Dieser Text ist allen Jobcenter- und Sozialamtsmitarbeiter:innen gewidmet, die ihren Kundinnen und Kunden auf Augenhöhe begegnen und helfen wollen.

1998 musste ich aus gesundheitlichen Gründen zum ersten Mal Sozialhilfe beantragen. Dabei lernte ich, dass per Post abgeschickte Anträge „verschwinden“ können. Ich musste meinen Antrag dreimal stellen – beim dritten Mal habe ich ihn dann persönlich abgegeben und mich über die Umstände beschwert. Um meiner Beschwerde und der Dringlichkeit Nachdruck zu verleihen, saß ich ab diesem Tag regelmäßig (insofern meine Gesundheit mitmachte) im Wartezimmer des Amtes.

Jeden Morgen, wenn das Amt öffnete, setzte ich mich mit genug Verpflegung und einem Buch in den Warteraum. Dort war es warm und es gab im Haus eine Toilette, so konnte ich bis zur Schließzeit bleiben. Es war meine gewählte Form von Protestsitzen im Warteraum, um daran zu erinnern, dass ich auf meinen Bescheid wartete, dessen dritte Ausführung hier lag. Ich war stets höflich, meldete mich an und verbrachte meine Zeit mit Lesen. Ich wusste, dass ich nichts Verbotenes tat. Trotz meiner Erkrankungen kann ich sehr stur sein und damals mobilisierte ich meine letzten Kräfte in dieser Aktion.

Briefe an Behörden nur noch per Einschreiben

Das war bis heute die einzige Zeit, in der ich ein Problem mit einer Behörde hatte, die Transferleistungen zahlte. Damals lernte ich, mir alles bescheinigen und abstempeln zu lassen. Ich wusste, dass man Dokumente nur noch als Kopie und per Einschreiben verschicken musste. Der Druck lag auf mir, Sachverhalte beweisen zu müssen.

Heute ist es nicht anders. Hilfe ist abhängig vom Arbeitstempo der Person hinter dem Schreibtisch und ihrem Wohlwollen. Abhängig bin ich auch von Institutionen und Personen, von denen ich Belege für den Antrag brauche. Etwa die Bescheinigung vom Vermieter, Belege über meinen Strom- und Gasverbrauch, Kontoauszüge. Aber auch die Bescheinigung über das Sparkonto und andere vorhandene Vermögenswerte (gerade in einer Bedarfsgemeinschaft) müssen offengelegt werden.

Es scheitern Menschen an der Bürokratie des Jobcenters

Die Liste ist je nach antragstellender Person aufwendig. Wer behauptet, dass es so einfach sei, einen Bürgergeldantrag auszufüllen oder die Verlängerung für Sozialleistungen zu bekommen, dem sage ich: Nein. Es ist komplizierter, als Sie denken. Es beansprucht Zeit, Energie und vor allem Geld. Zum Beispiel, wenn man fehlende Kontoauszüge nachfordert, Fahrtkosten zum Amt hat oder Dokumente per Einschreiben senden muss.

Dazu kommt, dass das Bürokratendeutsch, oder das sogenannte Amtsdeutsch, für einen Max Mustermann schon schwer zu verstehen ist. Was ist mit denen, die nicht wissen, dass sie zu einer Beratungsstelle gehen können, um sich helfen zu lassen? Oder mit denen, die nicht so gut Amtsdeutsch sprechen oder schreiben können?

Ohne die vielen Ehrenamtlichen, ohne gut meinende Nachbarn, die sich für Armutsbetroffene einsetzten, wäre die Lage für diese Menschen noch fataler. Es scheitern Menschen an den Bürokratismen.

Wenn ich höre: „In Deutschland müsse niemand hungern“, kann ich nur müde lächeln. Für meinen ersten Sozialhilfeantrag brauchte das Amt drei Monate, bis ich endlich das Geld ausbezahlt bekam. Mein Kindergeld, damals 150 Mark, rettete mich vor der Obdachlosigkeit, denn so viel kostete das möblierte 12-Quadratmeter-Zimmer mit Gemeinschaftsbad und -küche, in dem ich wohnte. Ich hatte 200 Mark auf meinem Sparkonto, die mir die erste Zeit halfen, auszukommen. Ohne das Geld hätte ich von Anfang an Pfandflaschen sammeln müssen und in Mülleimern Essen gesucht.

Totalsanktionen? Wie soll das funktionieren?

Wenn heutzutage von Totalsanktionen die Rede ist, dann denke ich an diese Zeit zurück und frage mich: Wie sollen die Menschen drei Monate ohne Geld auskommen? Arbeit suchen ist schwer, wenn man gestresst und hungrig ist. Und vor allem: Woher soll das Geld für die Bewerbungen und Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen kommen, wenn man nichts vorstrecken kann?

Es gibt in Deutschland genug Elend. Besonders Obdachlose sind davon betroffen und ja, darunter gibt es Menschen, die hungern. Wie und warum sie auf der Straße gelandet sind, kann jeder und jede mit einer eigenen Geschichte beantworten. Unter ihnen befinden sich auch die, die an unserer Bürokratie gescheitert sind.

Ich denke oft an diejenigen, die mit all dieser Last allein gelassen werden. Sie stoßen auf Unverständnis, weil sie nicht wissen, wie sie den Bogen auszufüllen oder zu beantragen haben. Manchmal unterstützt eine entnervte Sachbearbeiterin beim Ausfüllen, weil sie sich verständlicherweise die Arbeit ersparen will. Denn ansonsten müsste sie wieder einen Brief verschicken, in dem steht, was im Antrag nicht ausgefüllt ist.

Oder: Man hat ganz großes Glück und auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen herzensgute Menschen, die helfen wollen. Auch das kommt nämlich vor.

Armutsbetroffen

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihr Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen



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Von Veritatis

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