Konflikte nehmen zu, auch hierzulande soll die Gesellschaft „kriegstüchtig“ gemacht werden. Doch inwieweit gibt es Ähnlichkeiten zur Aufwiegelung der Bevölkerung vor dem Ersten Weltkrieg? Droht erneut ein großer Krieg? Eine Analyse


Begeistert winken Männer mit ihren Hüten nach der Bekanntmachung der Mobilmachung 1914

Foto: Scherl/SZ Photo/picture alliance


Um die aktuellen politischen Entwicklungen verstehen zu können, ist ein Blick in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg notwendig. Ein Vergleich der unterschiedlichen Ausgangssituationen von 1914 und 2025 ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Beide Situationen können nicht völlig gleichgesetzt werden – wertvolle Erkenntnisse sind gleichzeitig möglich.

Pressehetze im Vorfeld

Den kaum siebenjährigen Sebastian Haffner trifft der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit dem sein „bewusstes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt“, in den Sommerferien 1914. So beschreibt er seine Wahrnehmung in dem Buch „Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914–1933“.

Schlagwörter aus der Zeitung, von seinem Vater vorgelesen, bl

ch „Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914–1933“.Schlagwörter aus der Zeitung, von seinem Vater vorgelesen, bleiben haften: „Ultimatum“, „Mobilmachung“, „Allianz“, „die Entente“, „Order“. Das Massenmedium Zeitung verstärkt und bestärkt Existenzängste – von Kindern wie Erwachsenen.Nicht nur das Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft, Überrüstung, imperiale Machtinteressen und die massenhafte Verpflichtung zum Militärdienst bereiten auf einen Krieg vor. Auch der Presse kommt eine maßgebliche Funktion bei der geistigen Mobilmachung zu – freilich auch bei der internationalen Verständigung; Verfeindung wie Versöhnung von Staaten können Medien befeuern.Schwach blieben vor 1914 jene gesellschaftlichen Kräfte, die auf internationalen Ausgleich, Diplomatie und bindende Regelungen zur Streitschlichtung zwischen Staaten drängten.Vor dem Ersten Weltkrieg verstärkten oder bestärkten die dominierenden Printmedien Kriegsplanungen ihrer Regierungen. Insbesondere das zaristische Russland, ohne Zweifel einer der reaktionärsten Unterdrückerstaaten Europas, wurde als potenzieller Angreifer des Deutschen Reiches aufgebaut.Vor dem Ersten Weltkrieg verstärkten oder bestärkten die dominierenden Printmedien Kriegsplanungen ihrer RegierungenGeneral von Moltke übersandte im Februar 1914 dem Auswärtigen Amt eine Denkschrift über die Kriegsbereitschaft Russlands. Es habe nach der ersten russischen Revolution (1905) erheblich aufgerüstet, sei finanziell erstarkt, habe seine Armee reformiert und werde 1916 voll kriegsfähig sein. Wichtige Leitmedien forderten, angestachelt durch interessierte Regierungs-, Militär- und Wirtschaftskreise, einen Präventivkrieg gegen den mächtiger werdenden östlichen Nachbarn, diskutierten offen über die Notwendigkeit einer kriegerischen Lösung. Dabei taten sich besonders die „Kölnische Zeitung“ und die „Germania“ hervor. Die Öffentlichkeit wurde medial auf die Notwendigkeit verstärkter militärischer Ausgaben vorbereitet, rassistische Einstellungen – „der Kampf des Germanentums gegen das Slaventum“ – wurden geschürt. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer hat dies bereits vor über 50 Jahren eindrucksvoll analysiert.Aufgrund der Kriegshysterie vor und im Weltkrieg fuhr die Firma Krupp derweil schwindelerregend hohe Gewinne ein. Sommer 1914: Sind russische Truppen auf deutsches Gebiet vorgedrungen?Der Historiker David Fromkin nahm eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse in den Monaten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor. Dadurch konnte er nachweisen, dass im Kontext eines imperialistischen Rüstungswettlaufs zwischen den mächtigsten Staaten deutsche und österreichische Militärs – in Zusammenarbeit mit bellizistischen Regierungsmitgliedern – zur Überzeugung gelangten, dass der Sommer 1914 der geeignetste Zeitpunkt für einen vorsorglichen Krieg gegen Russland sei.Ein Krieg mit Russland sei unvermeidlich, hieß es. Weil es in wenigen Jahren aufgrund umfassender Aufrüstungsmaßnahmen zu mächtig werde, wollte man es im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft noch besiegen können.Das Attentat von Sarajevo war dann der willkommene Vorwand für die Auslösung eines großen Krieges. Vermittlungsversuche und Gesprächsangebote internationaler Akteure wurden von Deutschland und Österreich-Ungarn zurückgewiesen. Sie wollten einen Krieg provozieren, ihren Gegner Russland dauerhaft schwächen. „Besser jetzt als später!“, hieß es. Von einer „Politik des kalkulierten Risikos“ gelang man schließlich zur Rechtfertigung „Not kennt kein Gebot!“.Die Militärführungen beider Staaten waren dabei der Auffassung, dass ein erfolgreicher, lang andauernder Volkskrieg nur zu führen sei, wenn sie nicht nur die gesellschaftlichen Eliten von der Notwendigkeit eines Krieges überzeugen könnten, sondern die gesamte Bevölkerung.Der Eindruck musste durch mediale Verstärkung erzeugt werden, Russland habe Deutschland den Krieg aufgezwungen. So wurde die russische Mobilmachung in den Leitmedien bewertet und dann auch am 1.8.1914 seitens der deutschen Regierung die Lüge verbreitet, dass russische Truppen auf deutsches Territorium vorgedrungen seien.Hier wurde bewusst eine Täuschung eingesetzt, die auch später vielfach Verwendung fandHier wurde bewusst eine Täuschung eingesetzt, die auch später vielfach Verwendung fand: zum Beispiel der fingierte Angriff Polens auf den Sender Gleiwitz als Kriegsgrund des nationalsozialistischen Deutschland; die fingierten Kanonenbootangriffe im Golf von Tonkin während des Vietnam-Kriegs; die im UN-Sicherheitsrat vorgetragenen Lügen der US-Regierung über Massenvernichtungswaffen im Irak.Die Stimmung in der Bevölkerung schwenkte nun aufgrund der Medienpropaganda und gefälschten Aussagen im Sommer 1914 schnell um. Placeholder image-1Der Krieg schien zugleich die Chance zu bieten, das durch soziale, innenpolitische Spannungen gebeutelte Kaiserreich zu stabilisieren. Es ging also darum, den Krieg als Mittel zur Krisenlösung für innere Konflikte zu nutzen – allerdings enthielt der Krieg zugleich auch das für die Eliten gefährliche Potenzial einer Revolution.Von wegen schlafwandelnd in den Krieg! Von wegen unbewusst in einen Krieg getaumelt! Dass die Bevölkerung – infiziert von imperialistischen, nationalistischen und militaristischen Ideen – auf Lügen, Irreführungen und künstlich erzeugte Bedrohungsängste hereingefallen war, wurde vielen erst in und nach blutigen Schlachten bewusst.Inwieweit ist die heutige Situation mit 1914 vergleichbar?Es gibt Aspekte, die vor Kriegen oftmals ähnlich sind: zum Beispiel der Rüstungswettlauf, die Medienkampagnen, der Einfluss militärtechnischer Innovationen, Gewinne der Rüstungsindustrie und der Versuch maßgeblicher politischer Meinungsführer, den Feind als militärisch hochgerüsteter darzustellen, als er wirklich ist. Da gibt es in der heutigen Situation durchaus Ähnlichkeiten zu 1914.In der westlichen Berichterstattung wird nach den Ursachen des Ukrainekonflikts in der Regel nicht gefragt. In den Medien kommen so meist nur die zu Wort, die als sogenannte Militärexperten 2022 von den Fortschritten der ukrainischen Armee schwadronieren, einen baldigen Sieg der Ukraine über Russland prognostizieren, die Notwendigkeit von Aufrüstung betonen oder eine Mobilisierung der Bevölkerung fordern. In der westlichen Berichterstattung wird nach den Ursachen des Ukrainekonflikts in der Regel nicht gefragtEs kommen auch diejenigen zu Wort, die mit „dem Begriff Wehrhaftigkeit“ Aufrüstung, Waffenexporte und Sanktionspolitik kaschieren, mit Drohungen den Zugang der Politik zur Diplomatie verbauen, Antimilitarismus zur Drückebergerei herabwürdigen oder gigantische Aufrüstungsmaßnahmen der Nato – mit der Invasionsfähigkeit und der gleichzeitig unterstellten Invasionsabsicht Russlands – propagieren. Placeholder image-3So wird – trotz der tatsächlichen militärischen Überlegenheit der Nato sowie auch der europäischen Nato-Staaten ohne die USA – unter anderem seitens des Verteidigungsministers Boris Pistorius und des BND-Chefs Bruno Kahl behauptet, dass Russland in wenigen Jahren in der Lage sei, Nato-Staaten zu überfallen. Die politische Grundlage für AufrüstungSie liefern damit für die Öffentlichkeit die Grundlage für eine massive Aufrüstung und einen ungedeckelten Rüstungsetat. Hierbei wird dabei unterschlagen, dass das Bruttoinlandsprodukt Russlands die Größe des BIP Italiens hat und einer vielfach überlegenen europäischen Ökonomie gegenübersteht.Auch wird davon ausgegangen, dass die Streitkräfte der USA aus dem Nato-Verband ausscheren, was – trotz der irrlichternden Unbeständigkeit des amtierenden US-Präsidenten – doch eher unwahrscheinlich ist.Die Aktienkurse von Rüstungsunternehmen explodierten und brachten Spekulanten sowie den Rüstungskonzernen erhebliche Kriegsgewinne. So hatte sich im März 2024 der Aktienkurs des größten deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall vervierfacht und es wurden deutlich erhöhte Dividenden ausgeschüttet. Spekulanten und Anteilseigner der Rüstungsindustrie profitieren von dem Krieg.Ein Teil der westlichen Medien schürt zugleich die Angst vor einem bald drohenden Angriff des russischen Militärs auf Nato-Staaten. So titelt die Bild-Zeitung „Bundeswehr bereitet sich auf Putin-Angriff vor. Bild kennt das Szenario.“Spekulanten und Anteilseigner der Rüstungsindustrie profitieren von dem KriegDer Rüstungswettlauf ist wieder – ähnlich 1914 – von militärtechnologischen Innovationen begleitet, wie zum Beispiel Hyperschallraketen, die in wenigen Minuten Enthauptungsschläge im gegnerischen Territorium vornehmen können, oder von der gegnerischen Abwehr kaum zu entdeckende Marschflugkörper.Placeholder image-2Ja, es gibt Unterschiede..Es gibt allerdings Aspekte, die in der heutigen Situation sich von 1914 deutlich unterscheiden:Nicht hauptsächlich die in der Nato zusammengeschlossenen Staaten, sondern Russland ist derzeit der Aggressor – auch wenn es interessierte Kreise gab und gibt, die Kapital aus dem in der Ukraine verursachten Leid schlagen wollen. Der imperialistische Zugriff auf die Rohstoffe und den Boden der Ukraine wird sowohl von den Russen als auch von den USA versucht.Zwar hat im Vorfeld und während des Krieges in der Ukraine der Westen nicht alle Verhandlungsmöglichkeiten genutzt und die Ukraine sich nicht an die Vereinbarungen von Minsk gehalten – dies legitimiert jedoch in keiner Weise das brutale und völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands.Zynisch ist geradezu, dass die EU massiv ihre Rüstungsanstrengungen steigert, weil Trump damit gedroht hat, Putin zu ermuntern, europäische Staaten anzugreifen. Vorausgesetzt, sie würden ihre Verteidigungshaushalte nicht genügend hochfahren.Dahinter steckt sicherlich auch das Interesse, Europa möge seine Waffen in den USA einkaufenDahinter steckt sicherlich auch das Interesse, Europa möge seine Waffen in den USA einkaufen. In diesem Sinne handelt es sich hier um eine Art Schutzgelderpressung des US-Präsidenten. Eine derartige Situation gab es aber 1914 nicht.Des Weiteren war 1914 die Bedrohung durch einen Nuklearkrieg nicht gegeben – auch wenn die modernisierten Waffensysteme und der Einsatz von Giftgas den Charakter des Krieges entsetzlich veränderten….die sind aber nicht unbedingt beruhigendEs ist letztlich durchaus möglich, dass die gegenwärtige Situation zu einem Dritten Weltkrieg eskaliert.Die Unterschiede in der Analyse der Ausgangssituationen in den Jahren 1914 und 2025 geben keinen Anlass zur Beruhigung. Insbesondere die verfahrene Situation in der Ukraine, brutale russische Raketenangriffe auf die zivile Bevölkerung, einsetzbare Hyperschallraketen, die in wenigen Minuten das gegnerische Territorium erreichen können, sowie die Absenkung der nuklearen Schwelle durch kleinere taktische Atomwaffen bedeuten eine Erhöhung der militärischen Bedrohung.Teilweise scheint ein Dritter Weltkrieg bereits im Rahmen eines Cyber-Kriegs begonnen zu haben, bei dem Sabotageakte, das Hacken von Computern und Wirtschaftsspionage, Manipulation von Daten, systematische Desinformationen über soziale Medien und das Ausspähen mit Drohnen zunehmend registriert werden. Und der Cyber-Krieg wird nicht nur von der russischen Seite, sondern durchaus auch von westlichen Diensten geführt.Und der Cyber-Krieg wird nicht nur von der russischen Seite, sondern durchaus auch von westlichen Diensten geführtMöglicherweise gelingt es, im bilateralen Gespräch zwischen den Regierungen der USA und Russlands zu einer Deeskalation des Kriegs in der Ukraine beizutragen. Dies kann sich allerdings auch schnell wieder ändern, wenn Russland seine Angriffe unvermindert fortsetzt wie am Palmsonntag im ukrainischen Sumy: Dort schlugen russische Raketen mit Sprengsätzen ein, die Streumunition enthielten. 34 Zivilisten, darunter auch Kinder, wurden getötet und 117 Menschen verletzt.Eigentlich wäre der UN-Sicherheitsrat der geeignete Ort für eine Verständigung zu Waffenstillstandsverhandlungen. Doch im Jahr des 80. Jubiläums der Vereinten Nationen ist der Sicherheitsrat aufgrund seiner Struktur – Ständige Mitglieder und Vetorecht – blockiert. Auch die UN-Generalversammlung findet keinen rechtlichen Ausweg, um den Sicherheitsrat zum Einlenken zu bewegen.Bedrückende Aussichten. Denn wo bleibt der massive Widerstand der Zivilgesellschaft und der Politiker, die noch bei Sinnen sind? Ostermärsche wie zuletzt in Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt mit lediglich jeweils nur wenigen Tausend Teilnehmern können keine angemessene Antwort auf die aktuelle Gefährdungslage sein.



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Von Veritatis

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