis

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