Joe Thomas hat mit „White Riot“ den ersten Teil seiner Krimi-Trilogie über das England in der Thatcher-Ära veröffentlicht. Der britische Schriftsteller mischt Fakt und Fiktion, aber eine zentrale Rolle spielt die Musik


Der Schriftsteller Joe Thomas

Foto: Oliver Holms


London ruft, London brennt, London clashed. Die britische Hauptstadt im Frühjahr 1978: Auf den Straßen herrscht Ausnahmezustand. Die rechtsextreme National Front jagt Punks und Einwanderer, linke Aktivisten organisieren sich in der Anti-Nazi League und bei Rock Against Racism. Wenige Tage nachdem 100.000 Menschen im Victoria Park bei Bands wie The Clash und Misty in Roots gefeiert haben, wird in Hackney ein Einwanderer getötet. Der Polizist Patrick Noble ermittelt. Er hegt Sympathien für Punks, Hausbesetzer, Anarchisten und Antifaschisten, steht aber berufsbedingt auf der anderen Seite.

Nach einer katastrophalen Entwicklung springt Joe Thomas’ Roman White Riot ins Jahr 1983, und Patrick Noble wird in den – wahren – Fall des Schwarzen Colin Roach verwick

Colin Roach verwickelt, der sich angeblich auf einer Polizeiwache selbst erschossen hat.Der britische Schriftsteller Joe Thomas mischt Fakt und Fiktion. Er macht das mit großem Geschick und unter Offenlegung seiner Quellen. Thomas erzählt aus zahlreichen Blickpunkten über diese entscheidende, turbulente Zeit: Polizisten, Musiker, Journalisten und Politiker sind sein Personal. So entsteht ein überbordendes Panorama der Jahre von 1978 bis 1983, das die Aufbruchsstimmung in der Subkultur gegen Margaret Thatchers Griff zur Macht schneidet. So scharf und schlau war der politische Kriminalroman schon lange nicht mehr.der Freitag: Herr Thomas, Sie haben Ihrem Roman drei rassistische Zitate der Musiker David Bowie, Eric Clapton und Rod Stewart vorangestellt; Bowie etwa nennt Adolf Hitler einen der ersten Rockstars.Ich habe diese Zitate gewählt, weil sie zeigen, wie provokante Kommentare, die von berühmten und respektierten Personen gemacht werden, gefährlich sein können. Das fremdenfeindliche Clapton-Zitat – auf der Bühne, betrunken, in Birmingham 1976 – war einer der Auslöser für die Entstehung der Rock-Against-Racism-Bewegung, die in meinem Roman eine wichtige Rolle spielt.Der Titel Ihres Romans, „White Riot“, stammt von The Clash, einer Punkband, die sich klar links positionierte. Wie kam es dazu?The Clash spielten White Riot zusammen mit Jimmy Pursey von Sham 69, einer Band mit vielen gewalttätigen, rassistischen Fans, beim großen Rock-Against-Racism-Konzert im Victoria Park 1978. Ein ikonischer Moment, und ich dachte, dieser Titel würde die Trilogie gut einführen – auch die Fortsetzungen Red Menace und True Blue tragen ja Farben im Namen. Ihr Roman spielt im Ost-Londoner Stadtteil Hackney in den Jahren 1978 und 1983, Sie waren damals noch ein Kind. Was interessiert Sie an dieser Zeit?Das hat viel mit mir persönlich zu tun. Ich bin in Hackney geboren und aufgewachsen. Es war eine Zeit großer Bewegungen, die rechtsextreme Partei National Front hatte ihre Zentrale in Hackney, auch das Rock-Against-Racism-Konzert fand dort statt. Hier trafen also zwei Bewegungen aufeinander. Außerdem fand der Mord an dem Einwanderer Altab Ali, der im Roman Shahid Akhtar heißt, zur selben Zeit und nur wenige Straßen weiter statt. Was sicherlich auch eine Rolle spielt: Mein Vater arbeitete zu der Zeit für den Hackney City Council und hatte einen großen Anteil daran, die National Front aus dem Stadtteil zu vertreiben.Dann basiert die Figur des City-Council-Mitarbeiters Jon Davies, der sich gegen die National Front engagiert, auf Ihrem Vater?In gewisser Weise, aber ohne, dass sie sich allzu ähnlich wären. Obwohl: Sein Sohn heißt wie ich Joe.Sie mischen im Roman fiktive und wahre Charaktere. Als Nebenfiguren tauchen diverse Musiker auf, etwa Paul Weller von The Jam und The Style Council, und dazu Politiker, vor allem Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin des Vereinigten Königreichs wurde. Meistens zeigen Sie sie in dunklen Räumen, wie sie ihre Machtfäden spinnt. Ist sie die eigentliche Antagonistin des Romans?Ursprünglich hatte ich nicht vor, Passagen aus ihrer Perspektive zu schreiben, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich ein übergreifendes politisches Konzept für die Trilogie brauchte. Letztlich erzählen alle drei Romane vom Aufstieg und Fall Thatchers und davon, wie sie das Land verändert hat. Und natürlich ist sie die Böse. Sie hatte ja selbst kein Problem damit, diese Rolle anzunehmen. In White Riot erzähle ich von ihrem Griff nach der Macht und ihren ersten Jahren im Amt, und in den weiteren Romanen nenne ich Beispiele, wie ihre politischen Entscheidungen uns bis in die Gegenwart betreffen, wie sich vor allem die soziale Ungleichheit verschärft hat. Umso erstaunlicher finde ich es, wie viele Menschen diese Frau heute verehren und verklären.Viele der Thatcher-Zitate, wie auch andere in „White Riot“, sind Originalzitate, in einem langen Anhang haben Sie alle Quellen offengelegt. Das ist sehr ungewöhnlich für einen Kriminalroman.Ja, es war mir wichtig, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben, und inzwischen stehen genügend Quellen zur Verfügung, um das zu tun. Der Anhang ist ein Angebot an den Leser, tiefer in die Materie einzusteigen, aber man kann den Roman auch so lesen und verstehen.Ihre Art zu schreiben, die Kombination aus Wahrheit und Fiktion, erinnert stark an den Schriftsteller David Peace, der unter anderem mit „GB84“ einen großen Roman über die dunkelsten Tage der Thatcher-Ära, Stichwort Bergarbeiterstreik, geschrieben hat. Ist Peace ein Vorbild für Sie?Mehr noch. Ich habe Kreatives Schreiben studiert, und im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich mich intensiv mit seinen Büchern beschäftigt. Was mich an ihm fasziniert, ist die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mit seinen Themen auseinandersetzt, die Intensität seiner Prosa. Diese Mischung aus stakkatoartigen Passagen und poetischen Elementen. Ich teile seinen Blick auf die Welt, die Suche danach, wie scheinbar disparate Ereignisse zusammenhängen. Auch wenn meine Sicht nicht ganz so düster sein mag. Aber nicht nur Peace inspiriert mich, auch James Ellroy und Don Winslow. Letzterer hat mir gezeigt, wie man in einem Roman mit Zeit umgeht, also wie man mit wenigen Sätzen Monate oder Jahre vergehen lassen kann. So konnte ich epische Bücher wie Brazilian Psycho und jetzt die neue Trilogie schreiben.Wenn Thatcher in Ihrem Buch die Böse ist: Könnte man sagen, dass Paul Weller eine Art Lichtgestalt ist?Ich bin ein leidenschaftlicher Musikfan, und während der Arbeit an White Riot habe ich wahrscheinlich mehr Paul Weller gehört als jeden anderen Musiker. Ich wurde zu einem Bewunderer, zu jemandem, der ihn zutiefst verehrt für seine Arbeit und seine Haltung in dieser Zeit. Wie mit der Initiative Red Wedge, die er Mitte der Achtziger mit den Musikern Billy Bragg und Jimmy Somerville gründete, um die Labour Party zu unterstützen. Darum wird es es im zweiten Band Red Menace gehen. Auch wenn das scheiterte und die Tories auch die Wahl 1987 gewannen, hatte Weller wirklich etwas zu sagen. Und er hat es mit Style Council geschafft, Musik zu machen, die auf der Oberfläche vielleicht wie der Soundtrack zu Thatchers Yuppie-Achtzigern klang, aber eben mit wütenden politischen Texten. Sehr subversiv.Ihr Roman zeigt unter anderem, wie wichtig politische Musik in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern war.Ja, es gab kulturelle Bewegungen, die versucht haben, der Macht die Wahrheit zu sagen. Mit White Riot und den beiden Fortsetzungen versuche ich zu zeigen, wie und warum Musik politischen Einfluss genommen hat und inwieweit das funktioniert hat oder eben auch nicht. Ich denke, die Schlussfolgerung ist, dass Protest vielleicht nicht viel bewirkt, aber immerhin Musik als Protestform jede Menge Energie freisetzen kann. Jedenfalls lädt sie mich und meine Romane mit Energie auf.Was ist davon geblieben?Nicht viel, oder? Wir haben kein Rock Against Racism mehr, keinen politischen Paul Weller. Was wir haben, ist Spotify. Was in White Riot positiv ist, ist heute verschwunden oder existiert zumindest nicht mehr in dieser Form. Damals gab es, trotz all der Dunkelheit,so viel Optimismus und das Gefühl, dass man etwas Neues schaffen kann, das wirklich zählt. Aber ich will hier nicht klingen wie ein nostalgischer Mittvierziger.Joe Thomas (geboren 1977 im Londoner Stadtteil Hackney) lebte lange Jahre in Brasilien, wo er als Lehrer arbeitete. Seine Erfahrungen hat er in vier Kriminalromanen verarbeitet; Brazilian Psycho, 2023 bei btb auf Deutsch erschienen, zeigte, warum Jair Bolsonaro 2019 in Brasilien an die Macht kommen konnte. White Riot ist der Auftakt seiner Trilogie über Großbritannien in den Jahren 1978 bis 1990White Riot Joe Thomas Alexander Wagner (Übers.), Penguin 2025, 512 S., 17 €



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Von Veritatis

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