Wird die Große Koalition der Auftakt zur großen Umverteilung von unten nach oben? Schon jetzt malen Ökonomen Horror-Szenarien an die Wand, die Politiker nur allzu gerne aufgreifen. Was sind ihre fadenscheinigen Argumente?


Soziale Sicherheit ist einer Demokratie die Voraussetzung für Stabilität

Foto: Karolina Norontaus/Plainpicture


Abteilung Attacke ist angetreten. Die Einschläge kommen näher. Das Ziel ist der Sozialstaat. Der „uns die Haare vom Kopf“ fresse, wie Markus Lanz seinem Talk-Gast Boris Palmer vergangene Woche sekundierte, als sich dieser über den „ausufernden Sozialstaat“ in Rage redete. Der parteilose Tübinger Oberbürgermeister ist noch immer gut, wenn es darum geht, Stimmung in die Offensive zu bringen. In dem Fall sind es die darbenden Kommunen, die nicht zu Unrecht befürchten, dass vom prallen Sondervermögen zu wenig für sie abfällt. Verbale Angriffe auf den Sozialstaat sind nun wirklich nichts Neues, und oft folgten ihnen auch Taten. Aber was derzeit rhetorisch aufgeboten wird, um Generationen gegeneinander aufzuhetzen oder Leistung

sch aufgeboten wird, um Generationen gegeneinander aufzuhetzen oder Leistungsträger gegen sogenannte „Sozialschmarotzer“ auszuspielen, hat eine neue Qualität.Beim „überbordenden Sozialsystem“ stehe alles auf dem Prüfstand, erklärte im März der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU). Sein Mann fürs Grobe, Thorsten Frei von der Baar, jener traditionell tiefschwarzen Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, stieß nach, als er kürzlich von einer „grundlegenden Neuausrichtung der Haushaltsprioritäten“ sprach. „Steigende Verteidigungsausgaben lassen sich nicht ohne Einsparungen in anderen Sektoren realisieren“, erklärte der künftige Kanzleramtsminister. Er fordert, diese „unangenehmen Wahrheiten nicht mehr zu verschweigen.“Einschneidende, mit Einsparungen verbundene Strukturreformen in der Gesundheits- und Pflegepolitik seien unumgänglich. Die Pläne für Bürgergeldbezieher:innen im Koalitionsvertrag (PDF) sind sattsam bekannt. Was jedoch wird es für Alte, Kranke, Kinder oder Menschen mit Behinderung bedeuten, wenn die „Kettensäge“ (SPD-Chef Lars Klingbeil) angesetzt wird?Ökonom will Sozialstaatsausgaben auf das Niveau von 1990 zurückfahren!Die Arbeitgeber haben ihre Vorstellungen in neu formulierten Empfehlungen bereits vorgelegt. Das Szenario: Bis 2060 läuft die Sozialstaatsquote – also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – mit 50 Prozent aus dem Ruder. Der Arbeitsgeberverband will sie möglichst bei 41 Prozent (heute 42 Prozent) deckeln durch Erhöhung des Rentenalters, Senkung des Rentenniveaus und höhere Abschläge beim vorzeitigen Renteneintritt.Im Bereich der Gesundheit fordert er einen „ziemlich radikalen Umbau“. Und das Arbeitslosengeld I soll grundsätzlich nur noch ein Jahr bezahlt werden. Ins gleiche Horn stößt der aus der Versenkung wieder auferstandene Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen, der Erfinder des „Sozialabgabengedenktags“.Der war dieses Jahr am 4. April und soll die Beschäftigten darauf aufmerksam machen, dass sie seit Jahresbeginn bis zu diesem Tag alles nur erwirtschaftet haben, um die Ausgaben für den Sozialstaat zu finanzieren. Raffelhüschen rechnet vor, dass die 300 Milliarden Bundeswehr-Investitionen problemlos aufzubringen wären, wenn man die Sozialstaatsausgaben auf das Niveau von 1990 zurückfahren würde.Historiker: „Der Sozialstaat hemmt die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft“Er übergeht dabei nur geflissentlich die Tatsache, dass die deutsche Einheit unter Helmut Kohl (CDU) sozialpolitisch vor allem aus den Kassen der Sozialversicherungen finanziert wurde, was diese später in Schieflage brachte. Inzwischen gibt es allerdings auch weniger marktliberale, ähnlich tönende Wissenschaftler. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka etwa ist ebenfalls der Ansicht, dass der Sozialstaat „die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft“ hemme, wie er es im Tagesspiegel-Interview formulierte. Vom bequemen Akademikerschreibtisch aus plädiert er für die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.Wenn absehbar massenhaft gut bezahlte Industriejobs wegfallen, Sozialkassen weniger Einnahmen generieren, die Babyboomer in Rente gehen und mehr Gesundheitsleistungen nachfragen, beginnt ein gefährlicher Kreislauf. Dann herrscht die Angst vor und macht vergessen, dass ganz oben sehr viel Leistungsfähigkeit ist und unten sehr wenig. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beurteilt den Koalitionsvertrag als die Rückkehr zum „harten Sozialsystem“, bei dem viele Menschen auf der Strecke bleiben.Schon jetzt hat die große Mehrheit der Deutschen laut Ungleichheitsbarometer nur noch wenig Vertrauen in den Sozialstaat, die Ärmeren sogar sehr wenig. Aber die soziale Sicherheit, das hat schon der Verfassungsrechtler Böckenförde 1964 festgestellt, ist in einer Demokratie die Voraussetzung für deren Stabilität. Und Austeritätspolitik deren größte Bedrohung.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert