Peter Mertens hat die Partei der Arbeit Belgiens zu Wahlerfolgen geführt – indem sie hart arbeitende Menschen vertritt, die sonst völlig unterrepräsentiert sind. Sein neues Buch bringt das mit den Aufständen des Globalen Südens zusammen


Die Arbeiterbewegung stärken. In Europa und international

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Er war vor kurzem in Berlin – und was Peter Mertens, Generalsekretär der Belgischen Partei der Arbeit, zu sagen hatte, stieß im Publikum beim linken Brumaire Verlag auf gespitzte Ohren, auch auf dem Podium bei Ines Schwerdnter, der neuen Co-Parteivorsitzenden der Linkspartei. Denn Mertens‘ PTB hat, anders als viele andere linke Parteien in Europa, zuletzt Erfolge bei Wahlen feiern können. Im Brumaiere Verlag erschien gerade das neue Buch von Peter Mertens: Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät.

der Freitag: Peter Mertens, Sie gehören der erfolgreichsten explizit marxistischen Partei Europas an. Von Ihnen hätte man ein Buch über Revolution erwartet, warum benutzen Sie den Begriff Meuterei?

Peter Mertens: So weit sind wir noch nicht. Aber gu

erfolgreichsten explizit marxistischen Partei Europas an. Von Ihnen hätte man ein Buch über Revolution erwartet, warum benutzen Sie den Begriff Meuterei?Peter Mertens: So weit sind wir noch nicht. Aber gucken Sie sich in der Welt um – da ist so viel los! 30 Jahre Neoliberalismus sollten die Menschen doch zermalmen, alle Formen kollektiven Widerstands zerstören. Aber in Europa, den USA und im Global Süden ist so viel in Bewegung. In England gab es diesen Sommer mehr Streiktage als in den Achtzigern! In Frankreich zählte man bei den Streiks gegen die Rentenreform mehr Streiktage als im berühmten Jahr 1968! In Indien gab es gerade den größten Streik in der Geschichte der Menschheit, 250 Millionen Bauern wehrten sich gegen Privatisierungen im Agrarbereich. Aber es ist verrückt, niemand sieht das. All das ist nicht im kollektiven Bewusstsein, es ist nicht politisiert. Es sind Aufstände, die nicht in ein größeres Ganzes eingebettet sind.Jetzt haben Sie von Streiks und sozialen Bewegungen gesprochen, doch in Ihrem Buch geht es noch um eine zweite Meuterei, auf der internationalen Bühne.Ja, als 2022 ein Drittel der Länder in den Vereinten Nationen gegen die Sanktionen gegen Russland stimmte, nannte Fiona Hill vom US-amerikanischen Sicherheitsrat das eine Meuterei. Wir erleben gerade einen Aufstand gegen die Vorherrschaft der USA. Diese zwei unterschiedlichen Meutereien finden gleichzeitig statt, innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten. Wir haben eine Reihe von Kipppunkten erreicht, die zu einem neuen Gleichgewicht der Mächte führen. Die illegale Invasion des Irak 2003 war für den Globalen Süden eine Zäsur. 2007 in der Finanzkrise brach mit den amerikanischen Finanzinstitutionen, die die Branche dominierten, auch die Vorstellung zusammen, dass die Weltwirtschaft von der Stabilität der amerikanischen Finanzindustrie garantiert werde. Als die BRICS sich 2009 formierten war das eine direkte Reaktion darauf.Es ist eben eine doppelte Meuterei. Auf dem Oberdeck meutern die Kapitäne gegen den Flottenchef, auf den unteren Decks die Mannschaft gegen ihren KapitänDie BRICS, das sind Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Mittlerweile gehören neben dem Iran und Ägypten weitere Länder dazu. In großen Teilen ist das ein Club der Diktaturen, kann man eine Meuterei von dieser Seite wirklich unterstützen?Da gibt es tatsächlich einen Widerspruch. Ich war in Den Haag, als Südafrika seine Klage gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof vorstellte. Das südafrikanische Team war sehr motiviert, die meisten waren aus der Generation, die noch gegen die Apartheid gekämpft hatte. Ich unterstütze Südafrika bei der Durchsetzung des Völkerrechts. Gleichzeitig heißt das nicht, dass ich den regierenden ANC mit seiner neoliberalen Politik gutheiße. Vor kurzem gab es einen Streik der Metallarbeiter in Südafrika – den haben wir auch unterstützt. Es ist eben eine doppelte Meuterei. Auf dem Oberdeck meutern die Kapitäne gegen den Flottenchef, auf den unteren Decks die Mannschaft gegen ihren Kapitän. Man muss die Meutereien innerhalb der Länder unterstützen, trotzdem können diese Regierungen gegen die amerikanische Vorherrschaft eintreten. Die Welt ist komplizierter als auf einer Seite die Guten, auf der anderen Seite die Bösen. Aber die USA versuchen, die Welt wieder in zwei Lager zu teilen und einen neuen Kalten Krieg in die Wege zu leiten. Ich glaube, Europa wird am meisten darunter leiden. Das sehen wir heute schon. Die Sanktionen gegen Russland treffen Europa am meisten, Deutschland hat schon im zweiten Jahr in Folge eine Rezession, weil die energieintensiven Industrien in Schwierigkeiten sind. Ich finde, Europa muss seinen eigenen Weg gehen, statt sich in diesem Blockdenken zu verlieren.Wenn man Russland nicht sanktionieren soll, wie soll man denn dann mit Diktaturen umgehen, die ihre Nachbarländer überfallen?Ja, Russland ist eine Diktatur und die Invasion der Ukraine ist illegal und sollte verurteilt werden. Mir geht es um die Art der Sanktionen. Das ist eine Art der Kriegsführung, die die normale Bevölkerung trifft. Das Ziel ist, Elend herbeizuführen. Und das ist etwas total anderes als Sanktionen, die Oligarchen und die Rüstungsindustrie betreffen. Ich glaube auch nicht, dass der Westen hier moralische Hoheit genießt. Man kann ein guter Freund Washingtons sein und trotzdem Diktator. Wir müssen dafür offen sein, verstehen zu wollen, was diesen Regierungen wichtig ist und warum, statt in ein neokoloniales Mindset zurückzufallen, in dem diejenigen gut sind, die für Europa sind und alle anderen sind schlecht. Wir müssen verstehen, dass sich die Welt gerade ändert und warum das so ist. Aber das zu analysieren bedeutet nicht, dass man diese Regime gutheißen muss. Vielmehr müssen wir die Meutereien in diesen Ländern bestmöglich unterstützen.Palästinenser brauchen kein Mitleid, sie brauchen GerechtigkeitGerade drücken viele Menschen in Europa internationale Solidarität aus mit den Palästinensern, es gibt jede Woche riesige Demos. Aber das hatte bisher überhaupt keinen Einfluss auf den Krieg. Kann man internationale Solidarität nicht effektiver gestalten?Der Internationale Strafgerichtshof fordert ein Ende der Waffenlieferungen, darum ist es wichtig, dass die Bewegung auf der Straße unsere Regierungen daran erinnert. Man muss diese Themen politisieren. Dann tut sich auch auf anderer Seite was. Vor ein paar Monaten haben Arbeiter am Flughafen in Brüssel einen Container bemerkt, der nach Tel Aviv sollte. Sie fragten sich, was drin ist und haben die Kiste aufgemacht. Es war eine Waffenlieferung. Noch am selben Abend beschloss die Belgische Logistikgewerkschaft, keine Waffen mehr nach Israel zu transportieren. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass das nach dem Urteil des Strafgerichtshofes illegal wäre. Auch in Griechenland, Italien und anderswo weigern sich Hafenarbeiter, Rüstungsgüter, die für Israel bestimmt sind, umzuladen. Das ist die Schwachstelle der genozidalen Maschinerie. Auch in den USA reden Hafenarbeiter immer mehr davon, keine Waffenlieferungen mehr zu verladen. Gleichzeitig spielte der Druck der Bewegung auch im Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle. All das zusammen kann einen Unterschied machen, damals wurde so auch die Apartheid in Südafrika zu Fall gebracht. Es war ein Zusammenspiel internationalen Drucks und – der wichtigste Faktor – der Südafrikaner selbst. Wir können Druck auf Israel und seine Unterstützer machen, aber befreien werden sich die Palästinenser selbst. Palästinenser brauchen kein Mitleid, sie brauchen Gerechtigkeit.Verlassen wir die internationale Ebene für einen Moment. Ihre Partei ist ja selbst Teil der zweiten Meuterei von unten. Die PTB hat ein für eine linke Partei erstaunliches Wachstum hingelegt, 2007 gewannen Sie noch unter einem Prozent der Stimmen, bei den belgischen Parlamentswahlen im Juni diesen Jahres erreichten Sie fast zehn Prozent. Was kann die hiesige Linke vom Erfolg der PTB lernen?In den größten Städten wie Brüssel, Antwerpen oder Charleroi erreichen wir sogar 20 Prozent, wie bei den jüngsten Kommunalwahlen. Anfang der 2000er führten wir eine intensive Diskussion darüber, was für eine Partei wir überhaupt sein wollen: Wir definieren uns als eine moderne marxistische Partei, eine Partei der Arbeiterklasse. Deswegen haben wir auch Klassen-Quoten für Parteiämter eingeführt: Ein Drittel der Sitze gehen an Menschen ohne Uniabschluss, vor allem an Menschen, die im produzierenden Gewerbe oder in der Logistik arbeiten. Wir wollen diejenigen vertreten, die körperliche Arbeit machen. Sie sind völlig unterrepräsentiert, sie kommen in den Medien nicht vor, sie sind nicht Teil der Öffentlichkeit. Wer spricht denn noch über die Helden und Heldinnen der Corona-Pandemie, die den Laden am Laufen gehalten haben? Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind es, die unseren Wohlstand schaffen. Der Tisch, an dem wir sitzen – von Arbeitern hergestellt. Das Telefon, mit dem Sie unser Gespräch aufzeichnen – von Arbeitern hergestellt. Darum ist uns die Arbeiterklasse wichtig, nicht weil sie moralisch überlegen ist. Als Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest verfassten – bei uns in Brüssel übrigens –, konnte man laut heutigen Schätzungen nur ein Prozent der Weltbevölkerung der Arbeiterklasse zurechnen. 1950 waren es schon 15 Prozent. Heute aber sind es 33 Prozent! Heute gibt es so viele Arbeiterinnen und Arbeiter wie noch nie zuvor in der Geschichte.Uns begegnen so viele Wähler, die sich nicht zwischen uns und Vlaams Belang entscheiden können. Moralische Verurteilung von außen bringt da gar nichts. Das ist nur elitär. Wir müssen mit den Menschen sprechen, wo sie sind, am Arbeitsplatz, im Werk, nicht nur in den Medien über sie diskutierenDie Arbeiter:innenklasse wählt zur Zeit oft rechts, in Thüringen erhielt zuletzt die AfD die Stimme der meisten Arbeiter:innen, auch in Ihrem Land erfährt der rechtsextreme Vlaams Belang viel Unterstützung von Arbeiter:innen. Kann man sie noch zurückgewinnen?Die ganzen Kleinbürger haben ihre Theorien über den Vlaams Belang, das ist Blabla. Die haben bisher nichts erreicht gegen die Rechten. Die stehen nur mit erhobenem Zeigefinger da, wie Oberlehrer, die andern vorschreiben, was sie tun und lassen sollen. Aber sie haben keinen Schimmer von der Lebensrealität von Menschen, die Schichtarbeit machen, die mit ihrem Körper schuften, die 63 Jahre alt sind und kaputte Knie haben. Da ist so viel Wut unter arbeitenden Menschen. An der müssen wir sie packen, für ein sozialistisches Projekt, sonst führt ihre Wut sie zu den Rechtsextremen. Uns begegnen so viele Wähler, die sich nicht zwischen uns und Vlaams Belang entscheiden können. Darum müssen wir mittendrin sein in der Arbeiterklasse, um die Menschen zu erreichen. Moralische Verurteilung von außen bringt da gar nichts. Das ist nur elitär. Wir müssen mit den Menschen sprechen, wo sie sind, am Arbeitsplatz, im Werk, nicht nur in den Medien über sie diskutieren.Wie reagieren Sie denn, wenn Sie im Werk mit Arbeitern am Band sprechen, die gegen Migranten vom Leder ziehen?Am wichtigsten ist vor allem, dass ein anderer Arbeiter mit ihm spricht! Von da aus kann man Vertrauen aufbauen, wenn das da ist, dann kann man richtig in Diskussionen einsteigen. Wenn sich jemand zum Beispiel darüber beschwert, dass er seit fünf Jahren auf der Warteliste für eine Sozialwohnung steht, weil die syrischen Familien, die erst seit gestern hier sind, angeblich sofort Wohnungen gestellt bekommen, dann fragt man erst mal: Was ist denn dein eigentliches Problem? Ist es, dass du keine anständige Wohnung hast, oder ist es wirklich die syrische Familie? Das echte Problem ist, dass es zu wenige Wohnungen gibt. Das ist das Problem, das wir lösen müssen. Manche gewinnen wir für unsere Seite, andere verlieren wir. Es gibt da schon eine Grenze. Wenn er eine 88 tätowiert hat, müssen wir auch nicht weiter sprechen. Aber ich bin dagegen, alle Wähler als Faschisten abzuschreiben. Wir müssen um diese Leute kämpfen.



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Von Veritatis

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