Der Bundesparteitag der Linken hat die Jerusalem Declaration on Antisemitism als Antisemitismusdefinition festgelegt. Damit entzieht sich die Partei auch weiterhin einer Auseinandersetzung mit antisemitischen Tendenzen in ihren Reihen
Die Fürsprecher:innen des Antrags gaben sich wenig Mühe, den Anschein zu erwecken, Ziel des Antrags sei der effektive Schutz jüdischen Lebens in Deutschland
Es war schon spät am Parteitagssamstag der Linkspartei, als die noch anwesenden Mitglieder zur Abstimmung gebeten wurden. Aufgrund der Zeitknappheit – der Saal sollte in einer halben Stunde geräumt sein – wurde nach drei knappen Redebeiträgen mit knapper Mehrheit beschlossen, die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) verbindlich als Antisemitismusdefinition festzulegen. Die JDA entstand 2020/21 als Gegenentwurf zur Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2019, die den Verfassern der JDA zufolge Kritik an Israel einschränke.
Die Fürsprecher:innen des Antrags gaben sich dabei wenig Mühe, den Anschein zu erwecken, Ziel des Antrags sei der effektive Schutz jüdischen Lebens in Deutschlan
.Die Fürsprecher:innen des Antrags gaben sich dabei wenig Mühe, den Anschein zu erwecken, Ziel des Antrags sei der effektive Schutz jüdischen Lebens in Deutschland: Hinter den Redenden wurde gut sichtbar ein „Palestine“-Schal hochgehalten, eine der Rednerinnen behauptete, auch das, was in Gaza passiere, sei „kein Vogelschiss“ – eine Andeutung auf die Rede Alexander Gaulands vom Nationalsozialismus als „Vogelschiss in der Geschichte“, die durchaus als NS-Relativierung gelesen werden könnte und damit im Sinne der IHRA-Definition tatsächlich antisemitisch wäre.Die indes schlichtweg falsche Aussage, auf Grundlage der IHRA-Definition könne jede Kritik an Israel als antisemitisch definiert werden, wurde nicht nur von der Rednerin, sondern später auch vom Parteivorsitzenden Jan van Aken wiederholt. Dabei gibt es so einiges, was man über Israel sagen könnte, ohne laut IHRA-Definition als antisemitisch zu gelten – darunter etwa, dass Israel von extrem Rechten regiert wird, Kriegsverbrechen begeht und aktiv Hilfslieferungen behindert. Folgt man der IHRA, gilt auch der Vorwurf eines Genozids nicht in jedem Fall als antisemitisch.Die JDA hingegen ist – wie schon der Begriff „Declaration“ nahelegt – keine wissenschaftlich fundierte Definition, sondern wurde immer wieder als politisches Instrument kritisiert, das den Fokus weg vom Schutz jüdischen Lebens und hin auf den Nahostkonflikt verschiebt. Von vielen großen jüdischen Verbänden, darunter allein in Deutschland dem Zentralrat der Juden, der Jüdischen Studierendenunion und dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus wird sie genauso abgelehnt wie von vielen linken, zionistischen Jüdinnen und Juden und Antisemitismusforscher:innen.Die Linke stellt sich ihrem eigenen Antisemitismus nichtKurz nach dem 8. Mai und nach dem Tod Margot Friedländers, den auch Die Linke für Lippenbekenntnisse nutzte, nimmt es sich indes besonders merkwürdig aus, wenn Jan van Aken als Reaktion auf Kritik des Zentralrats diesen ermahnt, er solle „anerkennen, dass beide Definitionen auch von Juden und Jüdinnen erarbeitet und vertreten werden“. Dass Publizisten wie Kerem Schamberger in der Folge die Kritik am JDA-Beschluss als rechts framen, zahlt auf die Narrativverschiebung ein, die zunehmend dafür sorgt, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen von Antisemitismus danach bewertet wird, wie gut sie sich in die eigene politische Agenda einspannen lassen.Fest steht: Dass die JDA von Wissenschaftler:innen unterschrieben wurde, macht sie nicht zum wissenschaftlichen Text – so begreift sie Antisemitismus etwa als eine Unterform von Rassismus, womit sie großen Teilen der Antisemitismusforschung widerspricht, die Antisemitismus als eigenes Phänomen und Weltanschauung analysiert. In einem Working Paper bemängelt etwa die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), dass die JDA eklatante inhaltliche Inkonsistenzen und Widersprüche aufweise und kaum von Vertreter:innen jüdischer Institutionen unterzeichnet worden sei. Mit dem Entschluss hat die Linke den Spalt zwischen der Partei und großen Teilen der jüdischen Gemeinschaft vergrößert.Antisemitismus ist ein komplexes, dynamisches und anpassungsfähiges Phänomen, das sich durch keine Definition, weder die IHRA noch die JDA, in Gänze fassen lässt. Um Antisemitismus wirklich zu erkennen und zu bekämpfen, wäre eine fortwährend von Expert:innen und Betroffenen geführte Debatte vonnöten. Der auch parteiintern scharf kritisierte und nur von 213 Mitgliedern angenommene Antrag wird diese Debatte einmal mehr aufschieben, vielleicht auch auf lange Dauer verunmöglichen.Dass hochrangige Linkenpolitiker sich in puncto Antisemitismus mit Oberflächlichkeiten, Appeasement, Halb- und Unwahrheiten aufhalten, kann indes als Zugeständnis an diejenigen Teile der Basis gedeutet werden, die es in der Tat nicht schaffen, Israel auf eine Art zu kritisieren, die nicht antisemitisch ist. Ob den Menschen, die in Gaza unter Krieg und Hungersnot leiden, damit wirklich geholfen wird, bleibt zu bezweifeln. Die Normalisierung von Maximalforderungen wie der Parole „From the River to the Sea, Palestine will be free“ oder die auf der Straße wie auf Social Media virulenten Auslöschungsfantasien gegenüber Israel sind nicht nur klar antisemitisch, sie scheitern auch daran, ein realistisches und nachhaltiges Friedensszenario zu entwerfen.