Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Es geht mir nicht um die Frage, ob man Menschen wie Putin, Selenskyj, von der Leyen, Starmer, Macron oder gar Merz, um nur einige zu nennen, Vertrauen schenken kann – all diesen Gestalten würde ich nicht einmal glauben, wenn sie mir freundlich einen Guten Morgen wünschen. Es geht auch nicht um die historische Verantwortung für den Ukraine-Krieg, sondern um etwas viel Einfacheres: um die Frage nach dem Geisteszustand europäischer Politiker.

Wie man vernehmen konnte, wollen die Außenminister europäischer Staaten und der Ukraine „ein Sondertribunal zur Anklage russischer Führungspersönlichkeiten wegen des Angriffs gegen die Ukraine einrichten.“ Die begabte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas ließ hören, das Tribunal werde „sicherstellen, dass die Hauptverantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden“, und der ukrainische Außenminister hoffte darauf, „dass Kreml-Chef Wladimir Putin und andere russische Regierungsmitglieder vor Gericht gebracht werden.“ Da durfte auch der frisch inaugurierte deutsche Außenminister Wadephul nicht fehlen, der uns mit der Äußerung aufrichtete: „Es darf nicht geschehen, dass dieser völkerrechtswidrige Krieg ohne Folgen bleibt.“ Und: „Diejenigen, die die Verantwortung dafür tragen, müssen auch von einem legitimierten Gericht zur Verantwortung gezogen werden.“

Schon im nächsten Jahr soll das Sondertribunal seine Arbeit aufnehmen, was dafür spricht, dass die Vorbereitung nicht von deutschen Behörden durchgeführt wird, denn sonst wäre bis zum Beginn des Tribunals keiner der Beteiligten noch am Leben. Man mag sich darüber streiten, ob solche Bestrebungen unbedingt zur Förderung von Friedensbemühungen beitragen, zumal kein Geringerer als der neue deutsche Außenminister noch im Februar während eines von zwei russischen Komikern initiierten Telefongesprächs noch gemeint hatte, Russland werde „immer ein Feind und eine Gefahr für unsere europäische Sicherheit sein“ – er hatte geglaubt, er spreche mit einem Mitarbeiter Selenskyjs.

Orientieren wir uns aber für einen Moment an politischen Größen wie Anton Hofreiter und schieben die Frage nach Frieden beiseite. Denn eine ganz andere Frage drängt sich auf: Wie haben sich die Außenminister die Erfüllung ihrer Tagträumereien eigentlich vorgestellt? Es mag sein, dass sie an die Nürnberger Prozesse dachten, bei denen etliche verbliebene Nazi-Größen vor einem Gericht in Form eines Internationalen Militärgerichtshofes standen. Da gab es aber einen kleinen Unterschied zur aktuellen Lage: Die Deutschen hatten den Krieg deutlich und überdeutlich verloren. Sofern die Täter nicht geflohen oder bereits tot waren, konnte man sie aufspüren, verhaften und auf die Anklagebank bugsieren. In solchen Fällen kann man ein Tribunal wenigstens rein technisch für sinnvoll halten: Man hat Zugriff auf die Angeklagten, und ohne diesen Zugriff macht ein Tribunal keinen rechten Spaß. Selbstverständlich kann ich nicht ausschließen, dass die europäischen Außenminister in ihrer Weisheit davon ausgehen, dass der Krieg im Verlauf des nächsten Jahres, rechtzeitig zur Arbeitsaufnahme des Sondertribunals, von der Ukraine gewonnen sein wird – allerdings zeichnet sich derzeit nichts dergleichen ab.

Hat es Prozesse gegen Staatschefs und ihre Schergen früher schon gegeben, auch wenn man einmal von den Nürnberger Prozessen absieht? So etwas gab es. Ich erinnere an den Prozess gegen Slobodan Milošević, den ehemaligen Präsidenten erst Serbiens und dann der Bundesrepublik Jugoslawien. Noch im Amt, wurde er 1999 von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes im Zuge des Kosovokrieges angeklagt. Da war er noch Präsident, und einem starken Präsidenten hätte das kein müdes Lächeln entlockt. Doch der Kosovokrieg war unter seiner Führung insofern verloren gegangen, als Serbien beziehungsweise Jugoslawien die Kontrolle über das Kosovo verloren hatten und enorme Zerstörungen durch das NATO-Bombardement zu verzeichnen waren. Erst nach seinem Sturz, als internationale Wirtschaftshilfe von der Auslieferung des ehemaligen Machthabers abhängig gemacht wurde und man in Serbien feststellte, dass ohne ausländisches Geld das Leben keine Freude macht, wurde er verhaftet und ausgeliefert. Erst als er keine Macht mehr auf sich vereinigen konnte, kam die Anklage zum Tragen.

Aber auch ohne Prozess konnte man Staatsoberhäupter aburteilen, das ging immer dann, wenn sie ihre Macht verloren hatten. Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen, hat sie gleich zweimal verloren. Bei erster Gelegenheit, im April 1814, musste er bedingungslos abdanken, nachdem er infolge der Kriegslage jede Unterstützung der Armee und auch der Politik verloren hatte. Er war machtlos. Die Alliierten verbrachten ihn nach Elba, wofür sie keinen Prozess brauchten, wo es ihn aber nicht lange hielt, denn schon im März 1815 kehrte er nach Frankreich zurück, zur bekannten Herrschaft der 100 Tage, die mit dem Desaster von Waterloo endete. Nun beschlossen die Alliierten, ihn nach St. Helena zu verbannen: Macht hatte er keine mehr, und mit machtlosen Staatschefs kann man machen, was man will, solange man selbst über hinreichend viel Macht verfügt.

Alle drei Beispiele zeigen: Um über einen Machthaber erfolgreich richten zu können, sei es in Form eines Prozesses oder in Gestalt eines schlichten Beschlusses der Gegner, darf er kein Machthaber mehr sein. Hitler hätte jede Form von Tribunal gegen Stalin eröffnen können; darüber hätte Stalin nicht einmal gelacht, denn er war und blieb unangefochten an der Macht, da kann man sich Tribunale jeder Art sparen. Hat man gegen Mao Tse-tung, einen der großen Verbrecher des zwanzigsten Jahrhunderts, jemals ein Tribunal eröffnet? Das hat man nicht. Nicht etwa, weil er keine Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen hätte, die gab es im Überfluss, sondern weil er an der Macht war. Stattdessen hat ihn US-Präsident Richard Nixon 1972, nach vielen von Verbrechen verschiedenster Art gesäumten Jahren, mit einem Staatsbesuch geehrt. Von einem Tribunal keine Spur.

„Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn zuvor“, sagt eine alte Redewendung, die auf die missglückte Hinrichtung eines fränkischen Raubritters im 14. Jahrhundert zurückgehen soll. Und kein Sondertribunal, eingerichtet mit welchen hohen und hohlen Worten auch immer, wird irgendjemanden bestrafen, den es nicht in seinen Händen hat. Damit bleiben nur noch drei Möglichkeiten. Entweder man geht in europäischen Kreisen davon aus, dass man den Krieg bis zum Sieg weiterführen wird, einschließlich der Auslieferung Putins. Oder man hofft auf den Aufstand der Russen, die sich irgendwann gegen Putin auflehnen, ihn absetzen und dann selbstverständlich an das Sondertribunal ausliefern könnten. Oder man hat, wie man es immer tut, nur große Worte gemacht, große Gesten in die Welt gesetzt, auf Anerkennung des Publikums gehofft und außer Kosten nichts bewirkt. Jeder mag sich selbst fragen, welche Variante ihm plausibel erscheint.

1509 schrieb der Humanist Erasmus von Rotterdam sein Buch „Lob der Torheit“. Dort heißt es: „Je weniger einer kann, desto frecher belobigt er sich, desto stolzer geht er einher, macht sich breit. … Wenn also dem größten Stümper der größte Erfolg bei sich selbst und beim Publikum in den Schoß fällt, wozu sollte sich einer noch gründlich schulen?“

Erasmus bezog diese Sätze auf Schauspieler. Sollten sie auch auf Außenpolitiker anwendbar sein?

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

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