In Weimar inszeniert Luise Voigt „Wir sind das Volk“, mit ihrem Brecht-Abend „Die Gewehre der Frau Carrar/Würgendes Blei“ aus München kommt sie jetzt zum Theatertreffen nach Berlin – ihre Arbeit ist eine der interessantesten Entdeckungen
Mit der „Ästhetik eines 1930er-Jahre-Spielfilms“ hat die Theatertreffen-Jury Luise Voigts Brecht-Inszenierung beschrieben
Fotos: Sandra Then; Marcus Engler (unten)
„Wir haben uns ein Monster geschaffen“, sagt Luise Voigt und lacht. Sie spricht leiser, als es das klischierte Bild von einer Regisseurin nahe legen würde, aber doch klar und konzentriert. Das Monster – das ist die Stückfassung, mit der sie derzeit kämpft. Ihre nächste Theaterarbeit trägt den Titel Wir sind das Volk und wird am Deutschen Nationaltheater Weimar zu sehen sein.
Mehr als 50 Gespräche mit Menschen aus der Goethe-Stadt und Umgebung habe sie gemeinsam mit der Produktionsdramaturgin Eva Bormann geführt. Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow und ein Nazi-Aussteiger, eine fast Hundertjährige und ein Teenager, Erzieher, Pflegerinnen und Lehrer waren unter den Befragten. Aufnahmematerial von etwa hundert Stunden ist so entstand
nager, Erzieher, Pflegerinnen und Lehrer waren unter den Befragten. Aufnahmematerial von etwa hundert Stunden ist so entstanden, das als Vorlage für Voigts Stückentwicklung dient. „So etwas macht man nur aus Überzeugung“, sagt sie nicht ohne Stolz, als wir uns in einem Café in Berlin gegenübersitzen.Die Agenda dahinter scheint offensichtlich: den gesellschaftlichen Verwerfungen, dem Rechtsruck, der allgemeinen Gereiztheit auf den Grund gehen. Dafür hat sie getan, was am Theater vielleicht nicht allzu üblich ist – sie hat zugehört. Dass die Gespräche keine Übung in Selbstbestätigung waren, liegt auf der Hand „Meine Zündschnur ist wesentlich länger geworden“, so Voigt. Und dennoch haben sie die Begegnungen alles in allem zuversichtlich gestimmt.Luise Voigt, 1985 im thüringischen Nordhausen geboren, ist eine der interessanteren Entdeckungen, die man beim diesjährigen Berliner Theatertreffen wird machen können. Dabei hat das Theatertreffen, das mit einigem Recht als das wichtigste Schauspielfestival im deutschsprachigen Raum gilt, einen blinden Fleck, so lautet jedenfalls ein wiederkehrender Vorwurf. Und dieser blinde Fleck sei Ostdeutschland. Man müsse ja nur auf die alljährlichen Einladungen sehen, meinen Anhänger dieser These. Einer reichen Theatertradition im Osten zum Trotz dominiere die darstellende Kunst aus der alten Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz.Luise Voigt steht für ein literarisches, geschichtsbewusstes TheaterUmgehend werden dann einige Gegenbeispiele angeführt. In diesem Jahr etwa ist das Theater Magdeburg mit Blutbuch vertreten, das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin ist Koproduzentin von Sancta, inszeniert von Starregisseurin Florentina Holzinger. Und liegt die Berliner Volksbühne, die mit der letzten Arbeit ihres verstorbenen Intendanten René Pollesch, ja nichts ist ok, zum Theatertreffen eingeladen ist, denn nicht im Ostteil der Stadt? Gleiches gilt für das Maxim Gorki Theater, dessen Produktion Unser Deutschlandmärchen bei dem Festival gezeigt wird.Es ist eine müßige Debatte. Das Theatertreffen ist so renommiert, wie die Entscheidungen der Kritikerjury umstritten sind. Und allmählich verschiebt sich der Diskurs über den ost-westlichen Ausgleich im Spielplan hin zu einem grundlegenderen Streit um das Gefälle zwischen der stets zu kurz kommenden Theaterprovinz und den überrepräsentierten Theatermetropolen.Will man aber wirklich wissen, ob es so etwas wie ein ostdeutsches Theater überhaupt noch gibt im Jahr 35 nach der „Wiedervereinigung“ und ob man es auch beim Theatertreffen zu sehen bekommen kann, wird man schon einen Blick nach München werfen müssen. Wie bitte? Ganz recht, genauer gesagt auf das Münchner Residenztheater, wo Luise Voigt den Doppelabend Die Gewehre der Frau Carrar/Würgendes Blei inszeniert hat.Voigt steht für ein literarisches Theater, geschichtsbewusst, ironiefrei, aber energiegeladen, das sich im deutlichen Widerspruch zu dem Eklektizismus befindet, der die darstellenden Künste in den letzten Jahren so stark geprägt hat. Für ihre Münchner Arbeit, die im Dezember vergangenen Jahres Premiere hatte, hat sie ein selten gespieltes Brecht-Stück ausgewählt: Die Gewehre der Frau Carrar. Das Diktum von der „Aneignung des bürgerlich-humanistischen Erbes“ bestimmte einige Jahrzehnte die offizielle DDR-Kulturpolitik. Voigt scheint als Nachgeborene nun wiederum die Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe zu suchen, aber nicht rein affirmativ, sondern kritisch fragend.Luise Voigt nahm für ihre „Carrar“-Inszenierung ein Vorbild aus der GeschichteBrecht hat die Carrar 1937 unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs geschrieben. Teresa Carrar lebt mit ihren beiden Söhnen in einem Dorf bei Málaga. Ihr Mann ist im Bürgerkrieg gefallen. So sehr die Gegner der Franquisten sie auch bitten, die Waffen ihres Mannes will sie so wenig wie ihre Söhne für den Freiheitskampf geben. Erst als ihr Ältester von Franquisten erschossen wird, gibt sie ihre Haltung auf und greift selbst zum Gewehr.Mit der „Ästhetik eines 1930er-Jahre-Spielfilms“ hat die Theatertreffen-Jury Voigts Inszenierung des Dramas in einem Statement beschrieben, was allerdings sehr unvollständig wiedergibt, was auf der Bühne tatsächlich zu sehen ist. Eine Aufnahme von Egon Monks paradigmatischer Inszenierung des Stoffs von 1953 am Berliner Ensemble mit Helene Weigel in der Titelrolle stand Pate. „Wir haben mit der Aufzeichnung angefangen zu proben, also wir haben die quasi re-enacted, uns dann aber im Verlauf immer weiter davon entfernt“, beschreibt Voigt ihr Vorgehen.Dafür hat sie auch die gesamte Spielweise verkehrt und sie nicht etwa ins Filmische gewendet, sondern sich der Biomechanik, einer von Wsewolod Meyerhold entwickelten Schauspieltechnik der sowjetischen Avantgarde, bedient. „Es gibt zwei Ausrichtungen bei meinem Fokus auf Körperarbeit. Ich arbeite zum einen schon seit vielen Jahren biomechanisch und zum anderen mit Butoh. Gegensätzlicher geht’s also eigentlich gar nicht“, erklärt Luise Voigt und wirkt dabei sehr bestimmt. Butoh ist ein japanischer Ausdruckstanz der Nachkriegszeit.Für die Arbeit mit den Mitteln der Biomechanik kooperiert sie mit dem Choreografen Tony de Maeyer. „Die Biomechanik ziehe ich heran, wenn immer es darum geht, dass Figuren eher Positionen innerhalb einer Ideenkonstruktion oder Ähnlichem einnehmen, wenn es zunächst um einen programmatischen Hintergrund geht oder darum, dass die Figuren eingebettet sind in Ideologie. Ich finde, dafür eignet sich das ganz hervorragend.“ Und auch mit Brecht habe das bestens zusammengepasst.Voigt bleibt allerdings nicht bei Brecht und erst recht nicht im Jahr 1937 stehen. Auf Die Gewehre der Frau Carrar folgt mit Björn SC Deigners Würgendes Blei ein zeitgenössisches Stück, das Motive und den Tonfall aus Brechts Stück klug aufgreift, aber nicht dabei verharrt. Den konkreten Umständen des Spanischen Bürgerkriegs wird das universelle Leid des Militarismus, der starken Frauenfigur Carrar ein weiblicher Blick auf den Krieg entgegengesetzt. Als „Fortschreibung“ der Carrar hat der Autor seinen Text bezeichnet. Man könnte auch von einer respektvollen Klassikerbefragung sprechen.Luise Voigt liefert keine banalen HandlungsanweisungenBeide Teile dieser Doppelinszenierung hat Voigt parallel zu proben begonnen. Für den ersten Teil war die Form schnell gefunden, für den zweiten Teil sind kurzfristige Änderungen notwendig geworden. „Wir haben bald gemerkt, dass dieser Brecht jede Form der Emotionalisierung verbietet. Der Raum ist dafür wie verstimmt.“ Einfühlungstheater sei einfach verboten gewesen. „Da haben wir die vorher gefundene Form einfach gesprengt, haben das Licht angemacht, haben alle Auf- und Abgänge offengelegt – ins Bloße, ins Nackte, ins Unsortierte. Das ist eigentlich nicht meine Form von Theater. Aber das war einfach notwendig, um dem zweiten Text gerecht zu werden, damit er als Kommentar zum Brecht deutlich wird.“Und wozu all das Ringen? Wer glaubt, Voigt liefere mit ihrem Theater banale Handlungsanweisungen für die Gegenwart, liegt falsch. Kein Daumen hoch, kein Daumen runter für Waffenlieferungen an die Ukraine oder für die bedingungslose Kapitulation angesichts einer Invasion. Sie wirft universelle Fragen auf, legt die Finger in die Wunden und entlässt ihr Publikum ohne vorgefertigte Antworten. Das ist wahrscheinlich das, was Theater am besten kann.Wenn Die Gewehre der Frau Carrar/Würgendes Blei am 10. und 11. Mai im Rahmen des Theatertreffens gezeigt wird, wird Voigt bereits mitten in den Endproben zu Wir sind das Volk sein. Am 17. Mai feiert der Theaterabend Premiere. Beide Arbeiten eint, bei allen Unterschieden, dass Voigt aktuelle gesellschaftliche Fragen auf dem Theater wirklich zu verhandeln sucht und nicht bei der bloßen Behauptung verharrt. „Ich glaube schon, dass sich eine Stadtgesellschaft durch so einen Theaterabend selbst spüren kann“, sagt sie optimistisch über das Projekt in Weimar. Dass Luise Voigt nicht nur an das Theater glaubt, sondern auch weiß, was sie mit dessen Mitteln tun kann, zeichnet sie aus. Ihre Einladung zum Theatertreffen in diesem Jahr war hoffentlich nicht die letzte. Das wäre eine gute Nachricht für das Publikum.