Was erfahren wir in der Tagesschau über den Krieg in Nahost? Wir haben am Beispiel der ARD einmal durchgezählt, wer zu Wort kommt – und in welcher Weise. Das Ergebnis ist verstörend
Zu einseitig, zu stereotyp, zu fehlerhaft? Anderthalb Jahre dauert der Krieg in Nahost nun schon an. Und fast ebenso lang wird Kritik an der deutschen Berichterstattung darüber laut. Schon im August 2024 zeigte eine repräsentative Befragung: Jeder zweite Deutsche misstraut bei diesem Thema den deutschen Medien. Wir wollten wissen: zu Recht?
Um das tatsächlich herauszufinden, haben wir uns das Aushängeschild des deutschen Nachrichtenjournalismus genauer angeschaut: die Tagesschau der öffentlich-rechtlichen ARD. Wir wollten wissen: Wer kommt in Deutschlands beliebtester Nachrichtensendung in Berichten über diesen Krieg zu Wort – und wer weniger oder gar nicht? Welche Perspektiven erachtet die Redaktion offenbar für relevant, welche enthält sie ihr
hrichtensendung in Berichten über diesen Krieg zu Wort – und wer weniger oder gar nicht? Welche Perspektiven erachtet die Redaktion offenbar für relevant, welche enthält sie ihrem Publikum vor? Und wie prägt die Tagesschau damit unser Bild vom Krieg in Nahost? Als Zeitraum für die Untersuchung wählten wir vom Tag des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 bis zum 18. Januar 2025, dem vorläufig letzten Tag des Krieges, bevor die mittlerweile wieder gebrochene Waffenruhe in Kraft trat.Israel erklärt in der Tagesschau sich selbstPlaceholder image-1Man werde die „Feinde beseitigen und die Sicherheit wiederherstellen“, versprach Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Tagesschau vom 7. Oktober 2023. Offizielle Vertreter und Vertreterinnen Israels sind die mit Abstand häufigsten und regelmäßigen Gäste in den 20 Uhr-Nachrichten der ARD. In 312 Sendungen mit Bezug zum Krieg in Nahost brachten es Personen aus Israels Politik und Militär auf insgesamt 136 Auftritte. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erhielt dabei mit 63 Statements besonders häufig das Wort.Als einziger Konfliktpartei gibt die Tagesschau Israel regelmäßig die Gelegenheit, die eigenen Kriegsziele zu erläutern, zu Anschuldigungen Stellung zu nehmen oder ihre Deutung aktueller militärischer Aktionen und Vorkommnisse zu präsentieren. Dabei scheint es unerheblich, von wem Anschuldigungen und Aggressionen ausgehen. Egal ob aus Gaza Israel angegriffen wird oder Israel Gaza angreift, die Vereinten Nationen Israel kritisieren oder Israel die Vereinten Nationen, Iran Raketen auf Israel schießt oder vice versa – oft präsentiert die Tagesschau dazu die Einschätzung eines israelischen Regierungspolitikers oder Armeesprechers. Häufig ist diese sogar die einzige gezeigte Deutung.Offizielle palästinensische Stimmen: So relevant wie LuxemburgOffizielle palästinensische Stimmen zum Krieg sind in der Tagesschau dagegen kaum zu hören. Das gilt für Repräsentanten aus dem Gazastreifen genauso wie für jene aus dem Westjordanland, für Vertreter der Hamas ebenso wie für jene von Fatah, der Autonomiebehörde, der PLO und aller anderen palästinensischen Gruppierungen und Institutionen.Den 136 Auftritten israelischer Militärs und Politiker standen in 16 Monaten Nahost-Berichterstattung der ARD-Hauptnachrichten gerade einmal vier Auftritte palästinensischer Politiker gegenüber. Auf genauso viele Statements brachte es Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu allein in den ersten acht Tagen des Krieges. Palästinensische Repräsentanten und ihre Perspektive auf die Geschehnisse bekamen in der Tagesschau damit ähnlich viel Raum wie jene Luxemburgs (drei Auftritte) und Spaniens (fünf Auftritte).Drei Monate, 83 Sendungen und 59 Auftritte israelischer Militärs und Politiker vergingen, bis das Tagesschau-Publikum am 3. Januar 2024 mit Hamas-Chef Ismail Haniyya erstmals einen palästinensischen Politiker zu Gesicht bekam. Ein Vertreter der Fatah-dominierten Regierung in Ramallah kommt erstmals über acht Monate nach Kriegsbeginn in der Tagesschau zu Wort: Am 11. Juni 2024 begrüßt der UN-Botschafter Palästinas Riyad Mansour eine Resolution des UN-Sicherheitsrates. Der vom Westen anerkannte palästinensische Präsident Mahmoud Abbas und sein Ministerpräsident Mohammad Mustafa waren in der Tagesschau bisher kein einziges Mal zu hören.Ausgeglichener erscheint das Verhältnis bei Menschen, die als Privatpersonen zu Wort kommen. Hierbei handelt es sich vor allem um Betroffene des Krieges – aber auch Demonstrantinnen, zufällig befragte Passanten haben wir dieser Kategorie ebenso zugeordnet. Hier stehen 99 palästinensische Stimmen 89 israelischen gegenüber.Das klingt zunächst ausgeglichen. Berücksichtigt man aber, dass es für die Tagesschau angesichts eines Vielfachen israelischer Angriffe und palästinensischer Opfer wesentlich mehr nachrichtliche Anlässe gab, um palästinensische Betroffene zu Wort kommen zu lassen, erscheinen israelische Perspektiven aber auch hier überrepräsentiert zu sein. So handelt es sich bei 53 der 89 israelischen Stimmen allein schon um die Geiseln und Opfer des Angriffs vom 7. Oktober sowie deren Angehörige und Unterstützerinnen.Wer für den Gaza-Krieg „Experte“ sein darf Dass Palästinenser für die Tagesschau-Redaktion offenbar fast nur als individuell vom Krieg Betroffene relevant sind, lässt sich auch anhand der dritten Kategorie an O-Ton-Gebern zeigen. Hierunter haben wir Personen gefasst, die aufgrund ihrer beruflichen Beschäftigung mit dem Thema befragt werden, ohne dabei eine politischen Institution zu vertreten.Mit 17 Israelis und 15 Palästinensern scheint auch hier das Verhältnis zunächst ausgeglichen. Große Unterschiede gibt es allerdings, wenn man sich ansieht, welche israelischen und palästinensischen Fachleute genau ausgewählt wurden. Während auf israelischer Seite vor allem ehemalige Angehörige des Sicherheitsapparates sowie weitere „Sicherheits-“ und „Anti-Terror-Experten“ zu Wort kommen (10 von 17), sind es auf palästinensischer Seite vor allem Ärzte, Krankenhausdirektoren und Rettungskräfte.Palästinenser in der Rolle von Experten, die sich etwa als Völkerrechtlerinnen oder Politikwissenschaftler mit dem Thema beschäftigen, kamen in der Tagesschau seit dem 7. Oktober 2023 nicht vor.Placeholder image-2Auch Israels engste Verbündete erhielten viel Sendezeit. Politische und militärische Vertreter und Vertreterinnen aus Deutschland waren 52-mal, jene aus den USA 39-mal zu Gast. Ist in der Tagesschau eine politische Stimme aus Deutschland zu hören, handelte es sich in den meisten Fällen um Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). In 312 Sendungen mit Nahost-Bezug brachte sie es auf 30 Auftritte. Die häufigsten US-amerikanischen Stimmen waren die von US-Präsident Joe Biden (13 Auftritte) und Außenminister Antony Blinken (11 Auftritte).Mitglieder der Opposition oder Politiker, die der Nahostpolitik der Bundesregierung kritisch gegenüberstehen, spielten in der Tagesschau so gut wie keine Rolle. Die einzigen Ausnahmen waren zwei Einspieler aus Bundestagsdebatten, in denen am 11. und 12. Oktober 2023 in der Tagesschau zwei Stimmen aus CDU/CSU und je ein von Linke und AfD zu hören sind.Die UN als Konfliktpartei – oder gar „Gegner Israels“?Placeholder image-3Vertreter internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen (UN), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder des Internationalen Gerichtshofs (IGH) kamen 51-mal zu Wort, am häufigsten UN-Generalsekretär António Guterres mit 8 Auftritten.Auffällig ist aber, in welcher Rolle solche Personen auftreten: Mit Blick auf ihre Expertise, politische Neutralität und völkerrechtliche Stellung könnte man erwarten, dass O-Töne von Vertretern internationaler Organisationen dazu dienen, die widerstreitenden Perspektiven der Konfliktparteien um eine vergleichsweise objektive Sicht zu ergänzen. Stattdessen stellt die Tagesschau die Perspektiven von UN und israelischer Regierung oft als gleichberechtigte Gegensätze gegenüber.Zwei Beispiele von vielen: Als am 14. März 2024 Georgios Petropoulos – Sprecher der UN-Koorinierungstelle für Humanitäre Angelegenheiten (OCHA) – auf die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen infolge der Belagerung hinweist, blendet die Tagesschau als nächstes einen Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums ein, der die Schuld daran internationalen Organisationen zuweist. Als am 10. Dezember 2024 Israels Premier Benjamin Netanjahu Angriffe auf Syrien rechtfertigt, erscheint als nächstes der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, der die Angriffe kritisiert.Gewissermaßen übernimmt die Tagesschau so die Erzählung der israelischen Regierung, UN, WHO oder IGH seien nicht neutrale Institutionen, sondern Gegner Israels, quasi eine Konfliktpartei. Diese Gegenüberstellung wirkt umso stärker, da die eigentlichen Gegner Israels – wie Hamas, Hisbollah, Huthis, Iran – kaum zu Wort kommen.Überraschend ist auch, welche Stimmen fehlen. Philippe Lazzarini, Generalkommissar des eigens für diesen Konflikt geschaffenen Flüchtlingshilfswerks UNRWA, war in 16 Monaten Berichterstattung nur ein einziges Mal zu hören, obwohl er mit tausenden Mitarbeitern für die humanitäre Situation im Kriegsgebiet zuständig ist. Die UN-Sonderbeauftragte für Palästina, Francesca Albanese, kam gar nicht zu Wort. In vielen internationalen Medien gehören Lazzarini und Albanese zu den bekanntesten und vehementesten Kritikern der israelischen Kriegsführung.Amnesty International, Save The Children: Die unsichtbaren NGOsAuch Vertreter privater Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen hört man in der Tagesschau auffällig selten. In Gaza aktive NGO wie Ärzte ohne Grenzen und Save The Children kamen ebenso wenig zu Wort wie Vertreter der großen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch – und das, obwohl diese seit Beginn des Krieges regelmäßig umfassende Berichte zum Ausmaß von Krieg und humanitärer Katastrophe veröffentlichen. Lediglich zwei von 672 Stimmen gehörten Vertretern von NGOs, die das Leben im Gazastreifen täglich aus nächster Nähe erleben und so am ehesten dazu beitragen können, den Nebel des Krieges zu lichten. Zum Vergleich: Allein Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant brachte es auf 20 Auftritte.„Aus einem Krieg wie dem im Nahen Osten objektiv zu berichten, ist schwierig“, heißt es in einem Tagesschau-Beitrag vom November 2023. Schließlich ließen sich „die Angaben der Konfliktparteien kaum überprüfen“. Die Tagesschau scheint das aber noch nicht einmal zu versuchen.Fabian Goldmann ist Islamwissenschaftler und schreibt für zahlreiche Medien