Kristina Vaillant kritisiert seit Jahren die deutsche Rentenpolitik, die insbesondere Frauen systematisch benachteiligt. Wenn Vaillant heute auf Ihren Rentenbescheid schaut, packt sie immer noch die Wut
Symbolbild für eine Lebensqualität im Alter, die mit der derzeitigen Rentenerwartung utopisch ist
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Das deutsche Rentensystem ist ungerecht, veraltet und befördert die Altersarmut von Frauen. Über zehn Jahre nach der Veröffentlichung ihres Buchs Die Verratene Generation – Was wir Frauen in der Lebensmitte zumuten fragen wir Kristina Vaillant, was sich jetzt endlich ändern muss.
der Freitag: Frau Vaillant, als ich vor über zehn Jahren Ihr Buch las, bin ich erschrocken. Sie schrieben, wie gut ausgebildete, berufstätige Frauen und Mütter in der Lebensmitte gestresst sind und später trotz all dem Stress von Altersarmut bedroht sind. Wie enttäuscht oder überrascht sind Sie von der neuen Regierung beim Thema Rente?
Kristina Vaillant: Also, ich bin nicht überrascht, weil ein Paradigmenwechsel, wie er notwendig wäre, immer schwierig
nicht überrascht, weil ein Paradigmenwechsel, wie er notwendig wäre, immer schwierig ist. Man sollte jedoch nicht unterschätzen, wie bedeutsam die Festschreibung des Rentenniveaus ist.Bei 48 Prozent.Genau. Das Rentenniveau ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gefallen von 70 Prozent, dann 60 auf jetzt 48 Prozent. Das ist zu wenig für diejenigen, die weniger als ein Durchschnittsgehalt verdienen. Trotzdem glaube ich, dass es ein wichtiger Schritt war, zumindest erstmal dafür zu sorgen, dass das Rentenniveau nicht weiter fällt. Erstens erreichen viele niemals dieses Durchschnittsgehalt, außerdem geht es im Leben in der Regel häufiger hoch und runter.,Es sackt jetzt nicht weiter ab, aber das ist doch eher ein Stehenbleiben kurz vor der Armutsgrenze als ein Schritt.Ja, auf 1.600 Euro Rente kommt ich nur, wenn ich 40 Jahre lang über das gesamte Arbeitsleben hinweg durchschnittlich verdiene. Erstens erreichen viele niemals dieses Gehalt, außerdem geht es im Leben in der Regel häufiger hoch und runter. Frauen meiner Generation konnten im Westen zum Beispiel, wenn sie Kinder hatten, nur eingeschränkt berufstätig sein, weil es kaum Betreuungsmöglichkeiten gab. Und das gilt auf andere Weise ganz stark für Ostdeutschland. Da haben viele Menschen mit der Wende ihren Arbeitsplatz verloren und waren über längere Zeit arbeitslos, vor allem Frauen, aber auch Männer, die vielleicht bis zur Rente nie wieder den Einstieg in eine reguläre Beschäftigung fanden. Außerdem sind die Gehälter dort bis heute niedriger. In diesem Kontext war es erstmal ganz wichtig durchzusetzen, dass das Rentenniveau stabil bleibt. Und will man mit 67 in Rente, muss man ja spätestens mit 25 ordentlich arbeiten und das Gehalt auch verdienen …Genau. Auf 1.600 Euro Rente komme ich nur, wenn ich 40 Jahre lang über das gesamte Arbeitsleben hinweg durchschnittlich verdiene.Warum lassen wir uns das gefallen? Warum steht Deutschland im Vergleich denn so schlecht da?Das liegt am Rentenniveau. In Österreich liegt es zum Beispiel weit über 48 Prozent. Und, ganz wichtig: In Deutschland wurde, anders als in allen anderen europäischen Ländern, nur wenig dafür getan, kleine Renten aufzuwerten.Wären Sie dafür, dass alle in die Rentenversicherung einzahlen?Ich finde das als Vision sehr attraktiv, auf jeden Fall. ….Wäre es nicht auch wichtig für ein allgemeines Gerechtigkeitsgefühl …?Ja, aber Symbolik allein wird nicht unsere Probleme lösen. Wir brauchen ein solidarisches und ein zukunftsfähiges Rentensystem. Die Ansätze sind ja da. Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung, die sollte aber nicht ab- sondern dringend ausgebaut werden, dann die Betriebsrenten, private Altersvorsorge. Die Riesterrente als erster Versuch ist aber gescheitert. Die Rechnung ist nicht aufgegangen, zum einen wegen der Crashs am Finanzmarkt. Zum anderen, weil man die Ausgestaltung der privaten Versicherungswirtschaft überlassen hat. Ich kenne einige Leute, die sich nicht trauen, ihre Riestervertrag zu kündigen, weil sie Verluste fürchten. Die Riesterrente war ein Riesenflop. Politische Verantwortung übernimmt aber niemand.Laut Koalitionsvertrag soll es ja eine andere Art Riesterrente geben. Allerdings immer noch organisiert über die Versicherungswirtschaft. Da gibt es aus meiner Sicht in Schweden ein viel besseres Modell. Ein Fonds, der staatlich verwaltet wird. Ich entscheide als Bürger lediglich, welche Risikostufe ich wähle, ansonsten muss ich mich nicht weiter damit beschäftigen und ich zahle auch keine Gebühren – ein Grund, warum die Riesterverträge so unattraktiv sind. In einer zunehmend unsicheren Gesellschaft ist diese Rentenunsicherheit doch eine Zumutung.Es ist eine Zumutung. Die meisten Menschen in Deutschland sind im Alter für den Lebensunterhalt auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen. Sie verlassen sich darauf. Das gilt vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, und es gilt vor allem für Frauen. Wer kein Vermögen hat und keine lukrative Betriebsrente, der ist auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen. Ich dachte lange, man gehöre zu einer kleinen Minderheit, wenn man kein nennenswertes Vermögenbesitzt. Aber es sind tatsächlich 40 Prozent der Bevölkerung. ,Frauen im Osten galten als emanzipierter, weil sie viel mehr im Arbeitsleben standen als eine Generation von Westfrauen. Jetzt sagen Sie, dass diese Frauen auch von Altersarmut betroffen sind. Sowieso: man kann auch Jahrzehnte in Vollzeit arbeiten, aber es reicht eben doch nicht heutzutage. Was soll einen motivieren? Deshalb ist es so wichtig, das gesetzliche Rentensystem zu stärken und nicht zu schwächen. Für die Glaubwürdigkeit. Und für das Vertrauen in staatliche Institutionen.Jetzt kommt die Mütterrente. Wie sinnvoll ist das?Dafür hat sich die CDU/CSU im Koalitionsvertrag eingesetzt, dass Frauen, die Kinder vor 1992 bekommen haben, jetzt so wie alle anderen insgesamt drei Rentenpunkte bekommen. Das ist nachholende Gerechtigkeit, meiner Meinung nach. Es löst natürlich nicht das Problem, dass viele Frauen auch nach 40 Jahren Arbeit keine existenzsichernde Rente bekommen. Wir brauchen eine eigenständige Absicherung von Frauen im Alter. Da hilft es nicht, wenn wir immer schauen, was verdient denn der Ehemann. Das ist auch eine Schwäche bei der sogenannten Grundrente, die die vorletzte Regierung eingeführt hat. Sehr viele Frauen bekommen diesen Zuschlag zur Rente nicht, weil das Einkommen ihrer Ehemänner angerechnet wird. .Wieder so eine Unverschämtheit.Diejenigen, die gegen die Ausweitung der Mütterrente sind, sagen, sie ist zu teuer. Aber die 4,5 Milliarden, die das pro Jahr kosten würde, sind nicht das Problem, wenn man überlegt, dass durch das Ehegattensplitting dem Staat jedes Jahr 20 Milliarden Euro entgehen.Demnach sind Sie gegen das Ehegattensplitting?Ich finde, das Geld könnte man sinnvoller verwenden. Ich verstehe, dass man das Ehegattensplitting nicht rückwirkend kappen kann, weil viele Paare ihr Leben danach ausgerichtet haben. Für Frauen wirkt sich Ehegattensplitting zum Nachteil aus, aber wer rechnen muss als Familie, weil zum Beispiel ein Haus abbezahlt werden muss, der guckt natürlich auch, was insgesamt netto jeden Monat bleibt und das ist durch das Ehegattensplitting dann mehr, wenn einer, meistens ist das die Ehefrau, nur einen Minijob hat. Aber 90 Prozent dieser 20 Milliarden sparen Ehepaare in Westdeutschland ein. Was ist mit den Alleinerziehenden? Was ist mit denjenigen, wo beide Vollzeit arbeiten müssen? Da ist viel Scham beim Thema Rente. Gerade bei Frauen, die viel Zeit und Kraft in eine gute Ausbildung investiert haben. Das läuft dem Selbstbild zuwieder.,Mich beschäftigen „feministische Lebenslügen“. Fällt Ihnen dazu etwas ein?Zum Beispiel die Vorstellung: Ich muss mich nur auskennen mit dem Aktienmarkt, dann werde ich das schon wuppen mit der Rente? Meinen Sie so etwas?Ja, zum Beispiel.Ich finde das überhaupt nicht feministisch. Feminismus heißt für mich nicht, dass ich gucke, wie ich in meinem individuellen Leben am besten zurechtkomme, sondern dass ich schaue, wie geht es den anderen? Was ich oft festgestellt habe, ist, dass Frauen meiner Generation überhaupt nicht darüber sprechen wie ihre Rentenerwartungen sind.Warum schweigen Frauen so oft beim Thema Rente?Ich verstehe das, weil mit dem Thema sehr viel Scham verbunden ist. Gerade bei Frauen, die viel Zeit und Kraft in eine gute Ausbildung investiert haben. Frauen, die sich bemühen, Arbeit und Kinder unter einen Hut zu bringen, und dann kommt doch nur so wenig dabei raus. Das läuft dem Selbstbild zuwider. Ich habe aber auch schon junge Frauen getroffen, die mir sagten, sie möchten keine Kinder bekommen, weil sie dann am Ende zu wenig Rente bekommen. Es ist wichtig, zu sehen, dass das Ganze ein systemisches Problem ist.Man schweigt wegen der Scham und weil die Situation alternativlos ist. Weil man sich ja trotzdem durchwursteln muss, sich nicht die Decke über den Kopf ziehen kann … Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen. Auch der Wut Raum zu geben. Denn Frauen werden ja auch Vorwürfe gemacht. Selbst schuld, wenn du eine kleine Rente hast. Du hast jahrelang in Teilzeit gearbeitet, du hast dir nicht den richtigen Mann gesucht. Es ist aber mittlerweile so: Selbst wenn ich immer Vollzeit gearbeitet habe, es reicht oft trotzdem nicht.Unabhängig vom Geschlecht – Menschen zu stigmatisieren, deren Rente nicht reicht, führt zu Politikverdrossenheit, oder?Es ist ungerecht! Vor allem aber blockiert das eine gesellschaftliche Debatte und damit auch die Suche nach Lösungen. Wie gesagt, die Einführung der Grundrente war ein Anfang. Nur – der Zuschlag ist sehr niedrig. Im Durchschnitt etwa 86 Euro. Und viele Frauen bekommen ihn nicht, weil die Einkommen der Ehepartner angerechnet werden. Um den vollen Zuschlag zu bekommen, muss man 35 Jahre eingezahlt haben. Im Moment liegt die durchschnittliche Beitragszeit bei Frauen bei 32 Jahren.Es wurde nicht darüber nachgedacht, was mit denen ist, die nicht so gut verdienen, die nicht so viel arbeiten können, weil sie krank sind, die sie sich selbstständig gemacht haben mit einer tollen Idee und damit scheiterten, die arbeitslos werden oder wegen der Sorge für Kinder, Kranke und Alte beruflich kürzer treten,Es klingt alles so kompliziert. So einfallslos. Wie könnte denn ein attraktives Rentensystem aussehen?Ich stelle mir ein Drei-Säulen-Modell vor, das anders funktioniert. Als erste Säule eine steuerfinanzierte Grundrente als Basisabsicherung, die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Das sind im Moment etwa 1.100 Euro. Dann eine zweite Säule, in die man proportional zum Gehalt einzahlt und eine Rente erhält. Als dritte Säule eine verpflichtende Betriebsrente. Im Westen spielen die Betriebsrenten momentan eine viel größere Rolle als um Osten. Aber auch im Westen sind es aber eher Männer, die gute Betriebsrenten beziehen. Übrigens: Wenn man diese Rechnung aufmacht, dann ist die Rentenlücke zwischen Frau und Mann noch viel größer. Wenn wir nur die gesetzliche Rentenversicherung betrachten, beträgt sie mehr als 30 Prozent. Sitzen Sie mit Ihrer Expertise zur Alterssicherung eigentlich in irgendeiner Kommission?Nein. Aber ich bin ja auch Journalistin, ich werde nach wie vor eingeladen von Initiativen, Parteien, Kirchengemeinden, Gewerkschaften. Und es soll ja wieder eine Kommission geben. Die wurde auch schon mal von der vorletzten Regierung eingesetzt. Nur kam damals überhaupt nichts dabei heraus. Es hieß wie in den 1950ern: Die beste Versicherung sind gute Löhne und möglichst lange einzuzahlen in die Gesetzliche Rentenversicherung. Es wurde nicht darüber nachgedacht, was mit denen ist, die nicht so gut verdienen, die nicht so viel arbeiten können, weil sie krank sind, die sie sich selbstständig gemacht haben mit einer tollen Idee und damit scheiterten, die arbeitslos werden oder wegen der Sorge für Kinder, Kranke und Alte beruflich kürzer treten. Dabei gehört das doch zum Leben dazu. Als die Gesetzliche Rentenversicherung in den 50er Jahren reformiert wurde und die Rente so erbarmungslos an die Höhe der Beitragszahlungen und damit an das Gehalt gekoppelt wurde, sah eine Erwerbsbiografie anders aus als heute: Arbeit bis zur Rente bei ein und demselben Arbeitgeber und stetig steigende Löhne. Diese Welt haben wir schon lange nicht mehr. Vielleicht bräuchte es neben der Rentenkommission, die ist ja an sich keine schlechte Idee ist, auch einen Bürgerrat. Weil Bürger einen vernünftigen, aus der Erfahrung gespeisten Zugang zum Thema Alterssicherung einbringen können..Ihre Bücher wurden damals nicht sehr beachtet. Warum?Ich glaube, in meiner Generation wollten viele Frauen nichts mit dem Thema zu tun haben, weil es dem Selbstbild so sehr widersprochen hat. Es hat in der feministischen Debatte schon vorher so einen „cultural turn“ gegeben. Man hat sich eher mit Lifestyle-Themen beschäftigt und nicht mit sozialpolitischen Fragen.Sie sind jetzt 60. Vorbereitet?Ich habe viel Kraft in Ausbildung und Beruf gesteckt und war, auch als die Kinder klein waren, immer berufstätig – wenn es möglich war, in Vollzeit. Ich habe auch in private Altersvorsorge eingezahlt, und, wenn es das gab, in die Betriebsrente. Insofern bin ich gelassen. Die Lage ist trotzdem höchst ernüchternd, und wenn ich meinen Rentenbescheid sehe, packt mich immer noch die Wut.Vielen Dank für das Gespräch, und die Wut nehmen wir jetzt einfach mal mit.Placeholder image-1Kristina Vaillant (Jahrgang 1964) ist Publizistin und schrieb mit Christina Bylow die Debattenbücher Die verratene Generation. Was wir den Frauen in der Lebensmitte zumuten (2014) und Die verratenen Mütter: Wie die Rentenpolitik Frauen in die Armut treibt (2016)