Soziale Plattformen wie X ersetzen Faktenchecks zunehmend durch „Community Notes“. Das stellt eine Liberalisierung dar. Aber kann es das Problem oligarchischer Herrschaft über den Informationsraum lösen?
Vielleicht müssen wir am Ende einfach wieder mehr von Bürger zu Bürger im analogen Raum miteinander sprechen?
Illustration: der Freitag
Sicher haben auch Sie im Bekanntenkreis jemanden, der sich gern als Experte gebärdet, ohne wirklich viel über die diskutierten Gegenstände zu wissen – oder der auf intolerante Weise seine politischen Ansichten vertritt. Oft ist es uns zu peinlich, frontal zu widersprechen und geradezurücken, was dieser Person wegen schief im Raum steht. Aber innerlich nehmen wir vom Gesagten Notiz.
Dann bereden wir das mit anderen und stellen es zumindest dort richtig – vielleicht mit dem Hinweis, das nächste Mal werde dieser Gast nicht mehr eingeladen. Und alle Beteiligten werden vorsichtig sein, wenn so jemand ihnen wieder begegnet. So funktioniert privat die Sicherstellung des gewünschten Diskussionsniveaus.
Genau so, nur eben elektronisch, beginnen nun einige soz
en nun einige soziale Plattformen, das Niveau der Inhalte ihrer Nutzer zu heben und die Weiterverbreitung falscher Aussagen einzudämmen – so jedenfalls der Plan. Die „Community Notes“ (zu deutsch „Gemeinschaftsnotizen“) der Plattform X (früher Twitter) von Elon Musk sind der wichtigste Prototyp dieses neuen Ansatzes, der jenseits des Atlantiks gerade die externen „Faktenchecks“ mehr und mehr ersetzt. Damit entsprechen die Plattform-Konzerne dem politischen Klimawechsel in den USA. Die Trump-Regierung erklärte rigoros alles das, was in Europa als „Kampf gegen Desinformation“ Gesetzesrang hat, für schlicht inakzeptabel.Das Motto des neuen Ansatzes lautet: Kontextgeben statt Löschen. Nutzer der Plattform X registrieren sich und machen in einer separaten Online-Umgebung Anmerkungen („Notes“) zu Posts, die sie auf der Plattform gesehen haben. Und so taucht dann unter einem Post, der eine Auseinandersetzung der Trump-Sprecherin Karoline Leavitt mit einem AP-Reporter über die neuen US-Zölle behandelt, der Hinweis „Leser haben Kontext hinzugefügt“. Da ist zu lesen, dass Zölle nicht von „anderen Ländern bezahlt“ werden, wie Trump oft sagt, sondern von den Importeuren in den USA, was dann für gewöhnlich die Preise für die US-Konsumenten erhöhe.Sachliche KommentierungOder aber ein satirischer Post mit einer Fake-CNN-Überschrift auf dem X-Account Elon Musks wird mit einer Notiz versehen, dass es einen solchen Bericht bei CNN tatsächlich nicht gegeben habe. Der Account des X-Besitzers verbreitet öfters Unsinn, der sich leicht aufklären lässt – zum Beispiel schon 2022 die vollkommen falsche Behauptung, X sei die Plattform, die am meisten Klicks auf andere Webseiten weltweit verursache. Auch damals schon tauchten natürlich sofort Kommentare auf, die dies aufzeigten.Die digitale Mechanik der Community Notes ist innovativ. Bei X kann man als Notizenmacher die Anmerkung eines Kollegen als „nützlich“ bewerten. Wie breit die Meinungspalette der Unterstützer einer Anmerkung ist, wird anhand der Ratings bewertet, die von jedem Notizenmacher selbst für andere ihm vorgelegte Community Notes vergeben wurden. Es wird hier auch eingerechnet, ob und wie oft man im Vergleich mit einem anderen Notizenmacher unterschiedliche Nützlichkeits-Ratings für Anmerkungen vergeben hat.Nur solche Anmerkungen werden dann auf X für alle veröffentlicht, die von Nutzern unterschiedlicher Meinungstendenz als „nützlich“ bewertet wurden. Damit will man neutrale, sachliche Kommentierungen irreführender oder falscher Postings erreichen. Jüngste Untersuchungen sprechen von 12 bis 15 Prozent der Community Notes, die auf der Plattform X für alle erscheinen.Bessere InstrumenteAm 13. März dieses Jahres verkündete X, dass der Community-Notes-Programmcode vollständig öffentlich zugänglich sei und bereits vom Meta-Konzern auf seinen Plattformen Instagram und Facebook verwendet werde. Auf X kann man den Programm-Updates folgen, die unter dem Account @CommunityNotes alle paar Tage veröffentlicht werden. Dieses neue Prinzip der Moderation von Online-Inhalten wird also präsent bleiben.Es gibt gute Argumente für diesen Ansatz, empirischer wie prinzipieller Natur. Eine Studie der National Academy of Sciences fand mit 1.800 Probanden heraus, dass einfache Markierungen von nicht vertrauenswürdiger Information viel Skepsis hervorrufen, während kontextualisierende Nutzeranmerkungen als deutlich vertrauenswürdiger empfunden und in der Regel auch zu Ende gelesen werden. Zudem zeigten Tests mit nicht völlig unplausiblen, aber doch tatsächlich sachlich falschen Postings, dass Community Notes das bessere Instrument zur Identifikation solcher Inhalte in einer Nutzergemeinschaft sind.Prinzipiell bieten Community Notes – anstatt eine harte „Richtig/falsch“-Unterscheidung zu treffen – dem Leser einfach eine Erweiterung des Kontextes an. Das Urteil über die Inhalte bleibt ihm überlassen und wird nicht zentral von einer wegen dieses „Filterprivilegs“ mächtigen, jedoch intransparenten Stelle getroffen.Spätestens seit der massiven, von allen Plattformen eingestandenen Zensur von inhaltlich richtigen Äußerungen während der Corona-Zeit sieht dieses Prinzip auf den ersten Blick attraktiver aus als der Status quo des exzessiven Löschens nach „Faktenchecks“, den unter anderem der Medienanwalt Joachim Steinhöfel in seinem Bestseller Die digitale Bevormundung in teils haarsträubendem Detail geschildert hat.Mit Community Notes könnte dagegen eine liberale, eben nicht zensurartige, sondern den Nutzer beratende Form der Moderation von Online-Inhalten möglich werden – fast ironischerweise mittels der Anwendung ebensolcher Algorithmen, die bisher abgeschottete Filterblasen für Mondlandungs-Skeptiker ebenso zustande bringen wie für radikale Homöopathen oder den extremen Flügel der einen oder anderen Partei.Harte InteressenkonflikteAllerdings gärtnern hier in den Gefilden der Meinungsfreiheit die sprichwörtlichen Böcke. Es ist eine grelle historische Ironie, dass Musk als Hüter der Meinungsfreiheit auftritt, obwohl er mit X der Privatbesitzer einer gewaltigen Inhalte-Verteilplattform ist, die er gutsherrlich handhaben kann, wie er will – was seine schamlose „Promotion“ für die Regierungsagenda Trumps und seine eigenen Beiträge dazu in den Feeds der X-Nutzer belegen. Hier ist Musk geradezu der personifizierte Interessenkonflikt.Und er hat auch harte finanzielle Interessenkonflikte. Aufgrund der zahlreichen Verträge seines Firmenimperiums mit der US-Regierung in anderen Geschäftsfeldern, etwa der Raumfahrt, kann Musk gar nicht unabhängig auf die Ausgabenseite des US-Haushalts blicken, wie sein „Department of Government Efficiency“ das vorgeblich tut. Er ist in vielen Handlungsfeldern der US-Regierung interessierte Vertragspartei.Solange Musk die politische Agenda Trumps als mächtiger Online-Propagandist stützt, wird das kein Problem für ihn. Sein Firmenimperium und die von ihm geplante „Rettung der Menschheit“ durch ihre Ausweitung in den „interstellaren Raum“ (über die er auch mit Alice Weidel auf X plauderte) kann er weiter vorantreiben. Aber was, wenn er wegen seiner Interessenkonflikte einmal unter politischen Druck gerät?Musk ist Teil der sich in den USA installierenden Milliardärsregierung. Der Präsident selbst besitzt ein Milliardenvermögen und hat eine lange persönliche Geschichte von Wirtschaftsstrafsachen, Schweigegeldzahlungen sowie bankrottierten Pseudo- und Abzocke-Unternehmen wie der „Trump University“.Hat irgendjemand angesichts der Tausenden Lügen, Verzerrungen und Auslassungen, die liberale Medien Trump allein bei der letzten Wahlkampagne und in der ersten Amtsperiode nachweisen konnten, wirklich Zweifel daran, dass der Präsident im empfundenen politischen Notfall X für seine Zwecke einspannen wird?Bedenkliche PraxisDann würde sich auch ein Community-Notes-System manipulieren lassen: etwa dadurch, dass man die Notizenmacher bei Account-Erstellung filtert oder den Programmcode anderweitig unauffällig „anpasst“. Zuweilen lassen sich auch jetzt schon etwa in der einflussreichen Online-Enzyklopädie Wikipedia virtuelle Flashmobs bei der Manipulationsarbeit beobachten, die dann zum Beispiel den Artikel einer strittigen Person des Zeitgeschehens binnen Stunden radikal tendenziös umschreiben.Dennoch ist das Community-Notes-System der in der EU gängigen Praxis vorzuziehen, die für die Meinungsfreiheit höchst problematisch ist. Der Digital Services Act der EU verlangt, dass Plattformen mit bedeutender Reichweite Agenturen wie zum Beispiel eben „Faktenchecker“ beschäftigen, welche die auf den Plattformen eingestellten Inhalte überwachen und ihnen fragwürdig Erscheinendes kennzeichnen – was meist zu restriktiven Löschpraktiken führt, weil kein Plattformbetreiber juristische Risiken eingehen will.Für das Bundesverfassungsgericht ist das eine bedenkliche Praxis, denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist nach seiner Rechtsprechung immer direkt geltendes Recht – und zwar „unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird“ (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. November 2022).Parteilichkeit beim Überprüfen von Inhalten mit zensurartiger Auswirkung ist bei Community-Notes-Systemen mit vielen dezentral agierenden Privatakteuren in diesem politischen Augenblick viel weniger wahrscheinlich als bei immer von irgendjemandem bezahlten „Faktencheckern“. Die Nutzer-Kommentierung von Online-Inhalten sollte deshalb auch in Europa das „Faktenchecken“ ablösen.Einmal als falsch, unsinnig oder sittenwidrig kommentierte Inhalte kann man auch in diesem neuen System über die Plattform-Algorithmen ins digitale Nirwana schicken. So ähnlich, wie wir missliebige Schwätzer im Bekanntenkreis, nun ja – in ihrer Reichweite limitieren.Sollte sich Europa in ferner Zukunft des Wertes freier Rede freier Bürger wieder voll bewusst werden, so wird man das Projekt, den Diskurs freier Menschen regulieren zu wollen, ganz absagen. Aber auch bei einer solchen Renaissance liberaler Wertvorstellungen bliebe es ein Problem für die Meinungsfreiheit, dass im Zeitalter des digitalen Kapitalismus immer nur wenige Plattformen den Konkurrenzkampf im Internet überstehen und dann ein Oligopol bilden – mit all den Missbrauchsmöglichkeiten und inhärenten Interessenkonflikten, die jetzt an X und Elon Musk zu studieren sind. Vielleicht müssen wir am Ende einfach wieder mehr von Bürger zu Bürger im analogen Raum miteinander sprechen? Einen Versuch ist es wert.