Als junger Deutscher in Moskau war ich in den frühen 1990er Jahren oft fassungslos, wie schlecht die medizinische Versorgung in Russland funktionierte. Ich erinnere mich an Warteschlangen vor Polikliniken, Bestechungszahlungen, fehlende Geräte und Medikamente, überfordertes Klinikpersonal. Und ich erzählte meinen russischen Freunden ganz ehrlich, wie gut die Medizin bei uns in Deutschland ist. Wie selbstverständlich es ist, einen Termin bei einem Arzt zu bekommen. Wie man sich auf Diagnosen verlassen kann. Und dass jeder weiß: Wenn es ernst wird, kümmert sich die Medizin. Heute, viele Jahre später, kommt mir dieses alte Selbstbild zunehmend wie ein Mythos aus einer längst vergangenen Zeit vor.
Denn während mir Freunde aus Moskau berichten, wie effizient dort inzwischen Termine vergeben werden, wie digital vieles abläuft, wie freundlich und schnell das Personal ist, erreichen mich aus Deutschland immer mehr Schreckensmeldungen. Nicht von irgendwelchen Leuten, sondern von Ärzten in meinem Umfeld. Und jetzt auch noch ein Bericht im “Focus” – ein aufwühlender Blick auf eine stille Katastrophe.
In Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt spielten sich Szenen ab, die fassungslos machen: Hunderte Menschen – viele davon Senioren und Rentner – warteten stundenlang in der prallen Sonne, um einen Termin in einer neuen Augenarztpraxis zu ergattern. Die Schlange in der Puschkinstraße zog sich bis in die nächste Straße, Bilder zeigen Menschen in Viererreihen. Der Grund: Die Praxis nahm an nur einem einzigen Nachmittag Termine an – ausschließlich persönlich. Warum nicht digital oder telefonisch? Unklar.
Wer berufstätig war, hatte keine Chance. Eine Buchhalterin berichtete, sie sei entnervt wieder umgedreht. Die sozialen Netzwerke reagierten mit Empörung: „Eine Schande für unser Land“, schrieb ein Nutzer. Und die Ärzteversorgung? Laut Kassenärztlicher Vereinigung Sachsen-Anhalt sind allein in diesem Bundesland rund 240 Haus- und Facharztstellen unbesetzt.
Doch was steckt dahinter? Tatsächlich hat Deutschland rein rechnerisch keinen Ärztemangel. Seit 1990 ist die Zahl der Mediziner um 65 Prozent gestiegen. Es gibt mehr Ärzte pro Einwohner als in Kanada oder Großbritannien. Aber: Immer mehr arbeiten in Teilzeit. 2009 waren es nur 3,8 Prozent, heute sind es über 35 Prozent. Dazu kommt: Viele junge Ärzte wollen keine eigene Praxis mehr, sondern lieber ein planbares Einkommen ohne unternehmerisches Risiko.
Das Ergebnis: Obwohl die Zahl der Ärzte steigt, sinkt die reale Verfügbarkeit. Patienten kämpfen um Termine. Fachärzte verhängen Aufnahmestopps. Ganze Regionen werden zu medizinischen Brachlandschaften. Und die Politik? Setzt auf mehr Studienplätze, statt das System grundlegend zu modernisieren oder familienfreundlicher zu gestalten. Von den Studenten wandern dann aber nach Abschluss des Studiums immer mehr ins Ausland ab. Eine befreundete Ärztin, die in der Schweiz arbeitet, erzählt etwa, dass der Anteil deutscher Ärzte dort gigantisch sei. Deutschland zahlt die Ausbildung, die Schweiz nutzt sie. Weil sie viel bessere Bedingungen bieten kann als Deutschland.
Hätte ich früher jedem Freund oder Bekannten im Ausland mit bestem Gewissen geraten, zur Behandlung nach Deutschland zu kommen, würde ich heute eher abraten – nach all dem, was mir befreundete Mediziner erzählen. Viele sind selbst mit den Nerven am Ende und völlig überarbeitet. Etwa, weil sie kaum noch Personal finden. „Viele ziehen es vor, zu bürgern“, also Bürgergeld zu beziehen, berichtet mir etwa eine Medizinerin. Die Branche käme „auf dem Zahnfleisch daher“. Ein befreundeter Augenarzt nimmt keine neuen Patienten mehr auf und Kassenpatienten haben eine Wartezeit von einem Jahr. Er kann einfach nicht mehr – er arbeitet schon jetzt viel, viel mehr, als er gerne würde.
Womit wir auch beim Thema Zwei-Klassen-System sind: Vor allem für Kassenpatienten sind die Wartezeiten oft völlig unzumutbar. Privatpatienten dagegen kommen noch schnell dran – oft erhalten sie aber laut Insidern unnötige Behandlungen. „Manch Privatpatient könnte noch leben, wenn er nur Kassenpatient gewesen wäre“, berichtete mir ein Krankenhausarzt – unter Berufung auf unnötige Eingriffe, mit denen Chefärzte abkassieren.
Mein Eindruck: Kranksein in Deutschland gleicht zunehmend russischem Roulette. Wenn man Glück hat, trifft man noch auf Überreste des alten, funktionierenden Systems – etwa in Form exzellenter Ärzte. Wenn man Pech hat, hilft nur noch Gottvertrauen – etwa, wenn man auf Ärzte oder Krankenhauspersonal trifft, das kaum oder gar kein Deutsch kann und an dessen fachlicher Qualifikation sehr große Zweifel bestehen.
„Deutschland schafft sich ab“, schrieb Tilo Sarrazin einst. Heute muss man sagen: Das gilt leider auch für unsere Medizin.
Früher habe ich mich geschämt für das russische Gesundheitssystem. Heute ist es wohl an der Zeit, sich für das deutsche zu schämen.
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