In der baden-württembergischen Stadt bekommt die AfD besonders viele Stimmen. Das hat auch mit den Besonderheiten der städtischen Wirtschaft zu tun, früher ebenso wie heute. Ein Besuch
Wie lange wird Pforzheim noch die schönste Stadt der Welt sein?
Collage: der Freitag, Material: MidJourney
Pforzheim ist die schönste Stadt der Welt. Klar, die Fassaden sind kahl, die Straßen breit und grau, die Arbeitslosenrate hoch und manchmal sind es die Plastiktüten und nicht die Vögel, die hier durch die Gegend flattern. Aber die Stadt in der Mitte zwischen Stuttgart und Karlsruhe ist ein kultureller Schmelztiegel. Hier trifft man Ideen, Sprachen und Menschen aus aller Welt. Mehr als die Hälfte der Bewohner*innen hat entweder einen Migrationshintergrund oder ist ausländisch. Was für ein schönes Stimmengewirr! Doch nicht alle hier würden dem zustimmen.
Die AfD ist die stärkste Kraft in Pforzheim. Schon bei den Europawahlen 2014 erzielte die Partei in dieser Stadt ihr bundesweit bestes Ergebnis. Bei den Landtagswahlen 2016 wählte jede*r
s. Bei den Landtagswahlen 2016 wählte jede*r vierte Pforzheimer*in diese Partei. Weil migrantische Männer angeblich den öffentlichen Raum dominierten, behauptet der lokale AfD-Verband, trauten sich die Leute nicht mehr raus. Dabei hat die Kommune die niedrigste Kriminalitätsrate Baden-Württembergs.Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat im Westen Deutschlands deutlich zugenommen und nähert sich den Einstellungen im Osten an. Ob Rechtsextreme in Deutschland bundesweit wieder den Ton angeben, wird nicht zuletzt in Städten wie Pforzheim entschieden. Denn die meisten Bürger leben nicht in den Metropolen, sondern in eher mittelgroßen oder kleinen Städten.Bei der vergangenen Bundestagswahl stimmten im Stadtteil Haidach-Buckenberg sogar 57 Prozent rechtsextrem. Der Bus zu diesem Ort führt durch eine steile und enge Straße. Es ist die einzige Verbindung zwischen dem Zentrum und dieser Satellitensiedlung, in der mehrheitlich Deutschruss*innen leben. Was ist hier los?Die „Rassler“ waren schon während der Weimarer Republik anfällig für RechtsextremismusDie Antwort könnte eine Skulptur in der Pforzheimer Innenstadt geben. Die Figurengruppe besteht aus fünf Menschen, die im Erscheinungsbild des 19. Jahrhunderts mit Hüten, Anzügen und Gehstöcken nach vorn schreiten. Dieses Denkmal stellt die Arbeiter*innen der Pforzheimer Schmuckindustrie dar, die damals täglich zu Fuß nach Pforzheim kamen, um als Goldschmiede zu arbeiten. Da das Ess- und Handwerksgeschirr der gehenden Arbeiter bei jedem Schritt ein Rasseln erzeugte, nannte man sie Rassler.Sie bildeten einen wichtigen Teil der Pforzheimer Arbeiter*innenschaft und hatten es schon vor der Wirtschaftskrise von 1929 nicht einfach. Sie schufteten teilweise zehn Stunden am Tag, doch weil viele von ihnen ein kleines Haus und einen Garten zur Subsistenzwirtschaft besaßen, lebten sie besser als andere Arbeiter. Diese kleinbürgerliche Schicht hatte daher besonders viel zu verlieren. Sie waren weder besonders reich noch arm und gerade deswegen bedrohte jede Wirtschaftskrise ihren Status viel deutlicher als es bei den proletarischeren Teilen der Arbeiterklasse der Fall war. Diese Gruppe war schon während der Weimarer Republik anfällig für Rechtsextremismus gewesen und ist es auch heute noch. Schon 1933 wählten in Pforzheim 57 Prozent die Nazis, 13 Prozent mehr als im Reichsdurchschnitt.Im Stadtteil Haidach leben vor allem Facharbeiter und einfache Angestellte. Viele Haidacher*innen fahren seit dreißig Jahren in das etwa 44 Kilometer entfernte Sindelfingen in die Daimler-Werke. „Hier wohnen keine Radikalen“, sagt Waldemar Meser, der seit den 1970ern im Ort wohnt. Der Gemeinderat für die CDU ist selbst Deutschrusse und erklärt: „Unsere Leute wollen nur Arbeit finden, eine Wohnung oder ein Reihenhaus haben. Sehr viele haben das auch geschafft.“Mit Muslimen hätte man schlechte Erfahrungen gemacht, seufzt der GemeinderatIn Pforzheim ist die AfD dort besonders stark, wo Menschen aus den mittleren Einkommensschichten wohnen, zum Beispiel in den Stadtteilen Huchenfeld, Dillweißenstein, Eutingen oder Büchenbronn. Menschen, die spüren, dass sie ihr Eigenheim wegen der steigenden Energiepreise vielleicht verkaufen müssen. Menschen, die beim Wocheneinkauf immer häufiger ein Produkt auslassen, weil die Preise schon wieder gestiegen sind. Menschen, denen die AfD eine komplexitätsreduzierende Antwort anbietet: Es sind die anderen.Ihr Stadtteil sei einer der sichersten, freut sich Meser. In den Zehnerjahren entstanden hier Neubausiedlungen. Diese hart erarbeitete Idylle sehen die Bewohner*innen durch die neuen Migrant*innen bedroht. Mit Muslimen hätte man schlechte Erfahrungen gemacht, seufzt der Gemeinderat. „Die CDU muss endlich die beiden Trümpfe der AfD belegen: Migration und innere Sicherheit“, so Meser. Bis 2016 war der Haidach eine schwarze Hochburg, doch mittlerweile müsse er seine Mitgliedschaft vor Freunden rechtfertigen. Diese glaubten nicht, dass seine Partei die Migration schnell eindämmen könnte.Als in den 1990ern weite Teile der Pforzheimer Schmuckindustrie ins Ausland abwanderten, erstarkten die Republikaner. Nicht nur damals hat der Strukturwandel rechte Politik begünstigt. Viele Pforzheimer*innen arbeiten heute auch für Zuliefererfirmen der Automobilindustrie. Klimapolitik hört sich für diese Menschen wie ein Angriff auf ihre Existenzsicherung an. Auch deswegen hat ein vor allem auf besserverdienende Milieus fokussierter Klimadiskurs in einer Arbeiterstadt wie Pforzheim den rechten Reflex verstärkt.Pforzheim ist eine Stadt mit besonders starker ethnischer SegregationWo viel Armut herrscht, ist die Wahlbeteiligung in Pforzheim besonders niedrig, das betrifft alle Kernstadtbezirke. In der Oststadt lag die Wahlbeteiligung bei gerade einmal 42 Prozent. Die Mehrheit findet Wahlen also entweder nicht wichtig genug oder glaubt nicht daran, dass diese etwas verändern könnten. Je ärmer ein Mensch ist, desto weniger Vertrauen hat er in die Demokratie – das gilt bundesweit.Pforzheim ist auch eine Stadt mit besonders starker ethnischer und ökonomischer Segregation. Während in der Kernstadt an der Osterfeld- oder der Inselgrundschule vor allem migrantische Kinder unterrichtet werden, findet man an den Schulen in den umliegenden Gemeinden, in Büchenbronn oder in Eutingen, fast nur weiße deutsche Kinder. Die ersteren leben häufig in engen Stadtwohnungen und die zweiteren meist in Einfamilienhäusern. Migrantische Kinder, die es auf das Gymnasium schaffen, begegnen dort oft zum ersten Mal deutschen Gleichaltrigen. Auch der Gemeinderat ist fast ausschließlich weiß-deutsch.Bis vor Kurzem noch dachten die meisten, dass die jüngeren Generationen weniger anfällig für Rassismus seien. Doch mittlerweile ist die AfD, gleich nach den Linken, die meistgewählte Partei unter jungen Menschen. „Viele Jugendliche haben Hass aufeinander, auf gesellschaftliche Gruppen, man merkt, manche stehen eher rechts“, erzählt Jugendgemeinderat Leon Mayer. Die AfD erreiche sie auf TikTok. In Pforzheim sei die Plattform besonders beliebt. Dort gebe es einen nahtlosen Wechsel zwischen Clips von coolen Autos und Rechtsextremismus. Dass Pforzheim tatsächlich eine Stadt mit besonders hohem Ausländer- und Migrantenanteil ist, wird von neonazistischen Gruppen genutzt, um eine angebliche Entfremdung Deutschlands an die Wand zu malen.Rassismus ist auch unter migrantischen Jugendlichen verbreitetZwei Jugendliche sitzen zusammen, diskutieren hitzig. Einer von beiden hat die AfD gewählt, der andere, Emre Ölmez heißt er, kann das nicht verstehen. Beide haben Migrationshintergrund. „Schau dir doch das Land an! Nur die AfD kann diese Probleme lösen.“ „Aber wie denn? Nenn mir einen konkreten Vorschlag, den die AfD macht. Was hat sie denn wirtschaftlich vor?“, fragt Ölmez und erzählt, dass sein Bekannter eine Minute lang nachgedacht habe, um dann doch keine Antwort geben zu können.Auch Ölmez ist Jugendgemeinderat. Er hat türkische Wurzeln und erzählt, dass Rassismus auch unter migrantischen Jugendlichen Verbreitung fände. Viele folgten Leuten, die frauenfeindliche Tendenzen hätten und „starke Männer“ sein wollten. „Da ist diese Social-Media-Bubble und die meisten glauben diesen einfachen Erzählungen der AfD.“ Hass werde nebenbei in kurze Clips gestreut. Auch viele Türkeistämmige in Pforzheim sind laut Ölmez gegen die Ankunft von neuen Migrant*innen. „Sie haben vergessen, dass ihre Eltern auch einmal fliehen mussten“, sagt er. Wie bei den Deutschruss*innen, die mit der Wahl für die AfD, ihr Deutschsein unter Beweis stellen wollen, sorge auch hier die Abgrenzung zu neuen Migrant*innen für ein Gefühl des Dazugehörens. Viele, die selbst einmal stigmatisiert wurden, geben die Abwertung weiter.Christoph Weisenbacher geht mit schnellen Schritten zum Rathaus. Der Gemeinderat für die Initiative „Wir in Pforzheim“ (WiP) setzt sich gegen Ausgrenzung ein. „Wenn wir eine reiche Stadt wären, sähen die politischen Verhältnisse hier auch anders aus“, sagt er. Man müsse sich auf die Alltagsprobleme der Leute konzentrieren. „Für Kitaplätze sind immer alle.“ Wenn man solche Sachen mal in den Griff kriegen würde, wäre ein großer Teil des Unmuts, aus dem die AfD ihre Stimmen zehrt, weg, so Weisenbacher.Alltagsprobleme treten in Pforzheim besonders deutlich zu TageLeistbarer und zuverlässiger ÖPNV, mehr städtische Grünanlagen, besser ausgestattete Schulen und den lokalen Einzelhandel erhalten – das sind wichtige Themen. In Pforzheim steht ein riesiger Galeria Kaufhof leer. Die mehrstöckige Ladenfläche des ehemaligen Esprit-Kleidungsgeschäfts verstaubt vor sich hin. Auch der hundert Quadratmeter große City-Supermarkt, mitten in der Stadt, ist verbarrikadiert. Dutzende kleine Ladenflächen wurden nach der Corona-Pandemie nie wieder in Betrieb genommen. Weil die Stadt relativ wenig Privatpatienten hat, lassen sich gewinnorientierte Ärzte außerdem lieber anderswo nieder.All diese Alltagsprobleme, wie Weisenbacher sie nennt, treten in Pforzheim besonders deutlich zu Tage, weil die Stadt stark verschuldet ist. Hoch riskante Zinsgeschäfte mit Banken brachten der Kommune schon 2006 herbe Verluste ein. Die dann folgende Finanzkrise gab ihr den Rest. Die Folgen kapitalistischer Politik sind in Pforzheim deutlich sichtbar.Setzt man sich in den Gemeinderat, herrscht bei den Stühlen ganz rechts Stille. Auf solche Probleme hat die AfD keine konkrete Antwort. Es müsse schon um Weltpolitik gehen, damit sich die Blauen zu Wort melden, berichten Gemeinderäte parteiübergreifend. Als die zweitgrößte Fraktion stellte die AfD in der vergangenen Legislatur die wenigsten Anträge. 15 waren es an der Zahl. Zum Vergleich: bei der CDU waren es 53.Was fehlt in Pforzheim: ein liberales BürgertumEs fehle der Industriestadt auch an Akademikern und einem liberalen Bürgertum, sagt Gemeinderat Weisenbacher. Wenn die AfD den Klimawandel leugne, gebe es zu wenig Menschen, die dagegenhalten könnten. Dem steht ein zweifelhafter Überfluss gegenüber: „In den Landkreisen um die Stadt herum gibt es viele Freikirchen, die eher konservativ bis rechts sind.“ Auch die Coronaleugner demonstrieren in Pforzheim immer noch jede Woche.Nach der Plenarsitzung des Gemeinderats tauschen sich ein paar CDU-Politiker*innen mit Rät*innen der AfD aus. Bricht da was auf? Die Brandmauer sei offiziell stabil, sagt Weisenbacher, doch die Konservativen hätten wenig Berührungsängste, mit AfD-Stadträt*innen abends ein Bier zu trinken. Die FDP, die Grünen oder die SPD suchten diesen Kontakt nicht, erzählt er.Wohin diese Entwicklungen führen, ist ungewiss. Klar ist, dass die verbreiteten Abstiegsängste in der alten Industriestadt menschenfeindliche Einstellungen verstärken. Und das wiederum hilft der AfD. Pforzheim ist natürlich die schönste Stadt der Welt – nicht trotz, sondern wegen ihrer Vielfalt und all ihrer Widersprüche. Doch wie lange noch?Ob sie es bleibt, entscheidet sich nicht an den Wahlkabinen allein, sondern daran, ob Politik und Gesellschaft den Mut finden, ökonomische Ungleichheit zu bekämpfen, Räume für Begegnung zu schaffen und den Rechten nicht das Feld zu überlassen. Wer heute durch Pforzheim geht, hört so manchmal auch das Rasseln vergangener Kämpfe – und die Frage, ob wir aus ihnen gelernt haben.Alieren Renkliöz schreibt neben dem Freitag für andere überregionale Zeitungen und Magazine wie den Stern, dasNeue Deutschland oder die Schweizer WOZ. Auch für Regionalzeitungen wie das Schwäbische Tagblatt oder den Reutlinger General-Anzeiger ist er journalistisch tätig. Hier gibt es mehr Infos zu dem Journalisten und Lyriker.