Die Historikerin Christina Morina forscht zu Demokratiegeschichte in Ostdeutschland und den USA. Warum sie die Entwicklungen dort an ihre Kindheit in der DDR erinnern, welche Parallelen sie zur AfD sieht und wieso sie auf Konservative hofft


„Ostdeutschland und den USA ist das Misstrauen gemeinsam. Gegenüber Institutionen und den etablierten Parteien“

Foto: Hanna Wiedemann/Laif


Das Gespräch findet per Video statt. Christina Morina sitzt in ihrem kleinen Apartment in einem zehnstöckigen Gebäude direkt am Union Square, mitten in Manhattan. Sie ist gerade Gastprofessorin an der New School of Social Research. Für ihr Buch Tausend Aufbrüche, in dem es um ostdeutsche Demokratiebewegungen geht, hat sie 2024 den Deutschen Sachbuchpreis bekommen. Wie erlebt sie, was gerade in den USA und Deutschland geschieht?

der Freitag: Frau Morina, wie geht es Ihnen?

Christina Morina: Ich lebe gerade in vielen Welten, die auch zusammengehören. Wir hatten letzte Woche Besuch aus Thüringen. Und ich bin ja auch familiär dorthin verbunden. Ostdeutschland ist schon dauerpräsent. Aber ich sehe von hier aus alles etwas anders. Ich erlebe eine sehr g

schon dauerpräsent. Aber ich sehe von hier aus alles etwas anders. Ich erlebe eine sehr gespaltene, vielfältige Wirklichkeit. Ich habe in meiner Lehre und Forschung mit der Demokratiegeschichte zu tun und bin intensiv damit befasst, was derzeit in den USA geschieht. Und dann geht man raus und trifft das bunte, plurale, freie Amerika, was es ja auch noch gibt, zumindest hier in New York. Ich sitze in der Frühlingssonne und gleichzeitig brechen mir die großen Entwicklungen das Herz.Wie erleben Sie Ihre Studierenden?Wir müssen Studierende schützen und beraten, die sich eingeschüchtert fühlen, die ein Klima der Angst spüren und verunsichert sind. Es wird viel um Rat und Orientierung gefragt. Linke Positionen überwiegen unter ihnen, und manche haben Kamala Harris nicht gewählt, wegen ihrer Haltung zum Gaza-Krieg. Wir Lehrkräfte werden hier in Meetings über unsere Rechte aufgeklärt und darüber, welche Rechte die Studierenden haben und wie wir mit ihnen über Risiken sprechen sollen, etwa wenn sie im Land auf eine Konferenz fahren. Weil inzwischen an Flughäfen Social-Media-Accounts auf Handys durchsucht werden. Die Palästina-Israel-Frage und der Umgang mit Antisemitismus sind hier an den Unis tagtäglich präsent, weil das ein riesiger unaufgearbeiteter Punkt ist und zugleich der, an dem die Trump-Regierung angreift. Und dann hat das alles hier in den USA für mich auch eine sehr persönliche Ebene.Weil Sie in Ostdeutschland aufgewachsen sind und einen anderen Blick haben?Weil ich als Ostdeutsche als Kind miterlebt habe, was es heißt, Angst zu haben, seine Meinung zu sagen. Ich habe es hier in den letzten Monaten erlebt, wie stark die Trump-Einschüchterung greift. Und wie vorauseilend auch der Mund gehalten wird, von Leuten, die einen Haufen Privilegien und eine gefestigte Position haben. Und ich dachte: Wenn ihr nicht den Mund aufmacht, wer dann? Das hat mich sehr getroffen, ausgerechnet in Amerika, wo ich mir das nie hätte vorstellen können.Sie waren 13 als die Mauer fiel. Welche Erlebnisse hatten Sie in der DDR als Kind?Ich komme aus einer deutsch-deutschen Familie. Meine Mutter ist gebürtige Westdeutsche, die deutsche Teilung war bei uns familiärer Alltag, weil wir viele Westverwandte hatten und diese geschlossene Grenze stets ein Thema war. Meine Eltern gehörten nicht zu den Dissidenten, waren beide Naturwissenschaftler und Lehrer, sie waren nicht in der Partei, aber eben im System beschäftigt. Und ich habe in Staatsbürgerkunde oder im Geschichtsunterricht gerne diskutiert und meine Gedanken geäußert. Und zu Hause dann immer die Frage, ob ich was gesagt hätte, was ich nicht hätte sagen sollen. Ich habe mich in der Schule eingeschüchtert gefühlt. Und dann kam diese Freiheit. Und ich wollte und konnte mir nicht vorstellen, dass sich das Umfeld noch mal so autoritär entwickelt.Sie beschreiben in Ihrem Buch „Tausend Aufbrüche“(2024) eine starke ostdeutsche Kultur, die basisdemokratisch war, 1989, aber auch schon vorher. Und erklären den Frust damit, dass diese Ansätze 1990 ganz schnell verschluckt wurden. Es gibt diese besondere politische Kulturgeschichte, und sie wirkt in Ostdeutschland auf eigensinnige Weise weiter. Die Berufung auf eine „sozialistische Demokratie“ in der DDR hatte zur Folge, dass sich die Bürger und Bürgerinnen durchaus mit Demokratie beschäftigt haben. Und dann haben in der Revolution 1989 echte und demokratische Aufbrüche, die oft von basisdemokratischen Idealen geprägt waren, ja auch faktisch die SED-Herrschaft gebrochen. Andererseits hat sich im Osten etwas verschärft, was sich ähnlich auch in weiten Teilen der USA manifestiert. Das Gefühl, nicht mitgenommen zu werden.Protest ist für AfD-Wähler immer noch das Hauptmotiv. Und die Enttäuschung über das, was bisher war, ist in Ostdeutschland besonders großWie erklären Sie sich das?In Ostdeutschland sind die Gründe teils andere als in den USA. Aber gemeinsam ist das Misstrauen gegenüber Institutionen und den etablierten Parteien, womit auch der Liberalismus oder die liberale Demokratie gemeint sind. Diese Idee steckt so tief wie nie in der Krise. Und die AfD gibt sich als Alternative und wird deutlich stärker in Ostdeutschland gewählt, weil sie etwas vermeintlich Neues darstellt. Protest ist für AfD-Wähler immer noch das Hauptmotiv. Und die Enttäuschung über das, was bisher war, ist in Ostdeutschland besonders groß. Weil die Zeit seit 1989, in der man eine gute Erfahrung mit der Demokratie gemacht hat, nicht besonders lang war, sondern im Grunde waren es 30 Jahre Umbruch. Für das Alte und doch bislang Bewährte zu werben, ist für die sogenannten Altparteien also nicht leicht.Viele Ostdeutsche wollen mehr direkte Demokratie. Steffen Mau schlägt etwa Bürgerräte vor.Ja, die Frage der Beteiligung betrifft die USA, Ost- wie Westdeutschland und eigentlich jede Demokratie. Die ostdeutschen Ideen fanden in den 90er Jahren zu wenig Gehör. Und in den USA gibt es diese Praxis, die wir so nicht haben und die jetzt essenziell geworden ist: Schreibt euren Kongressabgeordneten! Geht in eure Wahlkreisbüros! Diese Town Halls sind hier ganz stark. Es muss diese Kommunikation zwischen Wählern und Abgeordneten auf allen Ebenen und real geben. Damit und mit Petitionen oder Volksbegehren kann die Demokratie gestärkt werden, wie sich in Berlin in der Wohnungsfrage gezeigt hat. Selbst wenn es dann nicht klappt, fördern diese Foren und Verfahren das Gefühl der eigenen Wirkmacht.Die AfD wird im Osten und auch Westen von Arbeitern gewählt, hat die Rolle der vermeintlichen Hüterin der sozialen Sicherheit eingenommen. Und Trump tut so, als vertrete er den kleinen Mann. Weil die anderen Parteien dieses Milieu einfach nicht ansprechen?Die Grundfrage in der Moderne ist: Wie erreichen wir politische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit? Ostdeutsche gewichten soziale Fragen immer noch höher als Westdeutsche. Wir haben im 20. Jahrhundert gehofft, dass soziale Ungleichheit mit der repräsentativen, sozialmarktwirtschaftlichen Demokratie hinfällig wird. Das ist aber nicht so, und das erleben sehr viele Menschen seit Jahrzehnten. Es gibt ein riesiges Wohlstandsgefälle und Chancenungleichheit, die in reichen Gesellschaften wie den westlichen inakzeptabel sind. Die soziale Frage bleibt drängend und wird sich mit dem Klimawandel extrem verschärfen. Weil der die Ärmeren am meisten trifft.Diese Debatte führen auch die amerikanischen Demokraten.Die programmatisch erschöpft sind, so wie die Sozialdemokratie. Und es reicht nicht, Trump zum Faschisten zu erklären. Das schreckt die Leute nicht ab – und dafür gibt es tiefere Gründe.Die Verteidiger der repräsentativen Demokratie, Linke, Liberale, Konservative, müssen viel klarer machen, warum das alles überhaupt noch verteidigungswert istAuch im Westen sind viele tief verunsichert, wie man an den Gewinnen der Populisten sieht. Die alten Parteien scheinen keine angemessenen Antworten auf die Dauerkrisen zu haben.Wenn man sich die AfD-Gewinne der letzten vier Jahre anschaut, dann hat sie im Osten (auf einem höheren Niveau) 13 Prozent dazugewonnen, in Westdeutschland zehn Prozent. Das gleicht sich also an. Dagegen müssen die Verteidiger der repräsentativen Demokratie, Linke, Liberale, Konservative, viel klarer machen, warum das alles überhaupt noch verteidigungswert ist, nachweisen, dass sie mit ihren bewährten, langwierigen, kompromisssuchenden Verfahren Probleme wirklich angehen können. Und das den Leuten auch vermitteln.Es sind viele Leerstellen, und auch die Konservativen können sie nicht richtig füllen.Der moderate Konservatismus hat es zurzeit noch schwerer als die Linke. Jeder, der sich moderat konservativ in Deutschland politisch engagiert, sollte willkommen sein. Weil anständiger Konservatismus – das wissen wir auch aus der Geschichte – die Haltung ist, die dafür sorgt, dass die extreme Rechte nicht an die Macht gelassen wird.Sie haben gerade eine Online-Gesprächsreihe gegründet: Historians on Democracy. Mit welchem Ziel?Wir haben diese ganze Online-Welt, aus Scheu oder Abneigung, viel zu lange dem rechten Spektrum überlassen. Und die liberale, rationale Öffentlichkeit müht sich in der New York Times oder in der FAZ. Aber wer liest die in Ohio und im Rust Belt, wer liest in Ostdeutschland die Süddeutsche?Wir möchten mit der Reihe neue Formate einüben, mit sachlichen, pluralen Inhalten nicht nur Experten, sondern die weitere Online-Öffentlichkeit erreichen. Es geht um die Vergangenheit und Gegenwart der Demokratie in den USA, in Deutschland und darüber hinaus, und was das alles mit heute zu tun hat oder haben sollte.Es gibt eine neue Ostbeauftragte in der Regierung. Was halten Sie von diesem Amt?Bislang war ich weder von den Personen noch von der Struktur überzeugt. Ich würde anders herangehen, würde das Thema „Osten“ viel weiter strukturpolitisch, ordnungspolitisch, demokratiepolitisch fassen. Das Ruhrgebiet und die Lausitz gehören zusammengedacht. Ich kann mit der Exotisierung und Pathologisierung, die in der Ost-West-Debatte noch immer mitschwingen, nichts anfangen.Wann fühlen Sie sich noch als Ostdeutsche?Ich werde sowohl in Deutschland als auch im Ausland kaum auf das Ostdeutsche angesprochen. Das entwickelt sich dann in Gesprächen, die tiefer gehen, da spielt die eigene Geschichte natürlich eine Rolle. Und dann ist es hier meist reine, offene Neugier.In New York ist jetzt gerade Mittagszeit. Ja, ich werde in die Sonne gehen. Schönen Feierabend für Sie! Ein wunderbares deutsches Wort. Ich versuche, es hier gerade einzuführen. So wie Kindergarten. Oder Weltschmerz.Christina Morina wurde 1976 in Frankfurt (Oder) geboren und studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig, Ohio und Maryland (USA). Seit 2019 ist sie Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Bis Juni 2025 lehrt sie an der New School for Social Research in New York



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Von Veritatis

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